Zwischen Dionysos und dem Nihilismus: Friedrich Nietzsche und die Geburt der Moderne

Friedrich Nietzsche, Foto: SGL
Friedrich Nietzsche, Foto: SGL

Wenn man sich Friedrich Nietzsche nähert, dann nicht wie einem Philosophen unter vielen, sondern wie einem Fieber, das den Geist ergreift, das ihn erzittern und erbeben lässt. Nietzsche ist keine Theorie, kein System, kein Schema – er ist eine eruptive Energie, ein Vulkan des Denkens, eine dramatische Geste gegen das bleierne Gewicht der Moral, gegen das tote Gestein christlich-abendländischer Werte, gegen die Müdigkeit Europas. Er war, wie er selbst sagte, Dynamit. Und dieses Dynamit wirkt bis heute.

Seine Philosophie ist kein stilles Räsonnement, sondern ein existentialistisches Donnern

Der gebürtige Röcken-Anachoret, Sohn eines protestantischen Pastors und doch der konsequenteste Gottes-Zerstörer der Philosophiegeschichte, wandte sich nicht bloß gegen einen Gott, sondern gegen eine ganze Weltordnung, die auf der Illusion eines Jenseits, einer transzendenten Heilsverheißung beruhte. Seine Philosophie ist kein stilles Räsonnement im Studierzimmer, sondern ein existentialistisches Donnern, ein Kampfplatz zwischen Apollinischem und Dionysischem, ein Tanz am Abgrund – stets bereit, zu stürzen, stets geneigt, zu triumphieren.

Wahrheit ist das, was wirkt

Was bei Platon noch Idee heißt und bei Kant Pflicht, wird bei Nietzsche zum Abgrund der Interpretation. Wahrheit ist nicht mehr das, was ist, sondern das, was wirkt. Es geht ihm nicht um das Wahre, sondern um das Starke. Das Leben soll nicht gerechtfertigt werden durch eine höhere Instanz – es soll sich selbst rechtfertigen, in seiner Grausamkeit, in seiner Schönheit, in seiner Ekstase. Diese radikale Ästhetisierung des Lebens – ein Kunstwerk anstelle einer Erlösung – ist Nietzsches größtes Erbe an eine Epoche, die sich langsam vom Glauben abwendet und in die Leere des Nihilismus taumelt.

Kein Nihilist

Doch Nietzsche ist kein Nihilist im herkömmlichen Sinn. Er diagnostiziert den Nihilismus, aber er bleibt nicht bei der Diagnose stehen. Er sucht das Gegenmittel. Der Übermensch, oft missverstanden, ist keine rassistische Karikatur, sondern ein poetischer Horizont: jener Mensch, der sich neu erfindet, der über sich hinausgeht, der – wie Zarathustra – tanzen kann, weil er den Ernst überwunden hat. Der Übermensch ist ein Versuch, nach dem Tod Gottes eine neue Ethik zu imaginieren – eine Ethik jenseits von Gut und Böse, die auf schöpferischer Kraft, auf Wille zur Macht, auf der Bejahung des Lebens basiert.

Diese Bejahung ist jedoch nicht naiv. Nietzsche kennt den Schmerz, das Leid, die Schwermut. Seine „fröhliche Wissenschaft“ ist nicht heiter im bürgerlichen Sinn, sondern tief tragisch – weil sie weiß, dass jeder Sinn nur ein flüchtiger ist, jeder Wert ein geschaffenes. Die Ewige Wiederkunft, jenes wohl metaphysischste seiner Konzepte, ist keine Doktrin, sondern eine Feuerprobe: Kannst du dein Leben so bejahen, dass du es unendlich oft wiederholen möchtest? Wenn ja, dann bist du frei. Wenn nicht, bist du noch Sklave – Sklave der Moral, der Angst, der Hoffnung auf ein besseres Danach.

Nietzsche – Der Philosoph der Moderne

Nietzsche ist der Philosoph der Moderne, weil er ihr Nervenzittern antizipiert hat. Die Welt nach Nietzsche ist eine Welt ohne Transzendenz, aber voller Tiefe. Er nimmt uns den Trost, aber gibt uns die Möglichkeit zur Größe. Seine Philosophie ist ein Schrei – gegen das Mittelmaß, gegen die Herde, gegen die Dekadenz. Sie ist ein Appell an die Schaffenskraft des Einzelnen, an die aristokratische Seele im Zeitalter der Massen.

Heute, in einer Welt, in der jeder Sinn verdächtig und jede Wahrheit relativ geworden ist, wirkt Nietzsche aktueller denn je. Nicht als Prophet der Hoffnung, sondern als realistischer Visionär einer Welt, die den Mut hat, ohne Geländer zu denken. Wer Nietzsche liest, der tanzt am Vulkan. Doch wer nicht tanzt, der hat den Sinn seiner Philosophie nie begriffen.

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“, schreibt der Philosoph in „Also sprach Zarathustra.  – Das ist Nietzsche. Das ist Moderne. Das ist das Denken als Leidenschaft – und Leidenschaft als Denken.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2217 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".