Thomas de Maizière und das christliche Wertebild in der modernen Gesellschaft

„Der Beruf ist der Ort der Verantwortung“ (Dietrich Bonhoeffer, Ethik)

Christliche Verantwortung in Politik und Wirtschaft standen im Mittelpunkt eines Vortrages von Verteidigungsminister Dr. Thomas de Maizière auf den Sommerempfang des Bundes Katholischer Unternehmer und seiner Vorsitzenden Marie-Luise Dött.
Als eine der wesentlichen Aufgaben des Christen in der modernen Gesellschaft bleibt für Verteidigungsminister de Maizière (CDU) die kritische Einmischung in die Gesellschaft, eine Einmischung, die nicht in Form einer moralisierenden Wertedebatte zu führen ist, einer Art Sonntagsrede, die immer scheitern muß. Theoretisch lassen sich Werte nicht verordnen, sondern nur im konkreten Fall und in einer auf die Praxis bezogenen Diskussion ist der Wertediskurs überhaupt erst sinnvoll.
Und genau an diesem Punkt setzt die „politische Existenz“ des Christen, die zu seinem weltlichen Beruf gehört, ein. Dieses christliche Plädoyer für ein politisches Engagement verbindet nicht nur die Gläubigen aus beiden christlichen Konfessionen, sondern de Maizière sieht darin auch eine große Chance für die Ökumene. Um diese zu stärken, gerade mit Blick auf die christliche Verantwortung, ist es in Deutschland oft sinnvoller, den theologischen Grundsatzstreit ruhen zu lassen, statt dessen sollten sich die christlichen Kirchen auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren, eben ihr christliches Prinzip von Verantwortlichkeit bei der Bewältigung politischer Probleme.
Beim politischen Engagement sieht der Verteidigungsminister, übrigens ein überzeugter Protestant, dann auch Handlungsbedarf bei einer Vielzahl von Christen, die die Politik als einen bloßen Machapparat begreifen, der die wahren moralischen Werte aufs Spiel setzt und der letztendlich einen skeptischen Blick auf den Machtapparat hervorruft. Was bleibt ist der ethisch-moralische verantwortliche Christ, der aber ein a-politisches Wesen ist, der Macht als nachhaltigste Gestaltungskategorie des Politischen ablehnt.
Dieser Distanz und Skepsis gegenüber einer Politik als Beruf plädiert de Maizière – gerade unter dem Aspekt der christlichen Nächstenliebe und Verantwortung – für ein aktives Christentum, das sich nicht nur einmischt, nicht nur wählt, sondern Entscheidungen trifft – und das nicht im Reden, sondern im Tun, weil die Politik die Einflußmöglichkeiten einer Gestaltungsnahme eröffnen, wie sie im privaten nicht möglich sind. Nachhaltigkeit, so de Maizière, läßt sich nur im Umfeld des Politischen erzielen. „Der Beruf“ des Politikers ist – mit Dietrich Bonhoeffer formuliert – „der Ort der Verantwortung“, und die Gesinnung kann keine gesinnungsethische, sondern allein eine verantwortungsethische sein, eine, die die Folgen der Handlung in Zukunft bedenkt (Max Weber).
In Zeiten von Globalisierung, rasanter Beschleunigung und medial-kommunikativer Vernetzung, im Zeitalter der zunehmenden Säkularisierung, ist das christlich-politische Engagement für den Verteidigungsminister eine gesellschaftliche Pflicht, eine Handlungsmaxime, die sich auch der Unternehmer auferlegen muß. Und Freiheit heißt hier – ganz hegelisch – Einsicht in die Notwendigkeit und zugleich Freiheit in der Verantwortung.
Wohin grenzenlose Freiheit führt, hat die Finanzkrise deutlich gezeigt, wo der Freiheit kein Korrektiv gegenüberstand. Verantwortung muß unteilbar sein, sowohl bei Erfolg als auch bei Mißerfolg. Daher kann es nicht sein, daß in guten Zeiten die Gewinne privatisiert und in schlechten die Verluste verstaatlicht werden.
Gegen diese Willkürfreiheit setzt de Maizière den christlichen Freiheitsbegriff und bekräftigt die Werte, die aus dieser Freiheit hervorgehen. „Die Bindung an Gott verpflichtet auf den ersten Blick, auf den zweiten macht sie frei und unabhängig.“ Daß es den christlich unfehlbaren Politiker oder Unternehmer nicht gibt, ist auch für de Maizière eine Tatsache, aber daß bei einer verantwortungsvollen politischen Gestaltung christliches Denken regulierend eingreifen kann, steht für ihn außer Frage.
Gegen eine bloße anything goes Mentalität stellt sich die Freiheit des Christenmenschen quer, weil sich der christliche Begriff der Freiheit eben nicht auf eine bloße Willkürfreiheit reduzieren läßt. Gerade darin erweist sich der Standortvorteil des Christenmenschen, denn er kann die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten – aus seiner Bindung an Gott und aus den geoffenbarten Werten. Dieses Unterscheiden, dieser Unterschied, macht letztendlich die höherwertige Entscheidungsqualität der Christen aus. Dabei hilft ihnen, daß sie eine innere Distanz zu den Insignien der Macht haben – und ihr „Glaube hilft auch unter diesen Bedingungen, die innere Freiheit zu bejahen“. Demut im Erfolg, das Nichtverzweifeln im Mißerfolg und das Verzeihen-Können – dies sind christliche Werte, die diese gegenüber den Nichtreligiösen immer wieder verteidigen müssen.
Das Geschenk der Freiheit hat aber auch Facetten, die die freiheitsliebende Gesellschaft verdrängt. Freiheit zu bejahen, impliziert auch das Risiko zu akzeptieren, das mit dieser Freiheit verbunden ist; die Forderung nach grenzenloser Freiheit steht daher dem ständigen Streben nach Sicherheit gegenüber. Und mit Blick auf den Afghanistankrieg bedeutet dies, daß ein Leben in Freiheit kein „Rundumsorglosschutz“ sein kann. Das Geschenk der Freiheit bleibt das Wagnis zur Freiheit.
Diese „Ambivalenz der Freiheit fordert unser Gewissen zu schärfen“, Werte in konkrete Handlungsoptionen umzusetzen, sonst bleibt jeder sozialethische Diskurs nicht mehr als bloße Sonntagsrede. Es kommt auf den Pragmatismus an, auf die praktische Vernunft, die sich dabei nicht bei jeder Entscheidung auf Gott berufen darf, sondern nur dann, wenn dies plausibel zu rechtfertigen ist, denn nicht jedes Thema verdient es, politisch oder metaphysisch aufgeladen zu werden. Wovor de Maizière also warnt, ist der inflationäre Gebrauch vor Grundsätzlichen (Grundsatzdebatten), denn dabei verkommt dieses zu einer bloßen Chimäre rhetorischer Beschwörung. Und Christen sollten sich ihrerseits von diesen Grundsatzdiskussionen zurückhalten, auch wenn es scheinbar um das „große Ganze“ geht. Ganz aristotelisch plädiert de Maizière für die Tugenden des Maßes und der Mitte. Gerade bei Grundsatzdiskussionen ist die Gefahr irrationaler Verhärtung fast eine zwangsläufige Notwendigkeit, wenn es um das Festhalten des je eigenen originären Wahrheitsanspruchs – auch mit Blick auf die Gottesfrage – geht. „Ein inflationärer Rückgriff auf die letzte Instanz Gott verhindert vielfach Diskussionen und Kompromisse. Und er mindert die argumentative Kraft moralischer Überlegungen, wenn es wirklich auf sie ankommt.“ Die Berufung auf die je eigene Position sollte daher etwas demütiger ausfallen und „nicht mit dem Ton der Selbstgerechtigkeit“. Denn es „wäre Ausdruck von sympathieerheischenden Gutmenschentum zu den Dingen, die uns nicht direkt persönlich betreffen, den moralischen Zeigefinger zu erheben, aber die Frage an die ethische Qualität des eigenen Handelns gar nicht erst zuzulassen, oder ganz pragmatisch zu entscheiden.“
Für de Maizière zeigt sich insonderheit an sieben Maßstäben christliches Handeln in Politik und Wirtschaft: Die christliche Entscheidung soll erstens nicht an der eigenen Betroffenheit, sondern an feststehenden Werten gemessen werden; je mehr bei diesen Entscheidungen der „Kern der Schöpfung“ berührt wird, desto vorsichtiger sollte der Eingriff erfolgen. Und je „langfristiger und um so irreversibler die Folgen des Handelns“ zweitens sind, desto gründlicher und länger sollte darüber reflektiert werden. „Jede Entscheidung ist im Kern irreversibel“ – dessen sollte man sich bewußt sein. Dies schließt drittens eine Verantwortung für eine nachhaltige Politik und die Verpflichtung für die nachfolgenden Generationen nachhaltig zu wirken mit ein. Und jedwede Handlungsentscheidung setzt viertens fundiertes Sachwissen voraus, wie de Maizière kritisch beklagt. Was in Diskussionen oft fehlt, ist Sachkenntnis. Ein Maßstab christlichen Handelns muß aber auch fünftens im Prinzip der Mehrheits- und Durchsetzbarkeit Ausdruck finden; im Vordergrund muß immer der pragmatische Aspekt stehen, daß Ideen umsetzbar sein müssen, denn sonst verkommen diese zu leeren Worthülsen. Und viel wichtiger als ein jeweiliger Zeitgeistdiskurs ist sechstens die Auskunft darüber, was uns bewegt und welche Motive wir haben – die Transparenz der je eigenen Meinung und die Aufrichtigkeit der Aussage. Erst wenn die Sachverhalte erklärt sind, ist überhaupt eine Meinungsbildung möglich, durch die sich dann möglicherweise ein Konsens unter den Akteuren erzielen läßt. Ein Konsens läßt sich aber nur dann erzielen, wenn siebentens die Bereitschaft zum Kompromiß als Maßstab christlichen Handelns hinzutritt, der weder im Relativismus noch in der politischen Gleichgültigkeit kulminieren darf. Wie die demokratische Ordnung feste Prinzipien und Werte benötigt, so braucht sie auch die Kompromißbereitschaft nicht als letztes Übel, sondern als notwendigen Maßstab, um möglichst viele „mitzunehmen.“ Konsens schließt Kompromisse ein, „denn prinzipiell ist eine Demokratie“ auf diese und „deren positive Darstellung angewiesen“.
Werte, so de Maizière abschließend, selbst wenn sie „vom Himmel fallen“, müssen aufgesammelt werden und glaubhaft vermittelt werden. Und wenn das christliche Menschenbild „weiterhin zum gesellschaftlichen Grundkonsens“ in der Bundsrepublik zählen soll, schließt dies ein aktives Engagement mit ein, damit dies so bleibt, „daran aber müssen wir arbeiten“. „In der Debatte um das Verhältnis von Christentum und Islam hat mich immer gestört, was auch gerade in unseren Kreisen immer wieder gesagt wird, ‚Wir sind doch ein christlich geprägtes Land, wo kommen wir denn dahin, wenn dies nicht mehr der Fall ist’, das stimmt zwar, aber es liegt an uns, ob das so bleibt. […] Wer kann denn diese Prägung ausüben, wenn nicht wir selbst, andere werden es nicht tun.“ Dies zu tun, ist eher eine Anforderung, „ein Ansporn und keine Zustandbeschreibung, jedenfalls keine Selbstverständlichkeit für die Zukunft. Daß wir ein christlich geprägtes Land sind, mag sein, aber nur wenn wir daran weiter arbeiten und es nicht beschwören.“ Dies kann nur gelingen, wenn der Christ eine Vorbildfunktion in Politik, Marktwirtschaft und Gesellschaft übernimmt und seine christlichen Werte zur Grundlage des Handelns macht. Dies allerdings, so de Maizière, könnten die Christen, die die Frohe Botschaft verkünden, etwas fröhlicher tun.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2124 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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