Kann Deutschland noch mit China konkurrieren? Demographie, Bildung und Industriepolitik machen China stark

Bild von Jan Dyrda auf Pixabay

In den letzten beiden Jahrzehnten sind in den USA fast vier Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen, vor allem in arbeitsintensiven Branchen wie Elektronik, Maschinenbau und Textilien. Viel Ökonomen sind sich einig, dass dafür vor allem die expandierende chinesische Konkurrenz verantwortlich ist, die zunehmend innovativ, qualitativ hochwertig und preiswert den Weltmarkt erobert. Präsident Trump hat das politisch wirksam dramatisiert und gleichzeitig die Europäer und besonders Deutschland beschuldigt, ihren Exportüberschuss ebenfalls zu Lasten amerikanischer Arbeitsplätze aufrecht zu erhalten. Inzwischen verschwinden allerdings auch in Deutschland immer mehr Arbeitsplätze, besonders dramatisch in der Auto-Industrie und ihren Zulieferern, die in den langen Jahren hoch profitabler Exporterfolge den Trend zur Elektromobilität unterschätzt hat. Aus chinesischer Sicht ist die Trendwende von deutschen Autos zu einheimischen Herstellern ein fabelhafter Erfolg. Dass die deutschen Prestigemarken über viele Jahre bis zu 50 Prozent ihres Gewinns im Chinageschäft erzielen konnten, dürfte ebenso wenig ein Problem Chinas sein wie Deutschland seine automobile Dominanz in der Premiumklasse in den USA und den meisten EU-Ländern als unausgewogen empfunden hat. Handelsströme sind gelegentlich stabil, unterliegen aber immer den Marktentwicklungen, der schwankenden Nachfrage, der Qualität der Waren, dem Preisdruck und nicht zuletzt dem Markteintritt neuer Anbieter. Die verbreitete deutsche Skepsis gegenüber chinesischen Produkten erinnert an vergleichbare Reaktionen gegenüber japanischen Importen seit den späten 1950er Jahren. Die Nähmaschinen aus Nippon waren zwar von guter Qualität, wurden aber gern als Kopie deutscher Qualitätsprodukte abgetan. Dann kamen die ersten Taschenrechner und immer mehr hochwertige elektronische und optische Gebrauchsgüter und eroberten zusammen mit langlebigen Automobilen erhebliche Marktanteile. Seitdem ist Japan mit Deutschland auf Augenhöhe im internationalen Wettbewerb, die Handelsbilanz ist nahezu ausgeglichen. Südkorea kam später als erfolgreicher Marktteilnehmer dazu, inzwischen auch und vor allem China.

Chinas Weg an die Spitze

Wie beim historischen Aufstieg Deutschland zur Industrie- und Exportnation nach 1871 beruhen die Erfolge Chinas bei seiner Aufholjagd neben der Demographie und der Größe des Binnenmarkts auf drei entscheidenden Grundlagen, der naturwissenschaftlichen Bildung, der Spitzenforschung und einer vorausschauenden Wirtschaftspolitik, den drei Treibern des technischen Fortschritts. Die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik gehören von der Grundschule bis zur Universität zu den strukturierten Lehrplänen. Pro Jahr werden fast 1,4 Millionen Ingenieure graduiert, rund sieben Mal so viele wie in den USA. Etwa 20 Millionen Ingenieure arbeiten bereits in der Industrie, in diesem Jahr sollen 77.000 in den MINT-Fächern promovieren. Wie bei der Produktion von Computerchips vermuten westliche Beobachter noch einen Rückstand von Jahren, aber in weiten Teilen der Spitzenforschung nimmt China bereits eine klare Führungsrolle ein. Die britische Fachzeitschrift Nature vergleicht die publizierten Forschungsergebnisse in den Naturwissenschaften im „Nature Index“. Der aktuelle Index für 2024 wird auf den ersten 12 Plätzen eindeutig von China dominiert, mit lediglich zwei ausländischen Institutionen, Harvard auf Platz zwei und der Max-Planck-Gesellschaft auf Platz 9. Damit ist China in den Ingenieurwissenschaften, der Elektronik, der Materialforschung, der Physik und der Chemie, aber auch in den Biowissenschaften eine Wissenschafts-Supermacht. Die praktische Anwendung in entscheidenden Bereichen wie Wind- und Sonnenenergie einschließlich ihrer Speicherung, Transport- und Bahntechnik, KI-Anwendungen, Fertigungstechnik, Robotik und mehr. Im internationalen Wettbewerb ist es müßig, auf vermeintliche demokratische Defizite hinzuweisen oder auf Industriespionage und Ideenklau. Gerade letztere sind allgemein üblich und selbst registrierte Patente bieten keinen sicheren Schutz gegen Produktpiraterie oder feindliche Übernahmen durch größere Unternehmen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Elektronikdustrie. Mobiltelefone und PCs wurden über Jahrzehnte in Auftragsfertigung für westliche Marktführer in China gebaut. Inzwischen fertigen diese Firmen selbst immer mehr eigene Bestseller und konkurrieren mit technischen Innovationen und deutlich günstigeren Preisen.

Die Umsetzung von neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in innovative Produkte mit internationalen Marktchancen war lange eine besondere Stärke Deutschlands. An den hilfreichen Schaltstellen arbeiten heute Institute wie die Fraunhofer-Gesellschaft und das Helmholtz-Zentrum in München oder das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln. Für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben stellt der Bund umfangreiche Mittel und Beratungsinstrumente bereit. Die Stagnation der letzten drei Jahre hat das aber nicht aufhalten können. Die Exporterfolge in den Bereichen Automobile, Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik gingen weitgehend auf Schlüsseltechnologien des 19. Jahrhunderts und deren Weiterentwicklung und Diversifizierung zurück. Staatliche Subventionen helfen manchen Traditionsfirmen, das

Überleben zu verlängern, geben aber kaum Anreize zur Erneuerung. Als wettbewerbsorientierte und langfristige Industriepolitik sind sie jedenfalls unbrauchbar.
Nach den Ergebnissen der chinesischen Industrieproduktion in strategischen Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Flug- und Raumfahrttechnik, Robotik, Waffentechnik, Quantencomputertechnik oder bei der Entwicklung neuer Materialien und in der Medizintechnik scheint der Transfer dort weitaus schneller zu gehen als in Deutschland. Über staatliche Eingriffe und massive Subventionen wird viel spekuliert, aber nach wie vor gilt Deng Xiao Pings legendäre Vorgabe, egal ob die Katze schwarz oder grau ist, Hauptsache sie fängt Mäuse. In Deutschland steht Bürokratieabbau gerade auf der politischen Prioritätenliste. Aber gerade dort, wo EU- und eigene Überregulierung Wissenstransfer und Innovation behindert, muss es sehr schnell gehen. Der Wettbewerb mit China wird immer anspruchsvoller.

Die chinesische Expansion und die Vorteile ihrer Produkte

Wie schnell und gründlich die chinesische Industrie den ganz normalen Verbrauchermarkt dominiert, kann man in Singapur beobachten, wo der Einzelhandel direkt in China einkaufen und seit 2008 weitgehend zollfrei importieren kann. Einheimische (wie Lazada) und chinesische (Aliexpress) Versandhändler bieten ein atemberaubendes Warenspektrum im Internet an. Das reicht von den trivialsten Haushaltsartikeln über Mode, medizinische Hilfsmittel und Sexpuppen bis zur neuesten Elektronik und hochwertigen Maschinen. Dabei ist bemerkenswert, dass auf diesen Plattformen auch zahllose kleine Anbieter mitspielen, die alle Produkte für geringe Versandkosten postwendend auf den Weg zur Haustür des Kunden bringen.  Dazu einige Beispiele:

  1. Für Hörgeräte ist Singapur wie Deutschland ein lukrativer und teurer Markt. Aus China, das intensiv an der Auftragsfertigung beteiligt ist, sah man die Profite immer nach Westen rollen. Inzwischen rollt aus dem Osten eine Welle innovativer Alternativmodelle heran, von billigen reinen Hörverstärkern bis zu sich selbst einstellenden und App-gesteuerten Varianten weit unter den bisherigen Marktpreisen. Das könnte den äußerst lukrativen Hörgeräte-Weltmarkt aufmischen und die Monopolstellung der Hörakustiker in Gefahr bringen.
    2. Fitnessringe, die Schritte, Schlaf, Puls, Blutdruck und vieles mehr messen und im Telefon-App dokumentieren, wurden im Silicon Valley und in Finnland entwickelt. Inzwischen überschwemmen chinesische Produkte mit immer ähnlicherer Leistung das preiswerte Marktsegment. Einige messen auch den Blutzucker und bedrohen damit, falls sie ausreichend verlässlich werden, die riesige Diabetesindustrie weltweit.
    3. Elektrische Zahnbürsten sind überall beliebt. Chinesische Modelle sind längst genau so effizient wie die westlichen Erfolgsmarken, kosten aber 80 Prozent weniger und sind mit Akku und USB-Anschluss aufladbar.
    4. Nass-und-Trocken-Staubsauger oder Wischsauger wurden zuerst von innovativen chinesischen Herstellern wie Xiaomi und anderen auf den Markt gebracht. Erst seit 2020 kamen europäische Hersteller wie Kärcher oder Philips mit eigenen, aber viel teureren Modellen nach.
    5. Die e-Zigarette wurde 2003 von dem Apotheker und Ingenieur Han Li aus Shenyang erfunden. Seitdem hat das Dampfen oder Vapen einen Siegeszug um die Welt erfahren, leider nicht nur mit Nikotin, sondern zunehmend auch mit Rauschgiften, die noch schneller süchtig machen als Zigaretten. Die Lizenzen und Patente sind inzwischen an „Big Tobacco“ übergegangen.

Abgesehen von dem demographischen Vorteil Chinas tragen auch historische Stärken zum Erfolg bei. Dazu gehören die gesellschaftliche Betonung von Bildung und eine Jahrtausende alte handwerkliche Tradition. Singapurs erster Ministerpräsident Lee Kuan Yew fragte nach der Unabhängigkeit 1965 seinen niederländischen Wirtschaftsberater Albert Winsemius, womit er denn die Wirtschaft aufbauen könne. Winsemius meinte darauf, Ihr Chinesen habt doch so geschickte Finger, versuchen sie es doch mal mit Angelhaken. Die wurden dann auch ein erster erfolgreicher Exportartikel. Der Stellenwert solcher Traditionslinien zeigt sich ähnlich auch in Deutschland, etwa in der Uhren und Feinmechanik-Industrie in Baden-Württemberg und Sachsen oder der Werftindustrie in Schleswig-Holstein. Die jeweils kollektiven Fachkenntnisse und Fertigkeiten der Arbeitnehmer sind kaum austauschbar, halten aber über längere Zeiträume. Auf alten Lorbeeren ausruhen dürfte für Deutschland allerdings sehr gefährlich sein. Der Streit um notwendige Anpassungen des Sozialstaats sind parteipolitisch nachvollziehbar, mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung und die chinesische Konkurrenz auf dem Weltmarkt aber nebensächlich bis fahrlässig. Wenn in unseren Schlüsselindustrien serienweise Arbeitsplätze abgebaut und Produktionslinien ins flexiblere und preisgünstigere Ausland verlegt werden, sollte eigentlich jeder die Alarmglocken hören. Als Hochlohnland, eingeengt durch eigene und EU-Regelungen bis in Details und Berichtspflichten, wird uns im weltweiten Wettbewerb schnell das Kapital ausgehen, von dem ohnehin schon zu viel geliehen ist. Die amerikanische Zollpolitik, vom Ifo-Institut als Epochenumbruch bezeichnet, kommt als zusätzliche Bremse für Deutschlands Exporte erschwerend hinzu.