Buchbesprechung: Paavo Matsin. GOGOLS DISKO

Paavo Matsin. GOGOLS DISKO.

Paavo Matsin. GOGOLS DISKO. Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann. Roman. Erlangen (Homunculus) 2021. 176 S., 21.- €. ISBN 978-3-946120-31-5

Viljandi, die südestnische ehemalige Hansestadt, als Handlungsort für einen Roman, in dem sich allerlei skurrile Gestalten im Umfeld eines Meisterdiebs bewegen und ein legendärer russischer Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert wie aus dem Nichts auftaucht – das erweckt die Neugier auf eine phantasiegeladene Geschichte. Schon der Einstieg in das 1. Kapitel befriedigt diese Lust am Geheimnisvollen. Konstantin Opiatowitsch, ein fingerfertiger Taschendieb lässt sich an diesem Morgen mit der Straßenbahn einmal quer durch das schmucke Städtchen fahren. Er macht einen Abstecher zum alten jüdischen Friedhof, verliert sich in dem gedanklichen Gestrüpp von Überlegungen zur städtischen Untergrundkultur, wo sogenannte Sidenti gegen die russische offizielle Welt revoltieren, wo … Da fällt Opiatowitsch wieder ein, dass das benachbarte Zarenreich sein geliebtes Estland okkupiert hat. Seitdem hat sich eine seltsame unterweltliche Mischkultur herausgebildet, in der sich russische, versteckte estnische und sogar angloamerikanische Elemente vermischt haben. Umso neugierig wird Opiatowitsch, als er an diesem Morgen eine seltsame Gestalt in der Straßenbahn sieht, von der ein „modrig-süßlicher Geruch, eine seltsame Mischung aus Weihrauch und den Intimproblemen eines alten Menschen“ ausgeht. Und schon schreitet er zur Tat, denn der zitternde Greis hat eben sein prall gefülltes Portemonnaie verloren, da gilt es zuzugreifen.

Doch bevor der Leser dieser geheimnisvollen Spur folgen kann, wird er in die musikalische Untergrundwelt von Viljandi eingeweiht. In ihr hat sich ein gewisser Adolf Ismailowitsch Geyer eingerichtet. Er verfügt über ein Antiquariat in einem Kellerraum, in dem russische und amerikanische Flaggen ineinander verschlungen eine Wand schmücken, signierte Poster mit den Konterfeis des berühmten russischen Barden Wyssozki und Elvis Presley herumhängen, Vinylplatten mit Rockmusik aus der westlichen Welt auf wackeligen Regalen stehen, meistens Mitbringsel aus der kurzen amerikanischen Emigration von Adolf Ismailowitsch. Die Bücher aber finden, mit Ausnahme der Klassiker Dostojewski und Gogol sowie der verbotenen estnischen Literatur, keine Abnehmer. Doch neben dem halb-legalen Leihverkehr sorgt eine Reihe von zwielichtigen Gestalten, wie der Barde Arkascha, Valerij Mammutow, Burchard Lenz und der Beatles-Mane Koljugin für heiße Rhythmen und Atmo im Aquarium, wie der Ort heißt, wo auch ab und zu eine esoterische Gesellschaft tagt.

Dann taucht der geheimnisvolle Alte aus der Straßenbahn in einem Lokal mit dem komischen Namen Roman auf, wo er vier Portionen mit Koteletts bestellt. Und ein gewisser Manschettowitsch, Kenner der klassischen russischen Literatur, murmelt: „Er ist es, Nikolaj Gogol“. Doch der stürzt sich nach dem ausgiebigen Mahl zur Toilette, wird bei seiner Rückkehr von der Tischgesellschaft als Klassiker begrüßt. Doch die mumiengleiche Gestalt reagiert nicht auf die unerwartete Huldigung, verschwindet gleich wieder auf der Toilette, in der er nicht zuletzt aufgrund seines furchterregenden Aussehens eingesperrt wird. In der Zwischenzeit bemühen sich die versammelten Vertreter der Untergrundgesellschaft, angespornt vom Meisterdieb Konstantin Opiatowitsch, um einen ausgeklügelten Plan, in dem Gogol die entscheidende Rolle spielen soll. Vorläufig beschließen sie, ihn abwechselnd hinter Schloss und Riegel zu stecken, zumindest so lange, bis er ihnen entwischt ist. Die Wächter sind ratlos, doch die Wirtin des Roman handelt. Als sie den entwischten Gogol auf einer Parkbank entdeckt, schleppt sie ihn zu sich nach Hause, brät ihm leckere Koteletts, lauscht seinen prophetischen Worten, schickt zwischendurch ihren ziemlich meschuggen Ehemann in die Klapse, lädt ihre Freundinnen zu einem gemütlichen Plausch ein mit Gogol in ihrer Mitte. Der aber gibt nur wenig später seinen Geist auf. In Viljandi bricht das Chaos aus, doch die Rettung in der Gestalt der angeblichen Taschendiebin Murka Andrejewna naht. Sie erweist sich als Polizistin, die schließlich für Ordnung in der aufgewühlten Kleinstadt sorgt. Vier führende Vertreter des Untergrunds, einschließlich Opiatowitsch, landen im Irrenhaus, der Barde Arkuscha wird auf offener Bühne erschossen und die anrückende zaristische Ordnungsmacht sorgt nicht nur für die Schließung des Aquariums.

Paavo Matsin, 1970 in Estlands Hauptstadt Tallinn geb., Literaturkritiker, ehemaliger Lehrer, Schriftsteller, hat mit Gogols Disko eine in Estlands Gegenwartsbelletristik wenig gepflegte Gattung brillant belebt. Seine phantasiegeladene Story über den nach 170 Jahren von den Toten auferstandenen ukrainischen Klassiker Nikolaj Gogol entwirft eine vielschichtige, absurde Welt, in der zwielichtige Gestalten ihren verbotenen, meist halbwegs geduldeten Geschäften nachgehen. Sie sind in ihrer baltischen Heimat einer russischen, zaristischen Herrschaft ausgesetzt, ihre einstige Umgangssprache, das Estnisch, wird nur noch von alten, meist dementen Menschen benutzt. Der beste Nährboden also für eine karnevaleske Untergrundgesellschaft, in der Protestsong, jüdische Mystik, und überlieferte estnische Bräuche gemeinsam mit dem russisch-ukrainische Monster Vij aus Gogols gleichnamigem Roman eine irrwitzige Mischung bilden. Kein Wunder, dass sich da diffuse estnische Ängste vor dem übermächtigen russischen Nachbarn in komischen Eskapaden niederschlagen. Kein Zweifel, selbst Gogol hätte eine diebische Freude an der Wiederbelebung seines legendären Werkes durch diesen Paavo Matsin, dessen brillantes Buch bereits in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt wurde. Und nun dank des vorbildlich lektorierten Textes aus dem Homunculus-Verlag, des aus dem Estnischen übersetzten Textes von Maximilian Murmann und des attraktiven Covers mit dem Meister des Okkulten auch seine ungebremste Fahrt in die Köpfe des deutschsprachigen Publikums nehmen wird.

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