Buchrezension: Zülfü Livaneli. Der Fischer und der Sohn

Mittelmeer, Foto: Stefan Groß

Zülfü Livaneli. Der Fischer und der Sohn. Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. Stuttgart (Klett-Cotta) 2023. 200 S., 20,00 €. ISBN 978-3-608-98692-1

Es ist ein einzigartig berührendes Vorwort, in dem der renommierte türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli (Jg. 1946) die weltweit bekannte Erzählung Der alte Mann und das Meer des amerikanischen Nobelpreisträger Ernest Hemingway als Anregung für seinen vorliegenden Roman Der Fischer und der Sohn benutzt. Seit seiner frühen Jugend habe er „sämtliche Werke Hemingways mehrfach gelesen“, Der alte Mann und das Meer kenne er „fast auswendig“. Bei jeder Lektüre habe er das Salz der Karibik auf seiner Haut gespürt. Doch die magische Anziehungskraft des faszinierenden Romans allein hätte sicherlich nicht Livanelis lebenslange Bewunderung für eine gleichsam mythologisierte Geschichte ausgelöst, wenn er seinen Lesern nicht noch etwas mehr verraten hätte. Es ist das Bekenntnis des fünfzehnjährigen Jungen Zülfü aus Ankara, dessen schulische Leistungen ungenügend sind. Doch stattdessen bearbeitet er für den Rundfunk Hemingways Roman Wem die Stunde schlägt, schreibt seinen ersten Roman und besteht aus Schulfrust sein erstes  großes Abenteuer. Er reist ohne Wissen seiner Eltern per Bus zu Hannibals Grab in dem kleinen Hafenort Eskihisar, wo der karthagische Feldherr auf der Flucht vor römischen Häschern Selbstmord beging. In diesem Ort sucht er nach einer Beschäftigung im Fischereigewerbe, um das nach zu empfinden, was die Romanfigur des alten Mannes in Hemingways Roman erlebte.

Wer so eingestimmt in die Inspirationen des Autors sich an die Lektüre des 2021 im Istanbuler Verlag İnkilâp erschienenen Romans macht, gleich zu Beginn mit einem Zitat aus dem Roman Hemingways versorgt wird, der verspürt zunächst ein gewisses Kribbeln auf der Haut. Es wird ausgelöst von Salzwasser, Meeresluft, dem Anblick eines kleinen Hafens, dem Geräusch von Ruder- und Motorbooten, die noch verankert sind oder zum Fischfang aufbrechen. Dieser harmonische Eindruck wird wenig später von dem Anblick zahlreicher Fischfarmen abgelöst und dem Hinweis, dass das Wasser in und außerhalb des Hafens von Abfällen und Zuchtfischen stark belastet sei. Eine Nachricht, die auch Mustafa, Besitzer eines kleinen Motorbootes für den täglichen Fischfangs, beunruhigt, für ihn jedoch erst im Laufe der Romanhandlung an Brisanz gewinnt. Er wird als verschlossener, in sich gekehrter Mann beschrieben, der unter dem tragischen Unfalltod seines siebenjährigen Sohnes Deniz leidet, der während eines Sturmes auf hoher See über Bord ging und trotz verzweifelter Rettungsversuche seines Vaters ertrunken war.

Von diesem Schicksalsschlag schwer getroffen, entwickelt Mustafa, unter häufigen Anrufen Allah, o mein Gott, so hilf mir doch, bitte, bitte, ein noch innigeres Verhältnis zu Fischen, reagiert zugleich auf ermunternde Zurufe seiner Arbeitskollegen mit noch größerer Verschlossenheit. Es ist ein Zustand, den auch Mesude, seine Ehefrau, nur schwer ertragen kann. Doch in dieser scheinbar unerträglichen Lage zeichnet sich eine für beide überraschende Lösung des Problems ab. Mustafa rettet einen in einem Schlauchboot in eine Wiege eingebetteten Säugling, der augenscheinlich wie durch ein Wunder in dem aufgewühlten Meer überlebt hat. Er stammt, wie Mustafa vermutet, aus einem gestrandeten, im Sturm leck geschlagenen Boot, in dem Flüchtlinge das Ägäische Meer auf dem Wege nach Griechenland durchqueren wollten. Den behutsam eingepackten Säugling, dem Mustafa schon in Gedanken den Namen seines ertrunkenen Sohnes Deniz gegeben hat, empfängt Mesude mit fürsorglicher Mutterliebe. Beide sind sich bald einig. Sie wollen den so wundersam geretteten Säugling bei sich aufnehmen. Mustafa meldet zwar in der Polizeidienststelle seines Dorfes zwei erwachsene ertrunkene Flüchtlinge, die er zusammen mit seinen Fischerei-Kollegen bergen konnte, das gerettete Kind aber verschweigt er den türkischen Behörden. Schon nach einigen Tagen wird Mesudes Mutterliebe und Fürsorgepflicht von einer anwachsenden Unruhe überlagert. Und wenn die Mutter des Säuglings wie durch ein Wunder überlebt hat und nach ihrem Kind fragt? In der Zwischenzeit meldet sich die Staatsanwaltschaft bei den Eheleuten. Mustafa wird noch einmal nach einem Kind gefragt, das nach einer Zeugenausaussage eines Fischers von seiner vermutlich afghanischen Frau in ein Boot gesetzt worden sei. Mustafa, schwer von Gewissensbissen geplagt, bestätigt die Beobachtung nicht. Doch Mesude, von ihrem Mann durch die Zeugenaussage in Kenntnis gesetzt, entschließt sich, der Polizei den Säugling zu übergeben. Es ist eine mutige Entscheidung, die zu einer monatelangen Trennung zwischen Mustafa und Mesude führt. Nach der Versöhnung zwischen beiden zeichnet sich überraschende Lösung ihres ehelichen Konflikts ab. Mustafa und Mesude werden in ein staatliches Anwaltsbüro in der Stadt Ula eingeladen, um einem Verwaltungsakt beizuwohnen. Die aus Afghanistan stammende Mutter, Zilhe Sharif, hat einen Antrag auf Übertragung des Sorgerechts für ihr Kind auf die Familie Silaci gestellt, sie selbst aber wird nach Afghanistan zurückgeführt. Zwischen beiden Müttern zeichnet sich in der Schlusspassage des Romans in dem Anwaltsbüro ein tief bewegendes Einverständnis, „ein unzerreißbares Band“, ab, das von tiefem Schmerz erfüllt ist. Das aus Afghanistan geflüchtete Kind ist gerettet, weil es eine türkische Familie in seine Obhut nehmen darf. Die afghanische Mutter aber, so der Anwalt verstohlen, „wird dort mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls getötet“. Mit Beihilfe des türkischen Staates, der die Rettung suchenden Flüchtlinge in ein mörderisches Regime zurückschickt.

Es ist ein auktorialer Erzähler, der sein stilistisch abgewogenes, in sich spannungsgeladenes Sujet, unter Berufung auf einen weltbekannten Schriftsteller, in einem in sich stimmigen Roman bündelt.  Die allseitigen künstlerischen Talente von Zülfü Livaneli widerspiegeln sich dabei vor allem in der gesamten Anlage der Story, die sowohl aufgrund ihrer atmosphärischen Verdichtung des Handlungsgefüges, als auch im Hinblick auf die übersichtlich angeordneten Konfliktstränge zu loben ist. Das betrifft die eingehende Beschreibung des Fischerberufs, einschließlich der kritischen Darlegung der aufgezeigten Umweltverseuchung, ebenso wie das private und öffentliche Verhältnis der Dorfbevölkerung zu den staatlichen Behörden im Hinblick auf die Bewältigung des Flüchtlingsstroms an der ägäischen Küste. Der in der Endphase des Romans aufgezeigte Konflikt zeugt von einer überraschenden, spannungsgeladenen Lösung, in der eine unbarmherzige staatliche Vorgehensweise gegenüber der Mutter mit einer barmherzigen Entscheidung im Hinblick auf den Säugling kombiniert wird. Die aus Afghanistan stammende Mutter wird in ihre Heimat abgeschoben, ihr Kind aufgrund einer behördlichen Entscheidung in die Obhut einer ansässigen Fischerfamilie gegeben. Es ist ein Lösungsmodell, das sich in der Überschrift des vorliegenden Romans abzeichnet: „Der Fischer und der Sohn“ – zwei Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die aufgrund unerbittlicher existentieller Verwerfungen zufällig zueinander finden. Ist ihre vorbildhafte Geschichte nicht ein Modell für das zukünftige Zusammenleben vernunftbegabter Wesen, die auf der Flucht nach einem menschenwürdigen Dasein sind? Der vorliegende Roman des „türkischen Universalgenies“ erzählt abgewogen und spannungsgeladen zugleich von den Verwerfungen menschlicher Schicksale am südöstlichen Rand von Europa, wo sich entscheidende Lösungen für die Zukunft unseres Erdteils abzeichnen.