Yael Inokai – Mahlstrom: Schwarzer Schnee

Verschneite Bank, Foto: Stefan Groß

„Einer, der sich umbringt, kann sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass die Leute nach seinem Tod alles Mögliche studieren, was er hinterlassen hat: Gegenstände, Erinnerungsschnipsel, Nachrichten. So ein Suizid steht wüst in der Landschaft. Egal wie sehr man den Weg zu gehen versucht, etwas zu verstehen, das Bedürfnis holt einen trotzdem irgendwann ein.“, stellt Adam, der Bruder von Barbara, schon fast am Ende des Buches fest. Barbara ist tot. Die 22-jährige ist in den Mahlstrom geraten oder genauer: Sie hat sich den schweren Mantel ihres Bruders übergeworfen, dessen Taschen mit Steinen beladen und sich an einer als gefährlich geltenden Stelle des heimischen Wasserlaufs ertränkt. Gefunden wird sie erst am 7. Tag ihres „stummen“ Verschwindens, das zunächst kaum jemandem auffällt, obwohl sie gemeinsam mit ihrem Bruder noch im Haus der Eltern lebt.

Die junge Frau mit dem „raumgreifenden“ Körper und dem etwas eigensinnigen Geist, die im Buch seltsam konturlos bleibt, galt schon immer als eigenbrötlerisch und in sich zurückgezogen. Doch nun geht in dem Schweizer Bergdorf das Getuschel hinter vorgehaltener Hand los. Denn das Andere, das Ungewöhnliche, das nicht in die dörfliche Norm Passende gibt es nicht und wurde schon immer – wie Schmutz vor der eigenen Haustür – flugs zusammengekehrt und fein säuberlich mit dem Mantel der Scheinheiligkeit zugedeckt. Hinter der eigenen Haustür sieht es zumeist ganz anders aus. Da wird allerorts der mahnende Zeigefinger emporgestreckt und auch Gewalt exzessiv ausgelebt. Diese wiederum reichen die Sprösslinge dann gern auf dem Schulhof an die Schwächeren weiter. Hier lebt man elementare Rituale des Dazugehörens und Ausgeschlossenseins offen aus. Vor allem dann, wenn man – wie Barbara – im eigenen Kopf zu Hause ist oder man Räume hat, in die keiner eindringen darf. Schon gar kein Zugezogener aus der Stadt, wie der schmächtige Yann, der unbedingt Teil der Kinder-Clique werden möchte.

Nach der Beerdigung Barbaras gerät nun auch die Dorfgemeinschaft in den Mahlstrom. Und wieder wird er eine Ungeheuerlichkeit an die Oberfläche bringen. Doch dieses Mal ist es nicht die unförmig aufgequollene Masse eines verschluckten Körpers. Er lässt beinahe drängend und drohend Kindheitserinnerungen von fünf Personen in deren Bewusstsein treten: eine unter dem Deckmantel des dörflichen Schweigens oder nennen wir es lieber der stillen Übereinkunft, über zehn Jahre zurückliegende grausame Tat, die zugleich als das Herzstück des Romans angesehen werden kann.

Aus der erzählenden Sicht von drei jungen Leuten ist das Buch aufgebaut. Nora, die so etwas wie eine Freundschaft mit Barbara verband und Adam besetzen die Täterseite. Yann, das damalige Opfer und der bis heute schwer Gezeichnete, kommt ebenfalls zu Wort: „Schwarzer Schnee nimmt der Welt ihre Konturen, alles verwischt, erst ist es zu laut, und dann wird es dumpf, und ich gehe in meinem Körper verloren, als habe der keinen Boden, und man fällt einfach nur immer tiefer und tiefer in sich hinein. Leute, die das nicht kennen, denken, Schmerzen tun weh, aber Schmerzen haben viele Talente, und sie sind eifersüchtig, sie wollen dich mit nichts und niemandem teilen.“

Ihre aus verschiedenen Perspektiven aufkommende Gedanken und Erinnerungen weben ein dichtes Netz an Motiven. Einige Episoden überlappen sich, andere fügen sich wie Puzzleteile in die Lücken. Dabei gibt die Autorin jedem seine ganz eigene Erzählstimme, einen anderen Stil, der die Eigenschaften und Psyche der Figuren perfekt widerspiegelt. Sie offenbaren mehr und mehr die Abgründe hinter der anständigen Gemeinschaft: Engstirnigkeit, Abscheu vor dem Andersartigen, nur nach außen hochgehaltener Anstand. Auch das Verbrechen, das die Kinder begangen haben, wurde von ihren Eltern zugedeckt, damit der Schein gewahrt bleibt. Was die Gemeinschaft bedroht, darf nicht sein oder muss weichen.

Die 1989 in Basel geborene Yael Inokai hat ein beeindruckendes Buch geschrieben. In kurzen, klaren Sätzen, die gerade durch ihren ruhigen und schwebenden Ton eine nahezu poetische Sprache offenbaren, entfernt sie nach und nach den Schleier der verwobenen Dorfgemeinschaft. Darunter zeigt sich deren hässliche Fratze, ein brodelnder Krater subtiler Gewalt. Doch Inokai klagt nicht an, verurteilt oder fordert Rechenschaft. Mit eher leisen Tönen, mit Andeutungen und feinen Nuancierungen erzeugt sie einen ungeheuren Sog, einen Mahlstrom, der die eigenen Gedanken zum Kreisen bringt. Noch lange nach dem Zuschlagen der letzten Seite brodelt und gärt es. »Mahlstrom« erweist sich als ein Buch mit großer Eindringlichkeit.

Yael Inokai

Mahlstrom

Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich (19.09.2017)
179 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3858697605
ISBN-13: 978-3858697608

Preis: 22,00 EURO

 

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.