Haben wir Menschen vielleicht ein „Kunst-Gen“ in uns?


„Als Duchamp im April 1917 bei der großen Kunstausstellung der Independent Artists in New York ein handelsübliches Urinal einreichte, das er in einem Sanitärgeschäft erworben, mit 'R. Mutt 1917' signiert und mit dem Titel 'Fontaine' versehen hatte, wurde es mit dem Argument abgelehnt, das Objekt sei 'nach jedweder Definition kein Kunstwerk'. Mittlerweile gilt Duchamps 'Fontaine' als eines der Schlüsselwerke moderner Kunst. Was aber macht es zu einem Kunstwerk? Dass es bei einer Kunstausstellung präsentiert werden sollte? Dass es von Duchamp signiert wurde, d. h. von einem anerkannten Künstler und nicht von einem Klempner?“

Dieses von Thomas Junker angeführte Beispiel zeigt deutlich wie schwierig es ist, den weiten Begriff „Kunst“ zu bündeln und ihm eine feste Definition zu geben. Trotz alledem ist Kunst ein fester und untrennbarer Bestandteil der menschlichen Evolution. Ohne sie „hätte das Leben unserer Vorfahren einen anderen Verlauf genommen, dann wären die Menschen vielleicht nicht zum 'dominantesten Tier' geworden, 'das jemals auf dieser Erde erschienen ist', wie es Charles Darwin 1871 so treffend formulierte. Junker zeigt in seinem Buch auf, dass uns Kunst keineswegs als überflüssiger Luxus mit in die Wiege gelegt wurde, „sondern als ein unverzichtbarer Bestandteil der Natur des Menschen, vergleichbar mit Sprache und Kultur.“ Er ist der Meinung, dass der immer wieder Misstrauen erweckende und auf Unverständnis stoßende evolutionäre Blick auf die Kunst, ein kurzsichtiger ist. Denn, so Junker, „damit verspielt man sich die Chancen und Möglichkeiten einer neuen Sicht auf ein vertrautes und scheinbar bekanntes Phänomen wie die Kunst“. „Revolutionäre“ Ideen wären nicht zum ersten Mal der Anstoß für eine umwälzende Entwicklung und neue Erkenntnisse, die bis dato in einer Sackgasse feststeckte. Sein informatives und interessantes Brevier offenbart dabei keineswegs eine starre Meinung eines einzelnen Fachbereiches, sondern der Autor zieht für seine Betrachtungen die Erkenntnisse und Gedanken von Philosophen, Historikern, Psychologen und natürlich Evolutionsbiologen heran: ein Brückenschlag zwischen Kultur- und Naturwissenschaftlern.

In fünf umfassenden Kapiteln unternimmt er den Versuch, das komplexe Phänomen Kunst aus der darwinschen Perspektive zu betrachten. Zunächst erklärt Junker unterschiedlichste Begrifflichkeiten, die mit dem kleinen/großen Wort einhergehen. Er beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Kritik an evolutionären Kunsttheorien und erläutert den Nutzen der Kunst, der zum einen im Überleben und Wohlergehen der Individuen, zum anderen als deutliches Signal bei der Partnerwahl, also der sexuellen Auslese, steht. Zudem verbirgt sich in der Kunst ein unglaublich großer Erfahrungsspeicher, der Sprache, Kreativität, Emotionalität, Geschicklichkeit und Bewegung nahezu spielerisch trainiert. Einen großen Teil widmet der Autor der Beantwortung der Frage, wie Kunst eigentlich funktioniert und „warum es so schwierig ist zu sagen, was Kunst ist“. Thomas Junker geht auf die Sprache der Gefühle ein und versucht zu ergründen, warum Kunst magische Kräfte hat bzw. warum sie so unglaublich vielfältig ist. Der Autor führt zudem auf, wie Kunst entstanden ist und welchen evolutionären Zwängen sie sich unterordnen musste. Letztendlich gestattet er sich noch einen Blick in die Zukunft und fragt sich, ob Kunst vielleicht gar „vorm Aussterben bedroht“ ist. Denn unzweifelhaft haben sich ursprünglich vorteilhafte Eigenschaften durch Veränderungen der Umwelt und der Lebensweise in ihr Gegenteil verkehrt und könnten somit zu Fehlanpassungen führen.

Fazit: Anspruchsvoll, aber trotzdem verständlich, anschaulich, gut gegliedert und durchaus überzeugend unternimmt Thomas Junker einen Versuch, Kunst als wesentliches evolutionäres Merkmal zu definieren, das fest in uns Menschen verortet ist. Dabei agiert sein Buch keineswegs als strenge wissenschaftliche Abhandlung, sondern gestaltet sich als unterhaltsamer und trotzdem hochinformativer und lohnenswerter Gedankenanstoß über die eindrucksvolle, möglicherweise evolutionäre Erfindung, der wir den Namen Kunst gegeben haben. Zweifelsohne bleibt dabei einiges im spekulativen Bereich angesiedelt, aber interessant und klar argumentiert ist es allemal. Denn eines ist unbestritten: „Ihre inspirierenden und glückspendenden Eigenschaften, die unser Leben in einzigartiger Weise bereichern, können sich aber nur entfalten, wenn sie gefördert werden.“, so Thomas Junker. Und weiter: „Die Künste sind mehr als ein unersetzliches Weltkulturerbe – sie sind ein lebendiges Weltnaturerbe, das es zu bewahren gilt.“

Thomas Junker
Die Evolution der Phantasie
Wie der Mensch zum Künstler wurde
Hirzel Verlag (Mai 2013)
235 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3777621803
ISBN-13: 978-3777621807
Preis: 24,90 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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