Meinungsfreiheit und Parlamentshoheit

Neulich im Bundestag bekamen wir einen Eindruck von der Spannung, die zwischen beiden Prinzipien unserer politischen Kultur aufkommen kann. – Der Liedermacher Wolf Biermann wurde aus Anlaß des fünfundzwanzigsten Jahrestages des Mauerfalls eingeladen, diese glückliche Stunde in der Festversammlung mit seinen Liedern zu bleibender Erinnerung zu bringen.

Der Liedermacher wurde seiner Lieder wegen eingeladen, nicht um zu parlamentieren; das dürfte er nur, wenn er gewählter Abgeordneter oder eingeladener Festredner wäre. War er aber beides nicht. Und als er dann – eigentlich erwartungsgemäß – gegen diese Verhaltensregeln des hohen Hauses verstieß, wurde er vom Parlamentspräsidenten zurecht auf dieses Formproblem aufmerksam gemacht.

Was aber passiert? Der Gast verweist darauf, dass er sich schon in der DDR nicht den Mund verbieten ließ, und das also auch hier (!?) nicht zu ändern gedenke … Und er hebt an zu ganz undiplomatischen Invektiven gegen einen Teil der vor ihm sitzenden Abgeordneten. Jetzt wären normalerweise die Bundestagsdiener am Zuge gewesen, zu handeln, wie das Gesetz es befiehlt (und den Lümmel hinaus zuexpedieren). Aber der Gast durfte ungebremst eine der Parlamentsfraktionen mit holzschnittartigen Monita zu beschämen. – Dem gewähren zu lassen, sollte allerdings keine läßliche Sünde sein! Hier wird eine sehr empfindliche Formfrage verletzt. Was in Alltagsbegegnungen normal wäre, Streit und Vorwürfe, sollte eben ganz ausgeschlossen sein im Alltag der hohen Repräsentation, dort, wo unsere politische Kultur definiert und produziert wird.

Man stelle sich nur einmal vor, zum fünfundzwanzigsten Jahrestag der Einführung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (1974) hätte der Bundestagspräsident den Liedermacher Josef Degenhardt ins Plenum eingeladen, um diesen Festakt musikalisch zu begleiten. Und dieser Kerl würde die vor ihm sitzende FDP-Fraktion (mit ihrem Vorsitzenden, einem – untadeligen – Offizier und Ritterkreuzträger) mit Erinnerungsinvektiven überschütten. Man kann sicher sein, Eugen Gerstenmeier hätte – sehr Recht – von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht.

So sind wir aber Zeuge geworden, wie sich Politik- & Politikererverachtung zu ganz unpassender Gelegenheit in uns breit machen kann.

Über Dietzsch Steffen 16 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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