Im Interview Jan Fleischhauer – 10 Jahre Merkel

Norbert Blüm hat gegenüber dem „Spiegel“ im Jahr 2000 einmal geäußert „Was mir bei der Merkel gefällt, ist eine Sprache, die nicht so politisch abgelutscht ist wie meine. Sie bringt in diese perfekte Politwelt gelegentlich ein Stück von natürlicher Unbeholfenheit ein“. Was ist davon übrig geblieben?

Blüm hat auf freundliche Art zum Ausdruck gebracht hat, dass man von Angela Merkels Reden nichts in Erinnerung behält. Sie wird sicherlich zu den Kanzlern gehören, bei denen am Ende kein Satz überliefert sein wird, den man mit ihrer Kanzlerschaft verbindet. Als Rednerin ist Merkel ganz furchtbar; es bedarf großer Mühe, ihrem Redefluss aufmerksam zu folgen, wenn sie ein Podium betritt. Dennoch, und das ist interessant, hat sie eine ganz eigene Art gefunden, mit dem Volk zu kommunizieren, und dabei von sich und von ihrer Politik ein klares Bild zu erzeugen. Es ist schwer zu sagen, wie sie die Menschen erreicht, weil ihr ja kaum jemand wirklich zuhört, aber sie erreicht sie ganz offenkundig, sonst hätte sie nicht die Zustimmungsraten, die sie nun einmal hat.

Der Zufall und die Zeitläufte haben Angela Merkel oft geholfen. Max Frisch schrieb einmal „Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt“ – gilt dies auch für die Kanzlerin?

Bei jedem Kanzler gehört Fortune dazu, wenn er den Sumpf des Alltagsgeschäfts verlassen will. Helmut Kohl wäre ohne die Wiedervereinigung nicht in die Reihe derjenigen aufgerückt, die man zu den großen Kanzlern zählt. Wen umgekehrt nie das Glück der Umstände streifte wie den armen Kurt Kiesinger oder den braven Ludwig Erhard, bleibt immer eine mittelmäßige Figur, egal wie tüchtig er war. Im Leben eines Kanzlers ist so gesehen nichts vorteilhafter als die Krise. Erst die Krise gibt der Kanzlerschaft Gestalt; sie sorgt dafür, dass sich alle Augen auf die Person an der Spitze des Gemeinwesens richten. Ob Merkel letztendlich eine große Kanzlerin gewesen sein wird, das lässt sich erst im Rückblick sagen. Aber wenn man die Zahl der Krisen sieht, die in ihre Amtszeit fallen, hat sie schon einmal gute Voraussetzungen.

„Physikerin der Macht“ – so wird sie oft genannt. Die Politik betrachtet sie angeblich wie ein Labor. Die Versuchsanordnung ist dabei oft wichtiger als das Ziel, scheint dieses unrealistisch, wird dieses oft aufgegeben. Was steckt dahinter?

Das Bild von der Physikerin der Macht ist ja fast ein Klischee geworden. Dahinter steht der Versuch, aus der mathematischen Begabung, über die sie unbestreitbar verfügt, bestimmte Charaktereigenschaften abzuleiten. Dass eine Physikerin einen anderen Weltzugang hat als ein Historiker oder Jurist, da ist sicherlich etwas dran, aber meiner Meinung geht in dem Satz von der Physikerin der Macht völlig unter, dass Frau Merkel vor allem eine große Psychologin ist. Auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise wurde sie gefragt, warum sie immer noch mit Wladimir Putin telefoniere, obwohl sie doch wissen müsse, dass er sie in jedem Gespräch anlüge. Ihre Antwort war bezeichnend: Natürlich rede sie weiterhin mit ihm, schließlich sei es doch enorm aufschlussreich, die Weltsicht eines Staatschefs zu hören, die der ihren um 180 Grad entgegengesetzt sei. Sich in die Denkweise anderer Menschen einfühlen zu können, um insgesamt zu einer besseren Lagebeurteilung zu kommen – dies ist aus meiner Sicht eine Eigenschaft der Kanzlerin, die zu selten Erwähnung findet.

Merkels Politikstil – wie würden Sie diesen beschreiben?

Das große, uneingestandene Vorbild ist Helmut Kohl. Merkel hat sich in den Jahren, in denen sie diesem Mammut des Konservatismus als Ministerin diente, mehr von ihm abgeschaut, als vielen bewusst ist. Sie hat seine Art übernommen, die Dinge treiben zu lassen, bis sie sich in die gewünschte Richtung entwickeln. Geduld ist eine in der Politik weithin unterschätzte Tugend. Sie hat von Kohl auch gelernt, wie man mit Feinden und Verrätern verfährt. Sie macht das nicht so spektakulär wie der schwarze Riese, aber am Beispiel von Norbert Röttgen hat man gesehen, dass fortgesetzte Illoyalität auch im System Merkel seinen Preis hat. Und Merkel hat wie Kohl Spaß an der Macht. Sie ist gern Kanzlerin. Viele Kanzler werden von dem Amt zermürbt, man kann auf Bildstrecken sehen, wie sie in atemberaubender Geschwindigkeit altern. Angela Merkel freut sich jeden Tag, dass sie ins Kanzleramt fahren darf, jede Krise ist eine Aufgabe, der sie sich gerne annimmt. Sie findet Konflikte spannend und die Suche nach einer Lösung keine Last, sondern eine intellektuelle Herausforderung, ähnlich einer Denksportaufgabe. Dies erklärt auch, warum sie so erfolgreich ist. Wenn es ein Ziel in ihrem Leben gibt, dann ist es länger zu regieren als der Einheitskanzler.

Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hat einmal bemerkt, dass Frau Merkel es verstanden habe, „dass Menschen zu ihr nicht nur eine intellektuelle, sondern offenbar auch eine emotionale Beziehung empfinden“. Sehen Sie das auch so?

Ein Kanzler, den die Leute als kalten Fisch empfinden, kann sich auf Dauer nicht halten, das war schon immer so. Frau Merkel ist es auf ihre nüchterne Weise gelungen, ein emotionales Band zu schaffen, weil gerade die Art, wie sie redet und agiert als sehr deutsch empfunden wird. Wenn die Deutschen etwas auszeichnet, dann ist das Faible für Common-sense-Politik, also der Wunsch nach jemandem an der Spitze, der die Dinge vernünftig regelt, ohne sich dabei allzu sehr von Gefühlen oder der Rücksichtnahme auf Parteiinteressen leiten zu lassen. Ihre Kritiker treibt das zur Verzweiflung, weil Merkel jeden Konflikt so entschärft, dass am Ende kaum noch etwas übrig bleibt, über das man streiten könnte. In den Feuilletons steht, sie würde die Politik entsaften und damit die Demokratie ihres Blut berauben. Das mag schon sein, aber die Wähler ziehen eine Merkel einem Gabriel, der viel mehr von politischer Leidenschaft getrieben ist, allemal vor.

„Merkel führt nicht, sie moderiert“ und dabei ist sie noch höchst populär – die Mutter der Nation. Als Kanzlerin des Machbaren scheut sie Konflikte. Ist dies das Geheimnis ihres Erfolges?

Auch dies ist ja fast zum Klischee geworden – der Vorwurf, Merkel moderiere nur, so als sei Politik eine große Talkshow. Natürlich führt sie, was erleben wir in Europa den ansonsten gerade? Angela Merkel ist jetzt in einer Phase ihrer Kanzlerschaft angekommen, wo die Außenpolitik einen Großteil ihrer Arbeitszeit einnimmt. Das hängt auch damit zusammen, dass es niemanden in Europa gibt, der über mehr Erfahrung verfügt als sie. Als Alexis Tsipras seinen Antrittsbesuch in Rom machte, in der klaren Hoffnung, mit den Italienern eine neue Südschiene zu begründen, sagte Renzi zu ihm: „Es ist nett, dass Du mich besuchst. Aber wenn ich Du wäre, würde ich schleunigst einen Termin bei der Dame in Berlin machen.” Das Besondere an Frau Merkel ist, dass sie – das hat sie übrigens ebenfalls von Kohl gelernt – nicht vor sich herträgt, wie mächtig sie ist. Sie ist zu großer diplomatischen Bescheidenheit in der Lage, das macht sie zu einer so überragenden Krisenmanagerin.

Viele Ihrer Herausforderer und Konkurrenten blieben im, fast könnte man sagen, angelanischen Zeitalter, auf der Strecke, oder haben ihre Minister- oder andere Ämter zurückgegeben – berühmt ist der „Andenpakt“. Worin sehen Sie das Geheimnis ihrer Macht?

Sie führt eine Partei, die anders als die Sozialdemokratie gewohnt ist, Gehorsam zu leisten. Christdemokratische Kanzler haben es da immer einfacher gehabt. Man denke nur an Brandt, Schmidt und Schröder, die alle an bestimmten Punkt von ihrer Partei verlassen wurden. Merkel ist es gewohnt, dass die Partei ihr folgt. Leute, die es mit der Schlechtrednerei zu toll treiben, werden eliminiert. So ist es in der CDU immer gewesen. Es ist meiner Meinung nach eine falsche Darstellung, das Köpfen von Konkurrenten als Männer-Frauen-Konflikt zu deuten. Unter den Frondeuren, die sich ihrem Aufstieg entgegenstellten, waren nun einmal 95 Prozent Männer. Einer wie Kohl hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. Der hätte es aufgrund der Geschlechtsstruktur der CDU auch nur mit Männern als Gegner zu tun gehabt, das hätte in seinem Fall nur keinen interessiert.

Als einstiges Mädchen von Helmut Kohl hat sich die Kanzlerin die Weltbühne der Politik erobert, die Finanzkrise 2008 gemeistert. Sie ist die mächtigste Frau der Welt, und Sie will die Einheit Europas um jeden Preis. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ dieser Satz ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Ist die Europapolitik Merkels nicht ein Spiegelbild ihres, um es mit Nietzsche zu formulieren, Willens zur Macht?

Man wird nicht Kanzler, wenn man nicht in historischen Kategorien denkt. Wer Kanzler ist, möchte die Welt ja nicht zum schlechteren verändern, sondern im günstigsten Fall in einem besseren Zustand hinterlassen, als er diese vorgefunden hat. Als Kanzlerin diejenige zu sein, unter deren Ägide Europa zusammenbricht, das will Merkel auf jeden Fall vermeiden. Um das zu verhindern, würde sie zur Not morgen sofort ein viertes Rettungspaket für Griechenland schnüren. Aber das hat nichts mit dem Willen zur Macht zu tun, eher mit dem Blick auf das Ende der Machtfülle, die einem verliehen wurde.

Angela Merkel ist im Geist des Protestantismus aufgewachsen mit sozialistischer Sozialisierung! Wieviel DDR steckt denn noch in Angela Merkel?

Ich könnte mir vorstellen, dass die Scheu sich festzulegen, eher typisch für Ostdeutsche ist. Aber in Merkel steckt mehr Protestantismus als DDR. Wenn man ihre Herkunft heranziehen will, um sie zu erklären, dann ist das deutsche Pfarrhaus wichtiger als die Jugend in Templin.

Die Stärken und Schwächen der Bundeskanzlerin, wenn es dazu ein Ranking gebe, wie würden Sie hier eine Einordnung treffen?

Ihre Stärke ist, dass sie nie versucht hat, etwas anderes zu sein, als sie ist. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Politiker versuchen ihre Schwäche zu kompensieren, indem sie diese durch besondere Anstrengung gerade auf dem Gebiet, das ihnen nicht liegt, wett zu machen versuchen. Merkel wollte nie anders sein – sie wollte nie mitreißende Reden halten oder die Leute durch besonderes Charisma von den Stühlen reißen. Sie ist sich einfach treu geblieben, und hat so lange weitergemacht, bis man das, was eben noch als zu unemotional und zu wenig mitreißend galt, zum Merkel-Stil erklärte. Ihre Schwäche ist, dass sie in einer politischen Situation, die sehr aufgeheizt ist, mit einem Gegenspieler, der das Blut der Leute zum Brodeln bringt, große Mühe hätte, die richtige Antwort zu finden. Steinmeier war in seiner bedächtigen Art als Gegenkandidat ideal, Gabriel wäre in seiner Quecksilbrigkeit schon sehr viel schwerer zu begegnen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die politische Auseinandersetzung so merkelmäßig dahin plätschert. Aber das muss nicht so bleiben. In vielen Ländern um uns herum waren die Wahlkämpfe zuletzt sehr hart, auch in Deutschland haben wir schon die Erfahrung mit extrem polarisierenden Wahlen gemacht. Es wäre spannend zu sehen, wie Merkel hätte in so einem veränderten Setting reagieren würde. Ich glaube im Gegensatz zu vielen Beobachtern überhaupt nicht, dass sie unangreifbar ist.

Wie fühlt sich einer, der aus versehen konservativ wurde, bei der CDU aufgehoben, Mitte, Maß und der Verlust des C werden ihrem Regierungsstil oft vorgeworfen. Wie konservativ ist die CDU unter Merkel?

Natürlich kenne ich die Klagen von Konservativen, dass sie sich in der CDU nicht mehr richtig zuhause fühlen würden. Dazu kann ich nur sagen: Die CDU unter Helmut Kohl war nicht viel konservativer. Die meisten haben es vergessen, aber in der ersten Regierung Kohl saßen Leute wie Rita Süßmuth oder Heiner Geißler, der heute bei Attac herumspringt. Jeder Kanzler zieht in die Mitte, keiner hat sich je im Amt radikalisiert. Wenn sie von links kommen, ziehen sie nach rechts, das nehmen ihnen dann die Linken übel. Kommen sie von rechts, und bewegen sich nach links, sind die Konservativen sauer.

Wie beurteilen Sie – mit Hinblick auf die Flüchtlingsthematik – die zögerliche Haltung der Bundeskanzlerin?

Wenn ich mich richtig erinnere, war sie diejenige, die in ihrer Neujahrsansprache schon deutlich Fremdenfeindlichkeit verurteilt hat, als der Parteivorsitzende der SPD noch den Pegida-Anhängern in Dresden die Hand schüttelte. Wir führen in der Flüchtlingsfrage viel stärker als den europäischen Nachbarn lieb ist. Denen wäre lieber, wir wären in diese Frage deutlich zögerlicher. Der deutsche Sonderweg kann man manchmal erstaunliche Abzweigungen nehmen, wie man sieht.

Bundestagswahl 2017: Die Bundeskanzlerin will ihre vierte Amtszeit! Sind die Deutschen mit ihr zufrieden?

Im Augenblick scheinen die Deutschen mit der Kanzlerin so zufrieden, dass keiner in der Sozialdemokratie, der ernsthafte Ambitionen auf das höchste Regierungsamt hat, gegen sie antreten will. Dies sagt in jedem Fall sehr viel darüber aus, wie ihre Gegner die Erfolgschancen der Bundeskanzlerin für 2017 einschätzen. Und wer bin ich, der Weisheit der deutschen Sozialdemokratie in Frage zu stellen?

Fragen Stefan Groß

Quelle: http://www.theeuropean.de/

Über Fleischhauer Jan 2 Artikel
Jan Fleischhauer, geboren 1962 in Hamburg, hat Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Seit 1989 ist er Redakteur beim Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" und hat dort unterschiedliche Funktionen inne, darunter die Positionen stellvertretender Leiter des Wirtschaftsressorts und stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros. Von 2001 bis 2005 war Fleischhauer Wirtschaftskorrespondent in New York. Seit 2008 ist er Autor des Spiegel in Berlin, seit 2011 schreibt er für Spiegel-Online die Kolumne S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal. 2009 erschien im Rowohlt-Verlag sein Buch "Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde".

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