Nikolaus von Kues – Der Mensch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit

Nikolaus von Kues, Briefmarke

Ein Essay über die Zeitlosigkeit des Denkens im Spiegel der Moderne

Wenn wir heute über das sogenannte Abendland sprechen, jenes schillernde Gebilde aus Rationalität, Glaube, Politik und Kunst, dann tun wir gut daran, nicht nur auf die Leuchttürme der Neuzeit zu blicken – Kant, Descartes, Hegel – sondern zurückzugehen, tiefer, an den Rand der Zeitenwende vom Mittelalter zur Moderne. Dort begegnet uns ein Denker, der nicht nur Kardinal war, Diplomat, Jurist, Theologe, sondern auch ein metaphysischer Kartograph des menschlichen Geistes: Nikolaus von Kues, latinisiert Cusanus, geboren 1401 in Kues an der Mosel. Ein Mann zwischen den Welten – geistlich und weltlich, mystisch und rational, spekulativ und pragmatisch.

De docta ignorantia – Wissen im Zeichen des Nichtwissens

Cusanus’ Denken beginnt mit einem Paradox – und vielleicht ist das schon sein erster Fingerzeig an die heutige Zeit: Wissen beginnt mit dem Eingeständnis des Nichtwissens. Seine Schrift De docta ignorantia von 1440 ist keine Kapitulation vor der Unwissenheit, sondern ein radikaler Aufbruch zu einem neuen Erkenntnisbegriff. Der Mensch, so Cusanus, kann das Absolute – Gott – nicht begreifen wie ein Ding, das sich vermessen, zergliedern, klassifizieren lässt. Das Absolute ist jenseits aller Gegensätze, es ist coincidentia oppositorum, der Zusammenfall der Gegensätze.

Und hier liegt Cusanus’ Sprengkraft: Er stellt den Rationalismus infrage, bevor es den Rationalismus überhaupt gibt. Er sagt: Erkenntnis ist nie abgeschlossen, nie total – sie ist immer Annäherung, Analogie, ein tastendes Sehen im Zwielicht der Endlichkeit.

Der Mensch als Mikrokosmos

Cusanus denkt den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als Mikrokosmos, als Spiegelbild des Alls. In einer Zeit, in der der Mensch noch weitgehend in göttlicher Ordnung aufgehoben war, erkennt Cusanus seine Autonomie – und seine Verantwortung. Es ist der Mensch, der mit seiner Vernunft und Freiheit an der Schöpfung teilhat. Nicht als kleiner Gott, sondern als kreatürliches Wesen mit göttlichem Funken.

In einer Welt, in der Technokratie und kybernetische Utopien den Menschen zur Rechenmaschine degradieren, klingt diese Sicht beinahe subversiv: Der Mensch ist nicht Produktivkraft, nicht Datenpunkt, sondern metaphysisches Wesen – ein Teilhaber an der unendlichen Vernunft Gottes.

Politik als Theologie des Gemeinwohls

Als Diplomat und Kirchenpolitiker wusste Cusanus um die Brüche und Spannungen seiner Zeit: das Konzil von Basel, die Spaltung der Kirche, die Osmanen vor Wien, die politische Zersplitterung Europas. Doch sein politisches Denken wurzelt in einem tiefen Begriff des consensus – der Einheit in Vielfalt. In seiner Schrift De pace fidei (1453), verfasst nach dem Fall von Konstantinopel, entwirft er eine Vision des interreligiösen Dialogs, die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus ist.

Er fordert nicht Uniformität, sondern Verständigung – nicht auf der Ebene dogmatischer Einigung, sondern im gemeinsamen Ringen um die Wahrheit. In einer Zeit, in der der Diskurs in Cancel Culture, Meinungsblasen und digitalen Lynchjustizen zerschellt, hat Cusanus uns etwas zu sagen: Wahrheit wächst nicht im Monolog, sondern im Dialog – ein Dialog, der das Gemeinwohl zum Maßstab hat, nicht ideologische Besitzansprüche.

Die Aktualität des Unzeitgemäßen

Warum also Cusanus heute lesen? Warum einen Denker, der noch vor der Reformation starb, ins 21. Jahrhundert tragen? Weil seine Denkbewegung der unseren diametral entgegengesetzt ist. Während wir linear denken – Fortschritt, Wachstum, Effizienz – denkt Cusanus zyklisch, spekulativ, paradox. Während wir in binären Codes operieren – Null oder Eins, Schwarz oder Weiß – denkt er in Antinomien, in der Spannung der Gegensätze, deren Zusammenfall das Göttliche offenbart.

In einer Welt, die das Absolute ausradiert hat zugunsten eines totalen Relativismus, ruft Cusanus zur Demut auf: zur Demut des Denkens, das weiß, dass es nicht alles weiß. In einer Zeit der Überinformation ist die docta ignorantia ein Gegenprogramm, ja: ein geistiges Hygienekonzept.

Cusanus als europäischer Archetyp

Nikolaus von Kues ist nicht nur ein Denker – er ist ein Typus: der europäische Mensch, der kontemplativ ist und doch politisch, der gläubig ist und doch kritisch, der universal denkt und lokal handelt. In ihm vereinen sich Klosterzelle und Staatskanzlei, Scholastik und Vision. Er ist ein Erinnerungsort.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".