François-Auguste-René Rodin – Das Unvollkommene und Unvollendete als Daseinsprinzip

Der Denker, Rodin, Rodin-Museum, Quelle: Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig.

Als François-Auguste-René Rodin am 12. November 1840 in Paris geboren wird, ist die Stadt ein Ort ständiger Umwälzung. Er wird in eine Zeit technischer Revolutionen – Eisenbahn, Fotografie, Elektrizität und politischer Unsicherheiten – hineingeboren. Die Revolution von 1830 liegt kaum ein Jahrzehnt zurück, die Revolution von 1848 steht bevor. Künstler leben zwischen den Versprechungen der Moderne und den Schatten des Ancien Régime. Der Freidenker, der von Michelangelo sich magisch angezogen fühlt, trug die Pariser Luft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in sich – das Rauschen der Boulevards, die Aufbruchsstimmung der Dritten Republik, den Glanz und die Hektik der Weltausstellungen. Aber er arbeitete sich in seine Einsamkeit hinein, die ihn zugleich zu einem Außenseiter jenseits der Zeit werden ließ.

Zunächst lernte er bei den Brüdern des „Petit Séminaire“ in Beauvais, später an der „École Impériale Spéciale de Dessin et de Mathématiques“. Sein Blick galt anfangs nicht dem Ruhm, sondern der handwerklichen Präzision Er studiert heimlich Michelangelo – dessen Figuren voller Spannung sind – und ahnt: Schönheit ist nicht glatte Vollendung, sondern Ausdruck innerer Notwendigkeit.  Er bekennt: „In meinen Werken ist sicher etwas von dieser Leidenschaft zu spüren. Die Lieblingsthemen Michelangelos, die Tiefe der menschlichen Seele, die Heiligkeit des Leidens und des Strebens nach Überwindung sind unsagbar groß und hehr. Aber ich billige nicht seine Lebensverachtung. Wir müssen das Leben lieben.“ – Das Leben in seiner abgründigen Endlichkeit und in seiner Unvollendetheit.

Rodin ist kein Wunderkind wie Mozart, kein jugendlicher Meister wie Raffael. Er zeichnet, modelliert, arbeitet mit Ton – doch seine Versuche, an der École des Beaux-Arts aufgenommen zu werden, scheitern dreimal. Die Institution erkennt in seinen Entwürfen nicht den Keim einer neuen Epoche, sondern nur die Abweichung von der Norm. Man fand seine Technik roh, seinen Stil zu individuell, zu wenig dem Kanon verpflichtet. Doch aus dieser Demütigung erwuchs kein bitterer Rückzug, sondern eine Hartnäckigkeit, die sein gesamtes Werk prägen sollte. Rodin suchte die Wahrheit nicht im goldenen Maß, sondern in der Fuge zwischen Form und Empfindung, dort, wo das Vollkommene zu atmen beginnt, weil es unvollkommen bleibt. So wird die Ablehnung an der École für ihn keine Niederlage, sondern zur Befreiung, denn er muss nicht im Korsett des akademischen Klassizismus arbeiten. Sein Lehrmeister wird die Straße, das Atelier, der Steinbruch. Er reist nach Italien und Belgien, betrachtet die gotischen Kathedralen von Brüssel und Antwerpen und deren Skulpturen, die weniger von göttlicher Vollkommenheit als von menschlicher Inbrunst erzählen. Diese Eindrücke werden sein Werk prägen: Bewegung, Fragment, Pathos ohne Verklärung.

Die Geburt der Form aus dem Fragment

Seine frühen Arbeiten zeigen bereits, dass er das Vollendete misstrauisch betrachtete. Anders als die akademischen Meister, die den glatten Marmor zu einem Ideal polierten, ließ Rodin oft Reste des Rohblocks stehen. Aus dem unbehauenen Stein wuchsen Arme, Gesichter, Körperpartien hervor, als habe die Figur beschlossen, nur halb ans Licht zu treten. Hinter dieser Technik stand seine Philosophie: Die Skulptur war für ihn kein abgeschlossenes Objekt, sondern ein Ausschnitt aus einem Prozess. Das Fragment ist nicht Zeichen des Mangels, sondern für Lebendigkeit.

Wenn die menschliche Seele hingerissen zwischen Leid und Freude oszilliert, wenn das Denken einerseits Sinn schöpft und andererseits verzweifelt, so wird der Bildhauer Rodin zum Chronisten dieser Ambivalenz. Sein „Denker“ im Tympanon des Höllenportals ist kein Triumphator des Geistes, sondern ein Mensch, schwer von sich selbst, gekrümmt unter der Last des Bewusstseins. Der Muskelzug im Rücken, die gespannten Zehen, die gefurchte Stirn – all das erzählt von einer Anstrengung, die körperlich ist. Denken war für Rodin keine abstrakte Tätigkeit, sondern ein physischer Zustand, der den Körper ebenso formt wie jede Arbeit mit der Hand. Dieses Verständnis von Körper und Geist prägte seine Kunst, alle seine Figuren: den „Balzac“, dessen massiger Körper aus der Masse zu wachsen scheint wie aus einem dunklen, formlosen Urgrund; die „Bürger von Calais“, die nicht heroisch, sondern müde und gefasst dem Tod entgegensehen.

Das „Höllentor“ – Ursprung einer Obsession

1880 erhielt Rodin den Auftrag seines Lebens: Die französische Regierung wollte ein Portal für das geplante Musée des Arts Décoratifs. Sein Vorschlag, eine La Porte de l’Enfer, ein „Höllentor“ nach dem Vorbild von Dante Alighieris „Divina Commedia“ (Göttliche Komödie) zu schaffen. Rodin beginnt zu skizzieren, Tonmodelle zu formen, Figuren zu entwerfen – und das ehrgeizige Projekt wird bald jede andere Arbeit verschlingen. Obgleich das Museum nie gebaut wurde blieb er dem Werk als seiner Passion treu. Über Jahrzehnte hinweg, zwischen anderen Aufträgen und Skandalen, arbeitete er am „Höllentor“. Das Portal wuchs zu einem Mikrokosmos seiner gesamten Schaffenskraft: 186 Figuren, jede einzeln modelliert, in Gruppen verschränkt, von der Lust und vom Leid gleichermaßen verzerrt. Doch im Unterschied zum italienischen Supertalent des Mittelalters, der die Tore zu Renaissance und Humanismus schon aufgestoßen hatte, wählte Rodin für sein „Höllentor“ nicht das erlösende Paradies, nicht den Himmel Dantes, sondern verblieb beim Inferno, wo er Dutzende Figuren – ineinander verwunden, verdreht, gestürzt, ekstatisch und verloren – zeigt. Er versagt sich im Unterschied zu Dante den Sieg der Hoffnung am Ende seines langen Wegs durch „Inferno“ und „Purgatorio“ – durch „Hölle“ und „Fegefeuer“ – in das Paradies („Paradiso“) hinein.

Dante, Baudelaire und die Moderne

Rodin bewunderte Michelangelo, den Meister der gebannten Bewegung. Doch er verknüpfte dessen dramatische Körperauffassung mit dem Geist Charles Baudelaires, der das Erhabene im Hässlichen, das Göttliche im Sinnlichen suchte. Auch Dante blieb Zeit seines Lebens seines Lebens eine Inspirationsquelle, besonders die Szenen aus dem „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“. In einem Brief schrieb der 40-jährige Künstler: „Ich bin mit dem Studium des Dante’schen Werks beschäftigt. Bevor ich mit der eigentlichen Arbeit beginne, muss ich versuchen, mich in den Geist dieses bemerkenswerten Dichters hineinzuversetzen.“ Doch je länger er am „Höllentor“ arbeitete, desto mehr faszinierte ihn die Bildsprache Baudelaires und er tauchte in dessen Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ ein.

So wird das „Höllentor“ selbst in den transformatorischen Prozess hineingenommen, wird für Rodin nicht zu einem bloßen Abbild der Dichtung, sondern entwickelte sich zu einem eigenständigen Kosmos. So zeigt sein Tor keine Hölle voller Folterknechte, sondern eine der Erkenntnis: Menschen, die die Endlichkeit ihrer Existenz begreifen und dennoch weiter atmen, weiter begehren, weiter lieben. Es ist ein Spiegel des 19. Jahrhunderts, das an seinen eigenen Fortschritten zweifelt.

Im Zentrum, über den wogenden Körpern, sitzt der „Denker“. Ursprünglich wollte Rodin Dante selbst darstellen – den Dichter, der auf sein Werk blickt. Doch der Bildhauer entkleidete ihn dieser Rolle, ließ ihn nackt zurück, als Essenz des Denkens. Der „Denker“ ist kein Regisseur seiner Figuren, sondern ihr Bruder. Er beugt sich über das Chaos, als könnte er es begreifen, und weiß doch, dass es ihn ebenso umfasst. Diese Ambivalenz – Nähe und Distanz zugleich – macht ihn auch zu einer Ikone des 21. Jahrhunderts.

In den Bronzefiguren mischen sich antike Anmut und baudelairesche Schwermut. Baudelaires Meisterwerk, die „Blumen des Bösen“ hatten ihn tief geprägt – dort fand er nicht die Verheißung des Himmels, sondern die Schönheit des Abgrunds, die Verführung des Verfalls. Die Hölle, die Rodin formte, ist nicht strafende Instanz, sondern menschliche Erfahrung: das Gefühl des Getrenntseins, der unerfüllten Sehnsucht und des unausweichlichen Endes.

Fragmentarische Antike

Rodin war ein Liebhaber der Antike, aber nicht ihres Vollendungsmythos. Er suchte die Bruchstücke, die Torsohaftigkeit, die Spuren der Zeit. In den Fragmenten sah er lebendige Zeugnisse eines Prozesses, der nie abgeschlossen ist. Er selbst war kein Klassizist, sondern ein Archäologe der Seele. Was ihn an der Antike faszinierte, war nicht die Perfektion, sondern die Unvollständigkeit, die Bruchstücke, die Ruinen. Auch das „Höllentor“ trägt diese Handschrift. Viele Figuren sind nur teilweise ausmodelliert, andere wirken wie herausgebrochen und neu eingefügt. Die Oberfläche lebt von Brüchen, Übergängen, vom Wechsel zwischen glatter Bronze und rauer Struktur.

Camille Claudel – Leidenschaft und Zerstörung

In den 1880er Jahren tritt Camille Claudel in Rodins Leben. Sie ist jung, leidenschaftlich, hochbegabt. Zunächst Schülerin, bald Geliebte, schließlich künstlerische Rivalin.

Sie inspiriert ihn, formt mit ihm, arbeitet an seinen Projekten, schafft zugleich eigene Meisterwerke. Doch die Leidenschaft, die ihre Kunst beflügelte, wurde zum Gift für ihr Leben, die Beziehung von Eifersucht, Machtgefällen und künstlerischem Wettbewerb durchzogen. Der Bruch ist heftig. Claudel zieht sich zurück, verfällt psychisch, wird von ihrer Familie in eine psychiatrische Klinik gebracht – wo sie über 30 Jahre isoliert lebt, bis zu ihrem Tod. Rodin überlebt sie, aber der Schatten dieser Tragödie bleibt. Manche sehen in den leidvoll verdrehten Gestalten des „Höllentors“ eine stille Anspielung auf diesen Verlust.

Stille Spiritualität

Rodin selbst war kein Kirchgänger, doch seine Arbeit trägt eine stille Spiritualität. In einem Gespräch über Religion und Kunst erläutert der Bildhauer: „Religion ist das Gefühl für alles, was in der Welt unerklärt und zweifellos auch unerklärlich ist. Sie ist die dunkle Ahnung all dessen, was weder unser leibliches noch geistiges Auge erschauen kann. So dringen alle Meister bis zu der verschlossenen Pforte vor, die ins Unergründliche führt.“ Für Rodin lag das Göttliche nicht in den ewigen Formeln, sondern in der schöpferischen Handlung selbst. Diese Haltung liegt auch dem „Höllentor“ zugrunde. Es ist weniger ein Ort der Verdammung als eine Schwelle zur Selbsterkenntnis. Wer davorsteht, sieht nicht das Feuer, sondern einen Spiegel.

Als Rodin 1917 starb, hatte sich die Kunstwelt längst anderen Strömungen zugewandt – Kubismus, Futurismus, Abstraktion. Doch sein Werk überdauerte, nicht zuletzt durch das Musée Rodin, das in seinem ehemaligen Atelier eingerichtet wurde. Dort steht das „Höllentor“ in mehreren Gussfassungen – nicht als dekorative Fassade, sondern als Mahnung und Einladung zugleich. Rodins Idee, dass Kunst nicht Ornament, sondern Offenbarung ist, ist geblieben.

Der Prophet des Unvollendeten

Rodin hat den Stein nicht besiegt, er hat ihn befragt. Er hat ihn geöffnet wie ein Buch, dessen Seiten weder Anfang noch Ende kennen. Das „Höllentor“ ist der stärkste Ausdruck dieser Haltung: ein Tor, das niemand durchschreitet, weil seine wahre Öffnung im Inneren liegt. Er bleibt damit der Prophet des Unvollendeten – ein Künstler, der das Fragment nicht fürchtete, sondern liebte, weil es dem Leben ähnlicher ist als jede Vollendung. Und genau dieser Sinn fürs Unvollendete macht ihn gerade heute so modern. Längst vergangen sind die Zeiten, wo die Ausgangs- und Endpunkte aller Lebensbewegungen noch vorgezeichnet sind, wo die Sinnfragen des Menschen ihren festen Grund in einer göttlichen Schöpfungs- und Heilsordnung hatten. Nur bis zur verschlossenen Pforte, die ins Unergründliche führt, kann der Mensch Rodin vordringen und sich die Frage nach dem Sinn allen Seins stellen, die Frage, was letztendlich dahinterliegt, bleibt unbeantwortet. „Die Werke der Kunst sagen zwar alles, was man über den Menschen sagen kann, machen aber außerdem begreiflich, dass es noch etwas gibt, das man nicht erkennen kann. Man findet in ihnen immer etwas, das schwindelig macht.“ Dieses Schwindlige aber gilt es auszuhalten – die menschliche Unvollkommenheit lässt sich nicht transzendieren. Aber die Kunst“, so schreibt er einmal, „enthüllt den Menschen den Sinn ihrer Existenz. Es ist wie ein Sprudeln intellektueller Kräfte, das in vielfachen Kaskaden herunterfällt, bis es das große stets bewegte Gewässer bildet, das den geistigen Zustand einer Zeit darstellt.“

Rodins „Höllentör“ war damals so wenig aus der Zeit gefallen wie heute. Im Angesicht von Krieg, Verbrechen, Mord und Gewalt, einer Welt im Flammenmeer, zeigt es doch den Menschen in seiner Verfallenheit und Erlösungsbedürftigkeit. Es heute neu zu lesen bedeutet, auch wieder mehr auf sich zu reflektieren; das Denken gegen die Not zu entfachen und sich bewusst zu sein, dass das Endliche nur Fragment ist. Doch dieses Fragmentarische des Daseins anzuerkennen, bedeutet zugleich, gegen die Absurditäten des heutigen Weltenfeuers anzustreiten, sich den Spiegel dieser Hölle vorzuhalten. Rodin bleibt mit seiner Schöpfung vom „Höllentor“ auch im 21. Jahrhundert zuhöchst modern, denn die Welt hat sich zwar geändert, aber die großen Leiden sind geblieben.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".