Selten wurde die Genese dessen, was wir heute unter Studentenverbindung subsummieren, in einer solchen Klarheit dargestellt wie in diesem Band. Martin Dossmann, Hochschullehrer aus Mainz und Vorsitzender des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, klärt nicht nur die Herkunft des Corpsstudententums, sondern prinzipiell dasjenige aller Verbindungen, denn aus der studentischen Gesellung nach altlandmannschaftlicher Art entsprossen letztlich, jede in ihrer Art, die burschenschaftliche, neulandsmannschaftliche, turnerschaftliche, katholische, evangelische, jüdische und speziell für Ingenieure ausgerichtete Richtung, um nur die wichtigsten zu nennen. Deswegen ist dieses Buch so wichtig. Für alle, die Band und Mütze zu schätzen wissen – und eben auch für alle, die das Tragen von Band und Mütze vehement ablehnen.
Der durch Dossmann vorgelegte Band ist der Auftakt einer Trilogie zur Geschichte der Guestphalia Bonn. Zu Beginn unternimmt der Autor einen knappen Ausflug bis in die frühe Neuzeit, denn die Idee der Studenten, sich in eigenen Körperschaften zu organisieren, ist so alt wie die Universitäten selbst. Und ganz nebenbei – die Idee der „Burschenschaft“ ist eine ganze Generation jünger als die altlandsmannschaftliche Verbindung von Studenten untereinander, ohne die Anleitung durch die Universität. Man wollte privat sein, unpolitisch – im Gegensatz zur Burschenschaft, die unter dem Druck politischer Wirren in der napoleonischen Zeit eher so etwas wie ein AStA des frühen 19. Jahrhunderts war. Auch wenn das heutige Studentenvertreter nicht immer gern hören.
All dies stellt Dossmann in seinem Band an seinen richtigen Platz im Rahmen der europäischen Universitäts- und Bildungsgeschichte. Und nach dem, was dieser erste Band verspricht, könnte dieses Corps, das seine geistigen Wurzeln glaubwürdig beim Hallenser Guestphalen-Kränzchen von 1789 und dem Westphälinger-Kartell von 1799 verortet, mit seiner Trilogie zum Vorreiter werden in einer neuen und klareren Art, die Idee der Studentenverbindung allgemein und der Corps speziell darzustellen. Er gibt zunächst Hinweise darauf, warum es gerade die Westfalen waren, die sich besonders stark landsmannschaftlich organisierten. Weil eine Landesuniversität fehlte, wie etwa Heidelberg für das Herzogtum Baden, mussten sie sich die akademischen Weihen in der Fremde holen. Bald schon taten es ihnen die Zöglinge aus anderen mitteleuropäischen Staaten nach. Zur eigenen Sicherheit schlossen sie sich zusammen – zu Landsmannschaften, voilà.
Auch die starke Wurzel der Studentenorden weiß Dossmann zu beschreiben – Verschwiegenheit gehörte als Prinzip ebenso dazu wie die lebenslange exklusive Zugehörigkeit, die heute am ehesten mit einem Einbandprinzip, das nur noch wenige Corps praktizieren, zu umschreiben wäre. Damit waren automatisch auch die Umrisse für das gesetzt, was wir als Altherrenschaft kennen. Keinesfalls weniger bedeutend war, was die Kränzchen zur Idee des heutigen Verbindungswesens beizutragen hatten, so etwa die Art der Versammlung von Convent bis Kneipe und der starke Bezug zu den demokratisch-revolutionären Ideen der Französischen Revolution. Vor allem für Studentenhistoriker stellt die Bebilderung des ersten Bandes der großen Bonner Westfalengeschichte Erbauung und Fundgrube zugleich dar.
So gelingt Dossmann insgesamt ein interessanter Beginn und ein fulminanter Einstieg. Ab Seite 53 kommt nach dieser höchst interessanten Umschau dann die Bonner Guestphalia ab ihrer Stiftung im März 1820 ins Spiel, die im übrigen durch die Westfalen selbst erst für den 18. Mai 1820 offiziell vermerkt ist. Die Allgemeingeschichte kommt jedoch auch hier keinesfalls zu kurz, denn äußerst geschickt versteht es Dossmann, die fehlende Aktendichte der frühen Jahre durch flankierende Fakten aus der Geschichte der Bonner Universitätsgeschichte zu untermauern.
Eine ganze Reihe von Abbildungen, die zum Teil noch nicht öffentlich zu sehen waren, lockert den Text dieses höchst faktenreichen Buches auf und ergänzt ihn zugleich wirkungsvoll. Ausführlich behandelt Dossmann die Konstitution seiner Guestphalia, doch bereits ab den ersten Jahren ist auch von studentischem Unfug größeren Ausmaßes zu lesen, der aber als Ausdruck der Lebensfreude, nicht etwa von Überheblichkeit zu sehen ist. Und ab Seite 88 folgte eine solide und ebenfalls von jedweder Hybris freie Darlegung, warum der Ursprung für die heutigen Farben des Landes Westfalen, das bekanntlich einen Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen darstellt, beim Westphälingerkartell von 1799 zu suchen ist.
Die folgenden Jahrzehnte ordnet Dossmann sauber und chronologisch. Diese Abschnitte sind stark prosopographisch geprägt und führen den Leser Stück für Stück hinein in die Kaiserzeit, zum Glanz des Wilhelminismus, zum Kriegselend ab 1914 mit nachfolgender französischer Besetzung des Rheinlandes, wozu naturgemäß auch Bonn gehörte. Warum aus dieser Zeit, die letztlich erst 1926 wirklich endete, praktisch umgehend ein politischer Radikalismus erwuchs, gegen den die Corps als unpolitische Verbindungen weder Mittel hatten noch diese Mittel haben wollten, wird so überzeugend dargelegt, dass es eines Fachhistorikers nicht bedurfte, denn Dossmann ist von Hause aus Jurist. Knapp, aber völlig klar wird schließlich das Aufkommen des Antisemitismus auch in den Corps erklärt. Beschönigt wird nichts. Weil es nichts zu beschönigen gibt.
Ein ausführlicher Anhangteil macht den Band für Wissenschaftler ebenso gut nutzbar wie für Corpsstudenten, die nach weiterführendem Wissen streben. Von der Zeittafel bis zum ausführlichen Quellenverzeichnis ist alles da. Wesentliche Teile der Geschichte der Guestphalia sind in diesem Band abgehandelt. Man darf gespannt sein, welche Inhalte es – abgesehen von den unseligen Jahren des Nationalsozialismus – sein könnten, mit denen zwei weitere, große Bände gefüllt werden sollen. In Bälde wird man’s sehen. Schon dieser erste Band weist in Qualität und Umfang weit über eine klassische Corpsgeschichte hinaus, er ist schlichtweg eine corpsstudentische Universalgeschichte und sei deswegen allen Historikern empfohlen – und zwar durchaus nicht nur denjenigen unter ihnen, die für Studentengeschichte spezialisiert sind.
Martin Dossman: Ein Bonner Corps in der Zeit zwischen den Karlsbader Beschlüssen und dem Ende der Weimarer Republik. Geschichte der Guestphalia Bonn 1820 – 1933, Göttingen 2025, geb., 510 Seiten, zahlreiche Abb. s/w, ISBN 978-3-8471-1871-8, 70 Euro.
