Kleine Schritte statt großer Gesten

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Warum gelingt es nicht, die Bürger in ausreichender Zahl für Reformen zu gewinnen, die erforderlich sind, um das Land angesichts der Krisen und Herausforderungen unserer Gegenwart wieder auf ein solides Fundament zu stellen? Warum scheint es stattdessen immer schwieriger zu werden, über die dafür zu klärenden Themen überhaupt eine konstruktive öffentliche Debatte zu führen? Diese Fragen stellen sich viele Beobachter von Politik und Gesellschaft nicht erst seit gestern.

Es liegt an einem unzulänglichen Verständnis gesellschaftlicher Prozesse und dementsprechend an untauglichen, teils nachgerade kontraproduktiven Versuchen politischer Steuerung und Kommunikation mit erheblichen Kollateralschäden: der Flucht aus den schwierigen Sach- in die leichter zu bewirtschaftenden Identitätsdebatten und dem Erstarken des vornehmlich rechten Populismus. Es werde allzu sehr um Gesten statt in der Sache gestritten.

So etwa könnte man in äußerster Verknappung die These des Münchner Soziologen Armin Nassehi in seinem Essay „Kritik der großen Geste“ zusammenfassen. Doch wie ginge es besser? Im Titel „Kritik der großen Geste“ ist sein Lösungsvorschlag bereits enthalten: Es seien die kleinen Schritte als evolutionäre Form, in denen die Gesellschaft sich entwickeln könne; und zwar Schritte, die nach den Eigenlogiken und mit den entsprechenden Mitteln gesellschaftlicher Teilbereiche – also zum Beispiel: Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Rechtsstaat, Religion – auch umsetzbar sind.

Ziele setzen, die Menschen machen lassen, sie dazu befähigen und eine Katastrophenrhetorik beenden, die ihre jeweils erkannten Notwendigkeiten mit den realen Möglichkeiten verwechselt. Politische Feinsteuerung nach Blaupausen vom grünen Tisch, flankiert von Appellen der „räsonierenden Milieus“ an Moral und wissenschaftlich gestützte Vernunft hält Nassehi für vergebliche Liebesmüh. Am Ende muss auch die von ihm der Anschaulichkeit halber eingeführte Durchschnittsfamilie mit den Ergebnissen von Veränderungen zurechtkommen und sie in ihre komplexen Lebensbezüge einbauen können.

Die mit der Soziologie nicht näher vertrauten Leser erwarten 224 Seiten erkenntnisreiche Lektüre, selbst wenn Nassehi den Anspruch, in dieser Veröffentlichung weitgehend allgemeinverständlich zu formulieren, nicht durchgängig einlösen kann. Hinterher versteht man besser, warum man über gesellschaftliche Transformation nicht so nachdenken oder gar kommunizieren sollte, wie es bisher der Fall ist. Jedenfalls dann nicht, wenn man Ziele erreichen, also nicht immer mehr Widerstände erzeugen und den Populismus mästen will. Beispiele wählt der Verfasser aus der Klimapolitik, ohne die Gültigkeit seiner Argumente auf diesen Anwendungsfall begrenzen zu wollen.

Einige der in den 16 Kapiteln wiederkehrende Grundgedanken seien erwähnt: „All die starken Transformationsnarrative“ träfen auf eine Welt, „die schon da ist“, konstatiert Nassehi eingangs, um die soziale Ordnung und ihre Funktionsweisen dann genauer in den Blick zu nehmen. Die Gesellschaft sei, wie er nicht müde wird zu betonen, nicht „aus einem Guss“ und in diesem Sinne auch nicht als Ganzes, als ein „Wir“ oder als „Kollektiv“ adressierbar. Ihre Akteure haben, wie schon ausgeführt, je eigene Aufgaben, Ziele, Erfolgsmaßstäbe, Möglichkeiten, Perspektiven, und sie finden darin auch ihre Grenzen. Alle Entscheidungen seien „in den Routinen einer Gesellschaft“ verstrickt, „deren interne Differenzierung in unterschiedliche Funktionen, Problemlösungskonzepte und Perspektiven einerseits Grundlagen ihrer Leistungsfähigkeit ist, andererseits Ursache ihrer Unfähigkeit, auf kollektive Herausforderungen kollektiv zu reagieren“.

Wird das Ganze, das „Wir“ denn nicht durch das politische System abgebildet oder zumindest gebildet? So könnte man zurückfragen. Nein, denn es folgt ebenfalls einer Eigenlogik und den damit verbundenen Limitationen. „Das politische System kann unmittelbar – mit verteilten internen Rollen und Teilfunktionen – auf die eigenen Formen zugreifen, aber nur indirekt auf andere Formen. Das Ökonomische reagiert ökonomisch auf politische Eingriffe, wie das Rechtssystem politische Eingriffe, etwa Rechtsetzung, mit eigenen Mitteln verarbeitet“, so Nassehi. Es gebe in der Gesellschaft „keinen Ort“, von dem aus sie harmonisiert werden könne.

Das politische System lässt sich gegen seine eigenen Funktionsbedingungen genauso wenig verändern wie andere gesellschaftliche Funktionssysteme auch. Das gelte gerade in demokratischen Politiksystemen. Das hat Folgen. Zunächst die, „dass sie politische Handlungsoptionen auf das Durchsetzbare und Problemformulierungen auf das Lösbare beschränken“. Zudem sieht Nassehi die politischen Akteure um die Verteilungskonflikte einer entwickelten Industriegesellschaft herum gruppiert; die sozialen und seit einigen Jahrzehnten zumindest teilweise auch die identitätspolitischen oder identitären, in denen es um Anerkennung und Sprecherpositionen geht. Damit bewegt sich die Politik nicht auf der Höhe der Herausforderungen.

Recht ausführlich werden kategoriale Unterschiede mit dem Erkenntnisinteresse erörtert, ob die Gesellschaft sich an den falschen Konflikten oder den richtigen Konflikten falsch abarbeitet: zwischen Verteilungs- und Zielkonflikten, Meinung und Argument, Sachfragen – Was-Fragen – und den kulturkämpferischen Identitäts- und Anerkennungsfragen – den Wer-Fragen. Die Abgrenzungsversuche zwischen Letzteren überzeugen nicht durchgängig. Nachvollziehbar ist, dass Verteilungsfragen identitätspolitisch aufgeladen werden, sich rechte wie linke Identitätspolitiken teilweise verselbständigt haben und zu kurz springt, wer Zielkonflikte vornehmlich als Verteilungskonflikte deutet und verarbeitet.

Weniger plausibel erscheint der Versuch, die Identitäts- und Anerkennungsfragen so weit als möglich aus dem Bereich der Sachfragen heraus zu definieren, in ihnen gar eine Art Ersatzhandlung zu sehen, weil rechte wie linke Akteure auf der Sachebene scheiterten; die entscheidende Stoßrichtung geht dabei gegen die rechten. Es leuchtet nicht ein, warum beispielsweise die Abhängigkeiten der Arbeitsmärkte einerseits oder der inneren Sicherheit andererseits von der Ausgestaltung der Migrations- und Integrationspolitik nicht in den Bereich der Sachfragen fällt – und diese sich umso sachgerechter bearbeitet lassen, je angemessener dabei kulturelle Prägungen im Blick behalten werden. Dabei geht es um Anderes als die in der Tat zu kritisierende Bewirtschaftung kulturellen Ressentiments.

Was man unter anderem in diesem Bereich im übertragenen und direkten Sinne sieht – Friedrich Merz´ missverständliche Stadtbild-Einlassung fügt sich als eher anekdotisches Beispiel ein – gehört auch zu den sogenannten Visibilisierungserfahrungen, die für Nassehi zu den Hauptursachen des ausgeprägten Krisenbewusstseins unserer Gegenwart gehören: Es lässt sich nicht mehr übersehen, dass das Funktionieren westlicher Gesellschaften in vielerlei Hinsicht äußerst voraussetzungsreich ist, diese Voraussetzungen massiv unter Druck stehen und als fragil erscheinen. Warum ist in den letzten Jahren sichtbar geworden, was bis dahin kaum thematisiert worden ist, aus einzelnen warnenden Stimmen ein ganzer Chor geworden? Den einen Grund gibt es auch hier nicht, aber Faktoren: etwa den sedierenden Politikstil Angela Merkels, die Rhetorik der Dringlichkeit, die veränderte Medienlandschaft, populistische Strategien, zu benennen, was andere vermeintlich nicht sehen oder benennen wollten.

Breiten Raum nehmen die Überlegungen dazu ein, wie man in diesem Umfeld zuverlässig falsch kommuniziert und warum das so ist. Sie laufen auf den Punkt zu, dass man in einer horizontal geordneten Gesellschaft mit ihrem geschilderten Nebeneinander nicht vertikal argumentieren könne, was aber fortlaufend geschieht: von oben nach unten, monokausal, aus der Binnenlogik einer Perspektive, damit unterkomplex und im Ergebnis meist wirkungslos. Jene, die sich damit zufrieden gäben, „das richtige zu wollen“, zeiht er der „Denkfaulheit“. Und: „Einen eindeutigen und trivialen Schluss von der Notwendigkeit auf die Möglichkeiten gibt es nur in bekenntnisförmigen Texten.“

Ein angesichts der Gesellschaftsanalyse naheliegender weiterer und hier als letzter genannter Aspekt ist die Perspektivendifferenz. Der Münchner Soziologe betrachtet sie nicht als Hindernis oder Schwäche, die es im Geiste von „Harmoniekonzepten“ so weit als möglich auszuschalten gilt, sondern als zu kultivierende Stärke. Er verweist auf die Volksrepublik China und Singapur als Beispiele für entsprechende Konzepte. Der gedankliche Ausgangspunkt macht den wesentlichen Unterschied: Während dort vom Ganzen oder der Ordnung her gedacht wir, geschieht dies in den westlichen Gesellschaften vom Einzelnen aus. Die demokratischen Kosten politischer Harmonisierungsversuche benennt Nassehi in einem prägnanten Satz: „Ein starkes Wir muss entweder das Sprechen eingrenzen oder die Störenden ausgrenzen.“

Trotz dieser Einsicht findet das Werben für die Perspektivendifferenz dort ihre Grenzen, wo es um den Rechtspopulismus, konkret: die AfD geht. Dass ist dieser Essay eben auch durchgängig: ein Versuch, durch ein tieferes Verständnis der Gesellschaft und bessere Politik, diesen „Störenden“ zumindest das Wasser abzugraben. Dafür kann man gute Gründe ins Feld führen, im Sinne der gewählten soziologischen Perspektive ist es jedoch inkonsequent und im Ergebnis politisch höchstwahrscheinlich kontraproduktiv. Die Zukunft wird es weisen. Wer den „Was“- und „Wie“-Fragen eine Gasse schlagen will, sollte den Fluchtweg in die „Wer“-Fragen möglichst abschneiden. Unbeschadet dieses Einwands lohnt die Lektüre dieses klugen Buches.

Armin Nassehi: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 11211), Bonn 2025, 224 Seiten, Paperback, 5,- Euro zzgl. Versandkosten (Buchhandelsausgabe: München: C.H.Beck 2024, 18,- Euro)

Karl-Eckhard Hahn

Über Karl-Eckhard Hahn 29 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker und Publizist; Leitender Ministerialrat a.D. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. X: @KE_Hahn.