Am 4. Dezember 1975 ist Hannah Arendt in New York gestorben. Sie zählt zu den bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhundert. In Hannover wurde sie am 14. Oktober 1906 als Tochter jüdischer Eltern geboren. Vom dritten Lebensjahr an ist sie in Königsberg aufgewachsen. Bereits als Jugendliche war sie der Philosophie zugeneigt. Mit 14 Jahren las sie die „Kritik der reinen Vernunft“ des berühmten Königsberger Philosophen Immanuel Kant. „Die Psychologie der Weltanschauungen“ von Karl Jaspers war ihre philosophische Lieblingslektüre im Jugendalter. Ihn lernte sie im Jahr 1926 als Philosophiestudentin und Doktorandin persönlich kennen. Beide verband eine intensive Freundschaft, die bis zu dessen Tod im Jahr 1969 anhielt. Sie war über viele Jahre mit berühmten jüdischen Philosophen befreundet, z.B. mit Kurt Blumenfeld, Gershom Scholem und Hans Jonas. Mit dem verheirateten Martin Heidegger hatte sie als 18jährige Studentin eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die sie in schwere Konflikte brachte und die sie schließlich durch einen Studienortwechsel von Marburg nach Heidelberg beendete. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es eine hochambivalente Wiederannäherung von Hanna Arendt zu Martin Heidegger hin. Sie reiste von Amerika zu ihm nach Freiburg.
Hannah Arendts Vater ist früh in Königsberg gestorben, als sie 7 Jahre alt war. Im Jahr 1933 ging sie wegen ihrer jüdischen Herkunft ins Exil – zuerst nach Frankreich, im Jahr 1941 in die USA. 14 Jahre lang galt sie als staatenlos, bis sie schließlich im Jahr 1951 die amerikanische Staatsangehörigkeit erhielt. Mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher, der mit ihr in die USA emigrierte, war sie von 1940 bis zu seinem Tod 1970 verheiratet. Sie selbst ist fünf Jahre nach ihm gestorben.
Hanna Arendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschien vor 70 Jahren in deutscher Sprache
Ihr Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schrieb sie in den Jahren 1948 und 1949 in New York. Es ist zuerst in englischer Sprache unter dem Titel „The Origins of Totalitarianism“ erschienen. Die erste von ihr selbst bearbeitete deutschsprachige Fassung erschien im Jahr 1955 in der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main und hatte einen Umfang von fast 1000 Seiten. Bis zur dritten Auflage im Jahr 1966 überarbeitete und erweiterte Hannah Arendt jeweils ihr Werk. Heute liegt es im Piper-Verlag in der 14. Auflage von 2011 vor. In der Kritischen Gesamtausgabe im Wallstein-Verlag wird der entsprechende Band demnächst erscheinen.
Das Gesamtwerk ist in drei Teile gegliedert: Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft. Während die beiden ersten Teile sehr historisch geprägt sind, geht es im dritten Teil um die beiden totalitären Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts – den Nationalsozialismus und den sowjetischen Stalinismus. Was Adolf Hitler und Joseph Stalin als die totalitären Herrscher, Diktatoren oder Tyrannen auszeichnet, sei nach Arendt eine spezifische Führerschaft, die keinen Kompromiss und keine Koexistenz kennt, sondern Terror, Grausamkeit und absolute Unterwerfung. Die Stärke von Arendts Werk ist die Analyse, wie der totalitäre Herrscher an die Macht kommt, wie er das Volk manipuliert und wie er Massenbewegungen und Propaganda für seine Zwecke einsetzt. Er zerstört subtil die Strukturen der Demokratie und verändert die Rechtsordnung sukzessive für seine Zwecke. Doch was macht die Menschen so anfällig und verführbar für totalitäre Herrscher? Hierzu gibt Hanna Arendt folgende Antwort:
„Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt, …ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen…Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt.“
(Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper 2011)
Die Aktualität von Hannah Arendts Hauptwerk zeigt sich in Untersuchungen, die Arendts Erkenntnisse auf zeitgenössische Autokraten wie Donald Trump und Wladimir Putin anwenden. Wo zeigen sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zu Adolf Hitler und Joseph Stalin?
Plädoyer für Demokratie und Freiheit
Hannah Arendt war in ihrem persönlichen Leben stark betroffen durch den Verlust von Freiheit und Demokratie. Die totale Herrschaft durch den Nationalsozialismus zwang sie zur Flucht und ins Exil. Sie verlor ihre Heimat und für sie wichtige Beziehungen. In ihren politischen Schriften betonte sie Freiheit und Demokratie als Grundvoraussetzungen für ein gutes Leben. Für sie war es wichtig zu erkennen, wodurch Freiheit und Demokratie gefährdet sind und wie die gesellschaftlichen Prozesse ablaufen, die solche Gefahren vergrößern. Propaganda, Missbrauch von Medien, populistische und rassistische Tendenzen, Aufhebung der Gewaltenteilung und Manipulation der Justiz sind solche Mechanismen. Demokratie und Freiheit müssen nach Hannah Arendt immer wieder neu erkämpft werden und haben ihren Preis. Ohne verantwortungsbewusste und engagierte Bürger mit Zivilcourage und Wahrheitsliebe sei dies nicht zu leisten.
„Die Banalität des Bösen“ – Reportagen vom Eichmann-Prozess in Jerusalem
Von April bis Juni 1961 war in Jerusalem der Prozess gegen den Nazi-Funktionär Adolf Eichmann. Hannah Arendt reiste als Prozessbeobachterin und Reporterin für die amerikanische Zeitschrift „The New Yorker“ nach Jerusalem. Ihre laufenden Berichte wurden in dem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ zusammengefasst (engl. 1963, deutsche Übersetzung 1964 im Piper Verlag). Die Philosophie-Professorin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, Susan Neiman, hält dieses Buch „für eines der wichtigsten Bücher der Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig für den größten philosophischen Entwurf einer modernen Theodizee“ (Neiman 2004,2006). Hannah Arendt wollte die Legende von der dämonischen Macht des Bösen widerlegen und deutet das Böse nicht als tief und radikal, sondern als oberflächlich und banal. Das Böse komme aus einer Verflachung und einem Mangel an Überlegung und Denken. Es sei organisiert und viele Menschen seien involviert, wenn es geschieht. Für sie war Eichmann ein „Hanswurst“, der blind und gedankenlos Befehle ausführte, ein Logistiker des Todes, der als Schreibtischtäter die Konzentrationslager und Gaskammern mit Opfern befüllte.
Das Eichmann-Buch löste eine heftige Kontroverse aus. Hinzu kam eine Kritik Arendts an der unheilvollen Verstrickung der Judenräte im Holocaust. Beides führte dazu, dass sich sehr gute jüdische Freunde wie Gershom Scholem, Kurt Blumenfeld und Hans Jonas von ihr abwandten. Während Scholem ihr bis zu ihrem Lebensende die bisherige Freundschaft verweigerte, kam es mit Hans Jonas zu einer Wiederannäherung und er hielt für sie die Trauerrede.
„Die Banalität der Liebe“ – Die Liebesbeziehung mit Martin Heidegger
Zum Wintersemester 1924/1925 begann die 18 Jahre alte Hannah Arendt an der Universität Marburg ein Studium der Philosophie, Theologie und der griechischen Philologie. Dort hörte sie Vorlesungen von Martin Heidegger und bereits nach wenigen Wochen entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen beiden. Der 17 Jahre ältere Heidegger war verheiratet und die leidenschaftliche Liaison musste streng verheimlicht werden. Die Konflikte der Dreiecksbeziehung nahmen im Verlauf deutlich zu, so dass sich Hannah Arendt im Jahr „zur Flucht“ entschloss – sie wechselte an die Universität Heidelberg, um dort bei Karl Jaspers ihr Studium fortzusetzen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste Hannah Arendt wiederholt nach Europa und traf sich mehrmals mit Heidegger. Die Gefühle und die Zuneigung flammten wieder auf. Hannah Arendt kam nun in Konflikt mit dem befreundeten Karl Jaspers. Jaspers und Heidegger waren vor der Naziherrschaft befreundet. Da Jaspers mit einer Jüdin verheiratet war – ein Lehr- und Schreibverbot erhielt und lange als Verfolgter eine Deportation ins KZ befürchtete, zerbrach die Freundschaft mit dem Nazi-Verehrer Heidegger und es entwickelte sich eine kalte Feindschaft. Nun war Hannah Arendt in einem doppelten Beziehungsdreieck verstrickt – die durch die Eifersucht von Heideggers Ehefrau Elfride geprägte Dreiecksbeziehung „Hannah Arendt – Elfride und Martin Heidegger“ und das Beziehungsdreieck „Hannah Arendt-Karl Jaspers-Martin Heidegger“.
Diese Konflikt-Konstellation zwischen den beteiligten Personen blieb bis zu ihrem Lebensende bestehen. Hannah Arendt äußerte sich in ihrem posthum herausgegebenen „Denktagebuch“ auch kritisch über Martin Heidegger, pflegte ihm persönlich gegenüber aber weiterhin die Freundschaft. Im Jahr 1969 gab es in den Beziehungsdreiecken Veränderungen: im März 1969 ist Karl Jaspers gestorben und im September 1969 wurde Martin Heidegger 80 Jahre alt. Hannah Arendt hielt für ihn eine Rede im Bayerischen Rundfunk.
Über die Beziehung von Hannah Arendt und Martin Heidegger ist sehr viel publiziert worden (Übersicht bei Csef & Donner 2018, Csef 2021). Die Arendt-Expertin Antonia Grunenberg schrieb 2006 eine ausführliche Doppel-Biografie über die beiden Philosophen (Grunenberg 2006).
Zwei wichtige Ereignisse warfen in den letzten Jahrzehnten ein neues Licht auf die geheimnisvolle Beziehung von Hannah Arendt und Martin Heidegger. Im Jahr 1998 wurde ihr Briefwechsel herausgegeben. Im Januar 2018 wurde in Regensburg eine Oper über das Liebespaar uraufgeführt. Sie trägt den Titel „Die Banalität der Liebe“. Die drei Hauptakteure bei der Entstehung dieser Oper stammen aus Israel. Das zugrundeliegende Theaterstück mit dem gleichlautenden Titel verfasste die Dramatikerin Sayvon Liebrecht. Die Komposition der Oper erfolgte durch die in Haifa geborene Ella Milch-Sheriff. Als Regisseur der Uraufführung fungierte Itay Tiran. Die Komponistin sah Hannah Arendt auf der Anklagebank, eine tragische Figur im Konflikt zwischen zwei Völkern, dem deutschen und dem jüdischen. Der Regisseur Tiran deutete Arendt als einen „weiblichen Faust“ – verstrickt zwischen Wissensgier und Leidenschaft.
Das Geheimnisvolle der fast 50 Jahre dauernden Beziehung zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger ist geblieben. Offen bleibt die Frage, aus welchen inneren Motiven die gereifte und kluge Hannah Arendt, als verfolgte und ins Exil geflüchtete Jüdin die Wiederannäherung an den Nazi-Verehrer Martin Heidegger aktiv suchte. Die Dichotomie von Opfer-Täter-Beziehungen ist offensichtlich in Liebesbeziehungen eine ganz andere als im politischen Kontext. Freiheit, die für Hannah Arendt im Politischen einen höchsten Wert darstellt, war in ihrem Liebesleben ambivalent oder erheblich eingeschränkt. War Hannah Arendt dem ehemaligen Geliebten Martin Heidegger gegenüber frei oder abhängig? Welche Wurzeln hatte eine mögliche Abhängigkeit?
Wichtige Neuerscheinungen zum 50. Todestag
In mehreren Medien war anlässlich des 50. Todestages von Hannah Arendt zu lesen, sie sei aktuell die meistzitierte Philosophin der Welt. Die Sekundärliteratur ist selbst für eingefleischte Arendt-Experten mittlerweile derart umfangreich, dass sie als nicht mehr überschaubar gelten muss. Der Wikipedia-Eintrag zu Hannah Arendt (Zugriff vom 8. Dezember 2025) beträgt insgesamt 65 Druckseiten. Von der Kritischen Gesamtausgabe im Wallstein-Verlag, die insgesamt 16 Bände umfassen soll, sind mittlerweile vier Bände erschienen, die jeweils einen Umfang zwischen 500 und 1.000 Seiten haben. Seit der ersten umfassenden Biografie von Elisabeth Young-Bruehl aus dem Jahr 1982 sind bis heute fast zwanzig Biografien und Werkbiografien von Hannah Arendt erschienen. Im Jahr 2011 publizierte der Verlag J.B. Metzler aus Stuttgart das ausführliche Arendt-Handbuch (Heuer et al 2011).
Ein Gedenktag wie der 50. Todestag führt bei weltberühmten Denkern zwangsläufig zu einer Flut von Neuerscheinungen. Es soll hier stellvertretend auf die neuen Biografien von Grit Straßenberger (2025), Thomas Meyer (2023, 2025) und Willi Winkler (2025) hingewiesen werden. Straßenberger und Meyer gelten als Arendt-Experten, die in den letzten Jahrzehnten viel über Hannah Arendt publiziert haben. Erwähnenswert erscheint auch der Essayband des Oldenburger Philosophen Matthias Bormuth. Er ist Inhaber einer Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg und Leiter des dortigen Karl-Jaspers-Hauses. An der Universität Oldenburg ist auch ein Hannah-Arendt-Zentrum, dass die Arendt-Expertin Antonia Grunenberg gegründet und lange geleitet hat. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, ein Verehrer von Hannah Arendt, widmete ihr zum Gedenktag ebenfalls ein Buch. Es trägt den Titel „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ (Kretschmann 2025). Damit schließt sich ein Kreis: ein erfolgreicher Politiker der Gegenwart betont den für Hannah Arendts Demokratie-Verständnis bedeutendsten Wert: die Freiheit.
Literatur
Arendt, Hannah, Kritische Gesamtausgabe. Wallstein Verlag, Göttingen 2018 ff.
Arendt, Hannah, Studienausgabe in sieben Bänden. Herausgegeben von Thomas Meyer. Piper Verlag, München
Bormuth, Matthias, Von der Unheimlichkeit der Welt. Denken mit Hannah Arendt. Matthes & Seitz, Berlin 2025
Csef, Herbert, Donner, Edeltraud, Gefühl und Vernunft im Konflikt: Zum Beziehungsgefüge der Existenzphilosophen Karl Jaspers, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik, Ausgabe 1/2018, S. 1 – 15
Csef, Herbert, „Die Banalität der Liebe“ – Zur Liebesbeziehung zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger. Tabularasa Magazin vom 26. Juni 2021
Grunenberg, Antonia, Hannah Arendt – Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. Piper, München 2006
Heuer, Wolfgang, Heiter, Bernd, Rosenmüller, Stefanie (Hrsg.) Arendt-Buch. Leben, Werk, Wirkung. J.B. Metzler, Stuttgart 2011
Kretschmann, Winfried, Der Sinn von Politik ist Freiheit. Warum Hannah Arendt uns Zuversicht in schwieriger Zeit gibt. Patmos, Ostfildern 2025
Meyer, Thomas, Hanna Arendt. Die Biografie. Piper, München 2023
Meyer, Thomas, Hanna Arendt. Die Denkerin des 20. Jahrhunderts. C. H. Beck, München 2025
Neiman, Susan, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Suhrkamp, Berlin 2004
Neiman, Susan, Heimisch bleiben in einer Welt nach Auschwitz. Gespräch mit Catherine Newmark. Philosophie Magazin, Sonderausgabe Juni 2016, S. 104 – 108
Straßenberger, Grit, Die Denkerin. Hanna Arendt und ihr Jahrhundert. C.H. Beck, München 2025
Winkler, Willi, Hannah Arendt. Ein Leben. Rowohlt, Hamburg 2025
Young-Bruehl, Elisabeth, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Fischer, Frankfurt am Main 1986
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
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