Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf- Geschwisterbriefe

Eiszeit, Spuren im Schnee, Foto: Stefan Groß

Am 30. Mai 1964 kam es im Elternhaus Brigitte Reimanns in Burg bei Magdeburg zu einer Aussprache zwischen der aus Hoyerswerda angereisten Schriftstellerin und ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Lutz. Er hatte in Rostock studiert und war Ostern 1960 als diplomierter Schiffsbauingenieur mit Frau und neugeborenem Kind „republikflüchtig“ geworden. In seiner Argumentation gegen die DDR-Verhältnisse glich er dem Chemiker Dr. Manfred Herrfurth aus Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“, der auch, allerdings 1961, „Republikflucht“ begangen hatte. Beide Flüchtlinge wussten aus ihrer Berufserfahrung als Naturwissenschaftler, dass der SED-Staat eine Totgeburt war und der „Sozialismus“ eine Chimäre. Also zogen sie, als es noch möglich war, die Konsequenzen und flüchteten, wie Hunderttausende vor ihnen, nach Westberlin.

Brigitte Reimann (1933-1973) hat den jähen Verlust ihres Bruders an den westdeutschen „Klassenfeind“ nie verwunden! Noch ein Jahr nach der Flucht, in einem Brief an die Eltern, nannte sie ihn einen „Verräter“, der in seinen Briefen die DDR immer nur als „Ostzone“ bezeichnete. Außerdem warf sie ihm vor, „jahrelang von unserem Geld gelebt und studiert“ zu haben, ohne „geringste Gegenleistung“. Das war der ständig erhobene Vorwurf der Funktionäre gegenüber „republikflüchtigen“ Studenten, sie hätten von „Arbeitergroschen“ gelebt, als ob es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, sein Studium zu finanzieren. Der in Hamburg lebende Westbruder durfte also Eltern und Geschwister besuchen, nachdem ihm Brigitte Reimann über Otto Gotsche (1904-1985), als Walter Ulbrichts Sekretär einer der mächtigsten Männer im SED-Staat, ein Einreisevisum besorgt hatte. Die SED-Genossin Brigitte Reimann brauchte aber ihren Westbruder, mit dem sie sich jetzt versöhnt hatte, noch aus ganz anderen Gründen: Er sollte ihr Bücher schicken, die in der DDR verboten waren, also „staatsfeindliche“ Literatur! Da sie wusste, dass solche Bücher, an ihre Privatadresse in Hoyerswerda gerichtet, nie angekommen wären, bat sie Bruder Lutz, die Bücherpäckchen an den DDR-Schriftstellerverband in Ostberlin zu schicken, von dort würden sie weitergeleitet. Darunter waren nun auch wirklich „antikommunistische Machwerke“ wie der vorzügliche Essayband „Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein“ (München 1960) des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (1927-2009). Aus diesem Bücherwunsch und daraus, dass sie offensichtlich auch das zweibändige „Deutsche Tagebuch“ (München 1959/61) des „Renegaten“ Alfred Kantorowicz (1899-1979) kannte, der im Sommer 1957 Ostberlin fluchtartig verlassen hatte, ist zu schließen, dass sie mehr über den praktizierten Kommunismus erfahren wollte, ein Wissen, das ihr der eigene Staat vorenthielt!

Dieser umfangreiche Briefwechsel (382 Seiten) mit ihren drei Geschwistern zwischen 3. Februar 1960 und Weihnachten 1973 ist die bisher letzte Veröffentlichung aus dem schier unerschöpflichen Brigitte-Reimann-Archiv in Neubrandenburg. Auf den heutigen Leser, zumal, wenn er „im Westen“ aufgewachsen ist, müssen manche Textstellen erst mühsam entschlüsselt werden, weil das nötige DDR-Wissen fehlt. Das fängt schon damit an, dass kaum jemand heute noch weiß, wer „Pittiplatsch“ (S.122) und „Schnatterinchen“ waren, die allabendlich den Kindern im DDR-Fernsehen „Gute Nacht!“ wünschten. Auf den heutigen Leser wirkt ohnehin das ganze Buch, das immerhin eine Fülle von Einzelheiten zur DDR-Geschichte 1960/72 bietet, wie eine Botschaft aus einer längst untergegangenen Gesellschaftsordnung.

Als vielversprechende Nachwuchsautorin wurde Brigitte Reimann von ihrem Staat gefördert, wo immer es möglich war. Hatte sie doch schon 1960 gezeigt, als sie mit ihrem Mann Siegfried Pitschmann (1930-2002) für acht Jahre nach Hoyerswerda ins Kombinat „Schwarze Pumpe“ zog, dass sie bereit war, die Mühen des „Bitterfelder Weges“ von 1959 auf sich zu nehmen. Zwei Jahre später, am 8. Dezember 1962, veröffentlichte sie unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ einen Erfahrungsbericht über das gespaltene Bewusstsein der „Arbeiterklasse“ in „Schwarze Pumpe“, deren Vertreter in der Öffentlichkeit anders sprächen als unter vier Augen. Enttäuscht fragte sie: „Wie ist es möglich, dass Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Haus die Filzlatschen anziehen und sich begnügen?“ Es war der gewaltige Zwiespalt zwischen Ideologie und Realität, den Brigitte Reimann in Hoyerswerda entsetzt wahrnahm und dessen literarischer Ausdruck der Roman „Franziska Linkerand“ (1974/98) wurde.

Dieser unvollendet gebliebene Roman, sicher ihr bedeutendstes Werk, woran sie, von ihrer Krebserkrankung gepeinigt und von Selbstzweifeln geplagt, bis zu ihrem Tod gearbeitet hat, erschien 1974, von der Zensur verstümmelt, die vollständige Ausgabe lag 1998 vor. Berühmt aber wurde Brigitte Reimann nach dem Mauerfall von 1989 nicht mit ihrer Erzählprosa, sondern mit elf Bänden Briefen und Tagebüchern, die zwischen 1992, als sie schon 19 Jahre verstorben war , und 2018 erschienen sind

 

Brigitte Reimann „Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe“, herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher, 416 Seiten, Aufbau-Verlag, Berlin 2018, 24.70 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.