Corona – eine erwartete Epidemie mit unerwarteten Maßnahmen

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Anfang 2013 veröffentlichte die Bundesregierung den „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“. Die Analyse wurde vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe durchgeführt. Zwei Szenarien wurden untersucht: Zum einen „Extremes Schmelzhochwasser aus den  Mittelgebirgen“, zum anderen „Pandemie durch Virus Modi-SARS“.

Die „Unterrichtung durch die Bundesregierung“ kann hier eingesehen werden:

Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012

(Falls nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus dem oben verlinkten Text. Auf Seitenangaben wurde verzichtet, da die Zitate über die Suchfunktion sofort zugänglich sind.)

Warum dieser Beitrag?

Die Risikoanalyse für das fiktive Szenario „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ belegt, dass die Bundesregierung beunruhigende epidemische Vorfälle in zurückliegenden Jahren überaus ernst genommen hat. Insofern ist der Vorwurf/die Aussage unzutreffend, sie stünde unvorbereitet vor der aktuellen Situation. Im Bericht zur Risikoanalyse für die Pandemie durch das fiktive Virus Modi-SARS wird ausdrücklich von einem „außergewöhnlichen Seuchengeschehen“ ausgegangen. Der Zweck der Risikoanalyse:

„Zu prüfen, ob die vorhandenen Fähigkeiten sowie die staatliche Vorbereitung auf die Bewältigung der im Rahmen der Risikoanalyse ermittelten möglichen Schäden und Auswirkungen angemessen und ausreichend sind.“

Ohne Zweifel erfordert ein außergewöhnliches Seuchengeschehen außerordentliche Maßnahmen. Anders ausgedrückt: Es ist zu erwarten, dass ein Seuchengeschehen und die ergriffenen Gegenmaßnahmen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen werden. Nun ist allerdings die aktuelle Epidemie glücklicherweise sehr viel milder ausgefallen als die Epidemie, die in der vorausschauenden Risikoanalyse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe analysiert wird. Folglich wäre zu erwarten, dass die ergriffenen (und noch zu ergreifenden) Maßnahmen ebenfalls sehr viel weniger einschneidend sein müssten als im fiktiven Szenario der Fall. Allerdings scheinen die aktuell ergriffenen Maßnahmen eher zum erfundenen außergewöhnlichen Seuchengeschehen zu passen als zum vergleichsweise milden Geschehen in diesen Wochen. Mit anderen Worten: Legt man die die „Unterrichtung durch die Bundesregierung“ von Anfang 2013 zugrunde, so handelt es sich bei den aktuell ergriffenen Maßnahmen um eine Überreaktion.

Das Schlimmstfall-Szenario mit Millionen Toten

Das in der Risikoanalyse durchgespielte Schlimmstfall-Szenario sieht folgende Zahlen Infizierter und folgende Todesfälle vor:

„Über den Zeitraum der ersten Welle (Tag 1 bis 411) erkranken insgesamt 29 Millionen, im Verlauf der zweiten Welle (Tag 412 bis 692) insgesamt 23 Millionen und während der dritten Welle (Tag 693 bis 1052) insgesamt 26 Millionen Menschen in Deutschland. Für den gesamten zugrunde gelegten Zeitraum von drei Jahren ist mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen. Zusätzlich erhöht sich die Sterblichkeit sowohl von an Modi-SARS Erkrankten als auch anders Erkrankter sowie von Pflegebedürftigen, da sie aufgrund der Überlastung des medizinischen und des Pflegebereiches keine adäquate medizinische Versorgung bzw. Pflege mehr erhalten können… Von den Erkrankten sterben rund 10%.“

Quasi hellseherische Fähigkeiten in der Risikoanalyse

Die Risikoanalyse wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Robert Koch-Instituts sowie weiterer Bundesbehörden durchgeführt. Im Nachhinein und vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens werden dabei geradezu prophetisch scheinende Fähigkeiten an den Tag gelegt, wenn wir uns die Antwort ansehen, die die Risikoanalyse auf folgende selbstgestellte Frage gibt: „Welche Geschehnisse führen zu diesem Ereignis?/Wodurch wird das Ereignis ausgelöst?“Die Antwort auf diese Frage:

„Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde. Da die Tiere selbst nicht erkranken, war nicht erkennbar, dass eine Infektionsgefahr bestand. Durch diese zoonotische Übertragung in Gang gesetzte Infektketten konnten nur retrospektiv nachvollzogen werden.“

Bekanntlich hält man es aktuell für überaus plausibel, dass der Erreger von Fledermäusen oder Schuppentieren, die auf einem chinesischen Markt verkauft wurden, auf Menschen übertragen wurde.

Nun heißt es zwar im Bericht:

„Es kann und darf aber nicht im Sinne einer Prognose verstanden werden, denn ob ein solches Ereignis tatsächlich so oder in anderer Form eintritt, ist nicht vorhersagbar.“

Diese Aussage wird zumindest teilweise durch die folgende konterkariert, in der es mit Blick auf ein künftiges „außergewöhnliches Seuchengeschehen“ heißt: „Zwar sind die entsprechenden Eintrittswahrscheinlichkeiten für solche Ereignisse deutlich geringer, doch ist ihr Eintreten gleichwohl jederzeit möglich…“

An anderer Stelle des Risikoszenarios heißt es im Hinblick auf ein „schwerwiegendes Seuchenereignis“ (und als ein solches darf man das aktuelle vermutlich werten), dass ein neuartiger Erreger ein solches Ereignis „plötzlich“ auslösen könne. Ein plausibles Synonym für „plötzlich“ ist hier offenbar „jederzeit“ In dieser Lesart wird man dadurch bestärkt, dass von einem „zwar hypothetischen Erreger“ die Rede ist, dass aber die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens in der Risikoanalyse mit Blick auf wenige Jahre zurückliegende Seuchenereignisse weitergehend plausibilisiert wird. Damit steht nun allerdings die Frage im Raum, warum die Jahre 2013-2020 in Anbetracht von SARS-Coronavirus [CoV], H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV nicht zur Aufstockung von Notfallkapazitäten genutzt wurden. Wären entsprechende Ressourcen zeitig bereitgestellt worden, hätte man vermutlich in diesen Tagen und Wochen auf die einschneidenden Maßnahmen verzichten können, die aktuell die Freiheitsrechte einschränken und die Existenz zahlreicher Bürger bedrohen.

Für die Risikoanalyse wird ein neu auftretendes Coronavirus zwar in Betracht gezogen. Vor dem Hintergrund der bis Ende 2012 vorliegenden Erkenntnisse wird es jedoch für wahrscheinlicher gehalten, dass ein modifiziertes SARS-Virus das Seuchengeschehen auslöst:

„Das vorliegende Szenario beschreibt ein außergewöhnliches Seuchengeschehen, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert. Dem Szenario ist der zwar hypothetische Erreger „Modi-SARS“ zu Grunde gelegt, dessen Eigenschaften im Informationsblatt (siehe Anhang) beschrieben sind und der sehr eng an das SARS-Virus angelehnt ist. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können. (z.B. SARS-Coronavirus [CoV], H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV). Ein aktuelles Beispiel für einen neu auftretenden Erreger ist ein Coronavirus („novel Coronavirus“), welches nicht eng mit SARS-CoV verwandt ist. Dieses Virus wurde seit Sommer 2012 bei sechs Patienten nachgewiesen, von denen zwei verstorben sind. Ein Patient wurde in Deutschland behandelt und konnte als geheilt entlassen werden. Im Unterschied zu SARS-CoV scheint dieses Virus aber nicht oder nur sehr schlecht von Mensch zu Mensch übertragbar zu sein, so dass in der aktuellen Risikoeinschätzung davon ausgegangen wird, dass das Risiko einer Erkrankung in Folge einer Übertragung von Mensch zu Mensch gering ist (Stand 26. November 2012).“

Diese Überlegungen zeigen, dass man sich in der Risikoanalyse bemühte, das Szenario in enger Tuchfühlung mit dem viralen Weltgeschehen zu konstruieren.

Zur Symptomatik und zur Letalität des fiktiven Virus:

Das fiktive Modi-Sars-Virus soll mit dem tatsächlichen SARS-CoV in fast allen Eigenschaften identisch sein. Zur Symptomatik des realen SARS-CoV heißt es:

„Die Symptome sind Fieber und trockener Husten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot, in Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge, Schüttelfrost, Übelkeit und Muskelschmerzen. Ebenfalls auftreten können Durchfall, Kopfschmerzen, Exanthem (Ausschlag), Schwindelgefühl, Krämpfe und Appetitlosigkeit. Die Letalität ist mit 10% der Erkrankten hoch, jedoch in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Kinder und Jugendliche haben in der Regel leichtere Krankheitsverläufe mit Letalität von rund 1%, während die Letalität bei über 65-Jährigen bei 50% liegt.“

Für die Risikoanalyse wird die Gefährlichkeit des fiktiven Modi-Sars-Virus dadurch weiter gesteigert, dass man davon ausgeht, dass es sich in Gestalt einer Altersunabhängigkeit von SARS-CoV unterscheidet (die Krankheitsverläufe in diesen Tagen und Wochen zeigen eine ausgeprägte Altersabhängigkeit):

„Dieser altersabhängige Verlauf der Infektion mit SARS-CoV wurde für Modi-SARS nicht angenommen. Für das Modellieren der Zahlen an Erkrankten und Betroffenen im Szenario gehen wir davon aus, dass alle Altersgruppen gleich betroffen sind.“

Mahnende Worte in der Risikoanalyse

Vor dem bislang dargestellten Gesamt-Hintergrund heißt es in der Anfang 2013 veröffentlichten Risikoanalyse geradezu mahnend und suggestiv appellierend:

„Bisher gibt es keine Richtlinien, wie mit einem Massenanfall von Infizierten bei einer Pandemie umgegangen werden kann. Diese Problematik erfordert komplexe medizinische, aber auch ethische Überlegungen und sollte möglichst nicht erst in einer besonderen Krisensituation betrachtet werden.“

Inzwischen ist die von den Autoren der Risikoanalyse prognostizierte Krisensituation eingetreten. Wenn auch in sehr viel milderer Gestalt als der risikoanalytisch durchgespielten Form. Gleichwohl ist allerorten zu hören, dass es nicht genügend Ressourcen gebe, um mit der von der Regierung (oder Experten, auf die sich die Regierung beruft) erwarteten wesentlichen Verschlimmerung der aktuellen Krise fertig werden zu können. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens u.a. durch die Aufhebung der Versammlungsfreiheit soll dem Zweck dienen, Neuinfektionen zeitlich so zu strecken, dass die von der Regierung als unzureichend angesehenen medizinischen Ressourcen am Ende vielleicht doch gerade ausreichen. Unter der Hand kann dies als Eingeständnis gewertet werden, dass man die risikoanalytische Mahnung von Anfang 2013 zugunsten anderer Haushaltspräferenzen ignorierte und erforderliche Maßnahmen unterließ. Sofern informierte Unterlassungen als Handlungen zu werten sind, scheinen wir es mit einer sträflichen Unterlassung zu tun zu haben, die darin besteht, in zurückliegenden Jahren nicht zureichend in medizinische Ressourcen investiert zu haben. Anders gesagt: Statt ihre eigene Risikoanalyse als mahnenden Weckruf zu verstehen, setzte die Regierung (genau genommen: die Regierungen) andere haushaltspolitische Präferenzen. Vielleicht deshalb, weil sie darauf vertraute, der erwartbaren Epidemie alternativ und ebenso gut mit den aktuellen Abriegelungsmaßnahmen und der Beschneidung von Freiheitsrechten begegnen zu können?

Bekannte Grenzen der Gesundheitssysteme in Anbetracht einer Epidemie

Um das Risiko-Szenario durchzuspielen, wurde von der Risikoanalyse ein SARS-ähnliches Virus ins Auge gefasst, weil

„die natürliche Variante 2003 sehr unterschiedliche Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hat. Die Vergangenheit hat bereits gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können (z. B. SARS-Coronavirus (CoV), H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV).“

Wenn SARS bekanntermaßen bereits 2003 diverse Gesundheitssysteme an ihre Grenzen bringen konnte, so stellt sich erneut die Frage, warum sieben Jahre nach dem Vorliegen dieser Risikoanalyse das bundesdeutsche Gesundheitssystem offiziellen Verlautbarungen zufolge nicht über die nötigen Ressourcen verfügt (insbesondere Beatmungsgeräte medizinisches und Pflege-Personal sowie Bettenkapazitäten), um es mit einer Epidemie aufnehmen zu können, die allem Anschein nach sehr viel gelinder ausfällt als diejenige des Szenarios.

Vorausgesehene Überlastung des medizinischen Personals

Das durchgespielte Schlimmstfall-Szenario erkennt in aller Deutlichkeit den Zusammenhang zwischen einer Überlastung des Personals im medizinischen und Pflegebereich einerseits und zusätzlichen Todesfällen infolge der Epidemie. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum die Regierung abwartete, bis sie selbst in unseren Tagen eine unmittelbar bevorstehende Überlastung des medizinischen und Pflegepersonals bereits bei einem wesentlich milderen Epidemie-Verlauf als dem der Risikoanalyse konstatieren musste. Die Konsequenz kann nur lauten, dass mehr Mittel in den Erhalt von Leben und Gesundheit und insbesondere in die Pflege der Mitbürger mit der leisesten Stimme: die immer schon in sozialer Quarantäne lebenden Bewohner von Pflegeheimen, investiert werden müssen.

Begrenzte Wirksamkeit von Absonderungen und Quarantäne

Im Unterschied zur de facto eingetretenen Situation in diesen Tagen und Wochen, geht man in der Risikoanalyse zunächst davon aus, dass Quarantänemaßnahmen wenig wirksam sind:

„Neben der Einhaltung von Hygienemaßnahmen können Schutzmaßnahmen in dem Sinne also ausschließlich durch Absonderung Erkrankter bzw. Ansteckungsverdächtiger, sowie den Einsatz von Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen getroffen werden. Absonderung, Isolierung und Quarantäne sind aber nur von begrenzter Wirksamkeit, da schon bei Beginn der Symptomatik eine sehr ausgeprägte Infektiosität besteht.“

Was letzteren Punkt betrifft, ist der Verlauf in unserer realen Gegenwart ungünstiger als im Schlimmst-Szenario der Risiko-Analyse. Einer Verlautbarung des Robert Koch-Instituts zufolge beginnt die Infektiosität bereits ca. 2,5 Tage vor Symptombeginn.

Vergleicht man das Geschehen in der Gegenwart und das Schlimmst-Szenario (mit seiner Letalität von 10%), so stellt sich jedoch die Frage, ob man nicht angesichts einer sehr viel geringeren realen Letalität – zumindest anfänglich und bis zum (offenbar versäumten) Vorliegen von Stichproben-Testergebnissen an vielleicht 10000 Bürgern – auf ein Herunterfahren weiter Bereiche der Gesellschaft und die Inkaufnahme des Ruins unabsehbar vieler Existenzen hätte verzichten und zumindest eine umsichtigere („schwedische“) und informiertere Art des Umgangs mit dem Krankheitsgeschehen hätte in Anwendung bringen können (bei gleichzeitiger Bereitstellung maximaler Ressourcen für ältere Mitbürger).

Eine entsprechend umsichtige Herangehensweise wurde etwa von Prof. Sucharit Bhakdi in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gefordert, der eindringlich auf die Notwendigkeit hinweist, eine Unterscheidung zu treffen einerseits zwischen Personen, die zwar infiziert sind, dabei aber symptomfrei bleiben und andererseits Personen, die infiziert sind und Symptome entwickeln. Vor diesem Hintergrund fragt Bhakdi:

„Wissen wir genug, um all das zu verantworten, was wir den Menschen in diesem Lande gerade zumuten? Rechtfertigen die Daten, die wir haben, so drastische Eingriffe in unsere Freiheitsrechte… mit all den absehbaren Folgen? […] Und wenn ja: Welche Daten wurden denn zu Rate gezogen? Welche Strategie verfolgt? […] Wurde bei den Hochrechnungen zwischen symptomfreien Infizierten und tatsächlich erkrankten Patienten unterschieden? … Die Gefahren einer Gleichstellung von Infektionen und Erkrankungen liegen doch auf der Hand. Die Zunahme der Neuinfektionen sieht in Deutschland tatsächlich exponentiell aus. Aber diese Zahl darf doch nicht als Grundlage für irgendeine Hochrechnung genommen werden.“ Wiederum Bhakdi: „Hat es bereits eine stichprobenartige Untersuchung der gesunden Allgemeinbevölkerung gegeben, um die Realausbreitung des Virus zu validieren, oder ist dies zeitnah vorgesehen?“

Ähnlich forderte bereits zu Beginn der Krise Dr. Wolfgang Wordarg: „Es ist zwingend erforderlich, die genaue Anzahl der täglichen Tests präzise zu erheben und so eine solide Datengrundlage zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen.“

In diese Richtung gehen auch die Überlegungen des Virologen Prof. Hendrik Streck, der die ergriffenen Corona-Maßnahmen für überzogen hält und sich dafür ausspricht, wie in Südkorea, zahlreiche Tests in der Bevölkerung durchzuführen und das medizinische und Pflegepersonal sehr häufig zu testen, statt ein ganzes Land in den Ausnahmezustand zu versetzen.

Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) – Einschränkung von Grundrechten und Einsatz von Militär

Zur Durchsetzung der laut IfSG vorgesehenen Maßnahmen im Umgang mit dem Schlimmstfall-Szenario können im Rahmen der Risikoanalyse auch Grundrechte außer Kraft gesetzt und das Militär eingesetzt werden:

„Die zuständigen Behörden, zunächst die Gesundheitsämter und dort vornehmlich die Amtsärzte, haben Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten zu ergreifen. Das IfSG erlaubt dazu unter anderem Einschränkungen von Grundrechten (§16 IfSG), wie z.B. das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz1 GG). Im Rahmen von notwendigen Schutzmaßnahmen können zudem das Grundrecht der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz2Satz 2 GG) und die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) eingeschränkt werden (§ 16 Absatz5bis 8 und §28 IfSG). Neben diesen direkt vom Amtsarzt anzuordnenden Maßnahmen kann das Bundesministerium für Gesundheit durch eine Rechtsverordnung anordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben (§20 Absatz 6 IfSG), wodurch das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz2 Satz 1 GG) eingeschränkt werden kann.“

Sollten die zuständigen Behörden sich personell und materiell vor nicht mehr zu bewältigende Herausforderungen gestellt sehen, würde im Schlimmstfall-Szenario letztlich auch das Militär zum Einsatz kommen:

„Auch die Hilfeleistungspotentiale des Bundes (z.B. THW, Bundespolizei, Bundeswehr) werden in allen Bereichen unterstützend eingesetzt. Trotz maximalen Einsatzes können die Aufgaben v.a. während der Höhepunkte der Erkrankungswellen nicht bewältigt werden.“

Da das Schlimmstfall-Szenario der vorliegenden Risikoanalyse sehr viel gravierender ist als die aktuelle Krise, stellt sich die Frage, warum in der Politik bereits schon vor Wochen von einer Notwendigkeit geredet wurde, die Bundeswehr stärker einzusetzen. Aktuell sollen 15000 Soldaten mobilisiert werden – nicht um Ausgangssperren zu überwachen, sondern um etwa im Sanitätsbereich zu helfen. Dänemark denkt daran, schon jetzt restriktive Maßnahmen einzuführen: Dänische Gesundheitsbehörden dürfen demnach zur Durchsetzung angeordneter Zwangstests, Zwangsimpfungen sowie Zwangsbehandlungen neben der Polizei auch das Militär sowie private Wachdienste einsetzen.

Aufs Ganze gesehen scheint auch hier keine Verhältnismäßigkeit zwischen der außerordentlichen Schwere des Schlimmstfall-Szenarios und dem bislang vergleichsweise milden Epidemie-Verlauf gegeben zu sein. Man rufe sich etwa in Erinnerung, dass im Winter 2017-2018 laut Robert Koch-Institut allein in Deutschland 25100 Menschen an Grippe starben. Hierzu merkt das Deutsche Netzwerk Evidenz-basierte Medizin e.V. an, 2017-2018 habe es keine Meldungen zu einer Überlastung des deutschen Gesundheitssystems gegeben, obwohl die mehr als 25000 Grippetoten vor ihrem Tod mehrheitlich stationär oder intensivmedizinisch versorgt wurden.

Politische Auswirkungen laut Risikoanalyse

„Es ist von einem hohen öffentlichen Interesse während der gesamten Lage auszugehen. Der Ruf nach einem schnellen und effektiven Handeln der Behörden wird früh zu vernehmen sein. Die Suche nach „Schuldigen“ und die Frage, ob die Vorbereitungen auf das Ereignis ausreichend waren, dürften noch während der ersten Infektionswelle aufkommen. Ob es zu Rücktrittsforderungen oder sonstigen schweren politischen Auswirkungen kommt, hängt auch vom Krisenmanagement und der Krisenkommunikation der Verantwortlichen ab.“

Diese Befürchtung der Krisenanalyse ist insofern triftig, als man sich in der Tat fragen muss, warum – gerade weil diese Risikoanalyse ein plötzliches Auftreten einer großen Epidemie nicht für unwahrscheinlich hält – man der Epidemie nicht besser vorgearbeitet hat. Regierungsamtliche Antworten auf diese Frage werden vermutlich dahingehend lauten, dass die Haushaltsmittel unzureichend waren. Doch halte man sich einmal Folgendes vor Augen: Der Verteidigungshaushalt 2019 betrug rund 43,2 Milliarden Euro. Um der Forderung der USA nach Militärausgaben von 2 Prozent des BIP näherzukommen, sind für 2020 militärische Ausgaben Militärausgaben von 45 Milliarden Euro vorgesehen. Damit konnte Deutschland den USA und der Nato die höchste Budgeterhöhung des Militärs seit Ende des Kalten Krieges melden. Der Etat des Verteidigungsministeriums ist der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt. Der Etat des Bundesministeriums für Gesundheit folgt mit nur 15 Milliarden Euro auf Rang 5. Plakativ gesagt: Es wird rund dreimal soviel Geld dafür ausgegeben werden, potentiell angreifende Menschen zu vernichten wie für die Wahrung und Wiederherstellung der Gesundheit aktuell kranker Menschen.

Finanzen

Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).