Der Andere – ein toter Winkel in der Fundamentalontologie?

Das Mitsein in Heideggers Daseinsanalysen und die Kritik durch Lévinas

„Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“ M.Heidegger, „SEIN UND ZEIT“ 1 „Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen läuft nicht immer auf die Erkenntnis des Anderen durch das Selbe hinaus, ja nicht einmal auf die Offenbarung des Anderen für das Selbe…“ E. Lévinas, „TOTALITÉ ET INFINI“2 „Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen läuft nicht immer auf die Erkenntnis des Anderen durch das Selbe hinaus, ja nicht einmal auf die Offenbarung des Anderen für das Selbe…“ E. Lévinas, „Totalité et Infini“ 2

* Das Problem der Intersubjektivität, also der Wahrnehmung, Erkenntnis des Anderen durch das Subjekt und seiner Beziehung zu ihm, spielt in der phänomenologischen Forschung seit ihrem Begründer Edmund Husserl (zuerst in den „LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN“, 1901) eine Rolle wie in der abendländischen Philosophie nie zuvor. Vor allem in den Werken neuerer französischer Philosophen wie Sartre, Merleau-Ponty und Lévinas, die sich der Phänomenologie Husserls bzw. Heideggers verpflichtet fühlten, nimmt dieses Thema mitunter eine zentrale Stellung ein. Eine wichtige Voraussetzung für die Erkenntnisse dieser Denker über die Intersubjektivität bilden jene phänomenologischen Erkenntnisse über das Selbstbewußtsein, das in den zuerst von Husserl durchgeführten neuartigen Untersuchungen nicht mehr traditionell als Subjekt oder Selbst interpretiert werden soll, sondern über das zunächst nicht mehr feststehen darf, als daß es einen Erlebnismittelpunkt darstellt. Eine scheinbar völlige Auflösung des Selbst geschieht allerdings erst in Martin Heideggers „SEIN UND ZEIT“ (1927). In seinem frühen Hauptwerk setzt sich Heidegger von seinem Lehrer Husserl ab, der in seiner sogenannten „transzendentalen“ Spätphase ein dem Subjekt vergleichbares Ego einsetzte, wodurch die Setzung des Anderen als „alter ego“ kein grundsätzliches Problem mehr darstellte. Heideggers sehr eigener Weg der Phänomenologie dagegen, der gerade in den Daseinsanalysen aus „SEIN UND ZEIT“ sichtbar wird, macht es, wenn man sich ausschließlich im heideggerschen „System“ bewegt, sehr schwer oder sogar unmöglich, eine Wahrnehmung des anderen Menschen im landläufigen Sinne überhaupt zu denken. Durch die – gewissermaßen – Auflösung des Selbst nämlich erscheinen die Bedingung der Möglichkeit dieser Wahrnehmung elementar verändert.

Gegenstände der vorliegenden Arbeit sind sowohl die Rolle des Selbst und der Anderen („SEIN UND ZEIT“, Abschnitt 1, 4. Kapitel, §§25-27) in Heideggers sogenannter, in den Daseinsanalysen grundlegend entwickelter „Fundamentalontologie“ als auch die Kritik dieses Intersubjektivitätsbegriffs durch den Heidegger-Schüler Emmanuel Lévinas. Lévinas (Hauptwerk „TOTALITÉ ET INFINI“, 1961) äußert seine wesentlichen Einwände innerhalb eines ganz eigenen Systems intersubjektiver Beziehungen. Die Untersuchung seiner Thesen wird vorzüglich anhand der Schrift „IST DIE ONTOLOGIE FUNDAMENTAL?“ (1967) durchgeführt werden. In der Seminararbeit, die der vorliegenden Veröffentlichung zugrunde lag, nahm die Ausführung und Erläuterung der unkonventionellen „SEIN-UND-ZEIT“-Terminologie breiten Raum ein. In diesem Text mußte ich aus Platzgründen darauf verzichten, um nicht die durch den Titel benannte Thematik des Anderen zu vernachlässigen. Falls also die für Heideggers Denken so wichtigen Begriffe wie „Dasein“, „Weltlichkeit“, „Existentialien“, „In-der-Welt-sein“, Zuhandenheit“, „Zeug“, „Jemeinigkeit“ usw. nicht genügend bekannt sein sollten, bitte ich, sie in „SEIN UND ZEIT“ oder in der einschlägigen Heidegger-Literatur nachzulesen.

Die Frage nach dem Wer des Daseins nach dem Verlust des Selbst

a) Jemeinigkeit

„Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Dasein ist je meines.“3 Diese Feststellung hatte Heidegger in „SEIN UND ZEIT“ bereits in „§9: Das Thema der Analytik des Daseins“ getroffen, muß er am Beginn des ersten von drei Paragraphen zum Thema der „Anderen“ wiederholen. Dieser §25 trägt den Titel:
Nachdem dieser Gedanke in §9 von „Sein und Zeit“ erstmals formuliert wurde, wird er erst in „§25: Der Ansatz der existentialen Frage nach dem Wer des Daseins“4näher ausgeführt, weil sein ursprünglicher Zustand entscheidende Fragen offenläßt, die im folgenden zwangsläufig zu Fehlschlüssen führen müssen. Die Feststellung in §9, daß „das Sein dieses Seienden [des Daseins][] je meines“ 5 ist, läuft noch im gleichen Paragraphen hinaus auf: „Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit und es 'hat' sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.“6 „Jemeinigkeit“, wie Heidegger die Setzung, daß das Dasein je meines ist, substantiviert, ist hiermit indirekt als Existential (als Seinsweise des Daseins) festgestellt. Und daß es ein solches ist, könnte im Grunde schon vor dem Mißverständnis bewahren, daß sich dennoch in §25 aufdrängt: Führt diese Setzung der Jemeinigkeit, also daß das Dasein sich selbst übereignet ist, nicht implizit die These mit sich, daß da ein Ich selbstbewußt handelt? Die grundlegende Differenz zwischen den so ähnlich scheinenden Aussagen einerseits vom Dasein, das je meines ist und andererseits der von einem Subjekt, das sich selbst setzt, wird verdeutlicht durch den Begriff der Alltäglichkeit.
In der phänomenologischen, vortheoretischen Einstellung geben sich uns die Dinge zunächst (und auch zumeist) als Zuhandenes. Das Zuhandene konstituiert die Welt 7. Dazu analog erfahren wir unser Dasein zunächst und zumeist in der Weise der Alltäglichkeit. Es geht nicht etwa um ein bestimmtes Existieren, von dem das „eigentliche“, „unverhüllte“ Dasein in einem theoretischen Vorgang abdifferenziert werden müßte; vielmehr ist die Alltäglichkeit vom Dasein indifferent. Sie ist ein Existential und kann sich beispielsweise als Selbstvergessenheit oder als Selbstverlorenheit äußern. Auf der Hand liegt, daß gerade in diesen beiden Modi der Alltäglichkeit jenes Subjekt, das sich selbst setzt, nicht denkbar ist, weil es sein Selbst zeitweilig verloren hat. Trotzdem, und das ist entscheidend, befindet sich das Dasein unbedingt gleichzeitig in diesen Modi und in der Weise der Jemeinigkeit. Aus der Jemeinigkeit folgt also nicht zwangsläufig, daß sich das Dasein als Ich versteht.

Die Frage nach dem Wer des Daseins, die §25 formuliert, ist mit der Jemeinigkeit des Daseins nicht beantwortet. Und aus dem Vorigen ist leicht zu ersehen, daß sie schon gar nicht beantwortet ist durch das faktische Wissen des Daseins um sein Selbst, denn das Selbst hält sich nicht durch, sondern kann, wie gesagt, verloren oder vergessen werden. Deswegen ist es, laut Heidegger, unbedingt notwendig, „die phänomenologische Interpretation des Daseins bezüglich der jetzt zu stellenden Frage“ – eben die nach dem Wer des Daseins – „vor einer Verkehrung der Problematik [zu] bewahr[en]“ 8- nämlich daß jenes vermeintlich fundamentale Selbst als Prämisse an den Anfang der Untersuchung gestellt wird. Nicht zuletzt mit diesem Problembewußtsein läßt Heidegger die Phänomenologie Husserls hinter sich, bei der immer ein gewisser, methodischer Solipsismus 9 unüberwindlich schien. Denn das transzendentale Ego, von Husserl so benannt, dessen Ort die phänomenologische Einstellung ist, mit der man dem Bewußtseinsprozeß zusieht10, muß Erlebnismittelpunkt bleiben und ist damit sicher: Es konnte und mußte also von Husserl als Prämisse gesetzt werden. So räumt Heidegger in §25 auch durchaus die Evidenz der Setzung eines Ich ein für die „'formale Phänomenologie des Bewußtseins'“11, was aus seiner Sicht von Husserl betrieben worden war.
In der Fundamentalontologie Heideggers wird diese Setzung wie gesagt unmöglich: Immer wieder betont Heidegger in „SEIN UND ZEIT“, daß Dasein einem Ich in keiner Weise wesensgleich ist, was am deutlichsten daran zu sehen ist, daß das Dasein niemals Eigenschaften besitzt, die von ihm selbst herausstellbar wären, sondern Seinscharaktere (Existentialien), auf die hin es durchsichtig zu machen ist. „Wenn das 'Ich' eine essentielle Bestimmung des Daseins ist, dann muß sie existential interpretiert werden.“ 12 Eine solche Bestimmung ist es, denn rein faktisch sieht das Dasein – von Descartes wurde es eloquent formuliert – seine sichere Grundlage in seinem Ich. Vom Standpunkt der Phänomenologie aus heißt das: Das Ich gibt sich dem Dasein als Phänomen; wenn das Ich dem Dasein als Phänomen verständlich wird bzw. im Vorhinein immer schon verständlich ist, legt dies nahe, daß das Ich von einer bestimmten Seinsweise des Daseins, einem Existential abzuleiten ist. Denn das Dasein muß ja offen sein für ein Verstehen des Ich. Das würde uns auf eine andere Weise als zuvor auf die Frage nach dem Wer des Daseins führen: „Das Wer ist dann nur zu beantworten in der phänomenalen Aufweisung einer bestimmten Seinsart des Daseins.“13

b) Die Anderen in „SEIN UND ZEIT“

„Die Klärung des In-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zunächst 'ist' und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebensowenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.“ 14

Hier ergibt sich eine bemerkenswerte Kongruenz der Anderen zum Zuhandenen, denn beide begegnen als solche in der Welt. Sie sind Momente der Welt und konstituieren sie gleichzeitig.(siehe Anmerkung15) Nun würde Heidegger starke Ablehnung provozieren, wenn er versuchte, die Anderen als nicht daseinsmäßiges, in der Welt Seiendes zu charakterisieren, das sich dem Dasein ebenso gibt wie Zuhandenes oder Vorhandenes. Diese kann das Dasein durch seine Weltlichkeit erfahren. Doch die Anderen sind nicht etwa zuhanden; ihr Phänomen erfährt das Dasein durch sein Existential des Mitseins, dort, wo die Weltlichkeit allein keine Erklärungsmöglichkeit des Verstehens von Anderen mehr bietet. „Die Aufgabe ist, die Art dieses Mitdaseins in der nächsten Alltäglichkeit phänomenal sichtbar zu machen und ontologisch angemessen zu interpretieren.“ 16 Letztendlich wird in §27 eine gültige Antwort auf die Frage nach dem Wer des Daseins gegeben: Das „Man“ wird als eine seiner Seinsweisen herausgestellt. Daß vielmehr dies das Existential ist und das Selbst dann nur ein Modus seiner, nicht etwa umgekehrt, wird schon im vorigen Paragraphen, eben dem über das Mitsein, einleuchtend.
Vielleicht bleibt gerade dadurch, daß alles in diesem gedanklichen Abschnitt auf die Feststellung des Man hinausläuft, die Analyse speziell des Anderen relativ unbefriedigend, also jene der Fremdwahrnehmung explizit, welche eigentlich von einem Phänomenologen wie Heidegger in gründlichster Weise zu erwarten wäre. Und selbst in der schon erwähnten Herausstellung des Mitseins als Existential bleiben Fragen offen, wenn wir die Untersuchung mit bestimmten Problemstellungen konfrontieren. Zuerst zur bereits angesprochenen Kongruenz von In-der-Welt-sein und Mit-sein:
Das innerweltlich Seiende begegnet dem Dasein in der Seinsweise des Zuhandenen. Dadurch, daß die Zuhandenheit als Seinsweise des innerweltlich Seienden herausgestellt wird und nicht einfach als Eigenschaft, die wir subjektiv und immer an ihm erkennen, erhält es Unabhängigkeit und kann auf diese Weise auch an sich sein. Im Vergleich: Der Andere oder die Anderen (analog zum innerweltlich Seienden) begegnen dem Dasein in der Seinsweise des Mitseins (analog zum Zuhandenen). Durch dieses Existential sind die Anderen dem Dasein im Vorhinein auf ein Verstehen freigegeben. Worauf es Heidegger mit dieser These vor allem ankommt: „Das Mitsein und die Faktizität des Miteinanderseins gründet daher nicht in einem Zusammenvorkommen von mehreren 'Subjekten'.“ 17 Durch sein wesenhaftes Mitsein verschmilzt das Dasein vor allem Verstehen mit den Anderen, deren faktisch verstandene Vorhandenheit ist nur eine Folge des Mitseins.
Zunächst begegnen die Anderen durch Zuhandenes, das auf sie verweist. Hier werden in der Analyse die Anderen dem Zuhandenen, welches ja selbst ständig gegenseitig auf sich verweist, sehr ähnlich. Ich meine, daß die Begründung einer Vorgängigkeit des Verstehens von Anderen durch ein angenommenes Mitsein den Autor nicht der Erlärung entheben kann, wodurch sich das Phänomen des Anderen von dem des Zuhandenen unterscheidet. Eher drängt sie sich auf, und zwar durch eine Reihe von Behauptungen wie dieser: „Die Welt des Daseins gibt (…) Seiendes frei, das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins 'in' der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das freigebende Dasein selbst – es ist auch und mit da.“ 18
Müßte nicht der phänomenale Unterschied zwischen Zuhandenem und Anderen herausgestellt werden, sogar bevor die Behauptung des Existentials „Mitsein“ erfolgen kann, welchem ja schon die Feststellung der Verschiedenheit von einerseits sowohl Vor- als auch Zuhandenem, andererseits von Anderen vorausgehen muß? Diese Feststellung von Verschiedenheit erfolgt jedenfalls nicht durch die Erklärung, daß auf das eine wie auf das andere durch Zuhandenes verwiesen wird. Zur Anschaulichkeit: Ein konkretes Beispiel wäre das Boot am Strand, das durch seine Zuhandenheit auf seinen Besitzer, egal ob an- oder abwesend, verweist. Wir erinnern uns an den Seinsmodus der Selbstverlorenheit in Gegenüberstellung zu dem des bewußten Ich; wer sagt uns, daß wir – zu einem anderen Zeitpunkt als dem der Betrachtung – das Boot nicht selbst uns zuhanden machen und verwenden, zu welchem Zeitpunkt wir nicht im Seinsmodus des Ich, sondern in jenem der Selbstverlorenheit uns befinden?
Wir sehen, was hier die Auflösung eines Selbst als vorauszusetzendem Erlebnismittelpunkt bewirkt: Dadurch, daß das Dasein wesenhaft Mitsein ist, also indifferent von ihm, wird eine Erklärung des eigentlichen Phänomens des Anderen völlig unmöglich, während dieses naturgemäß weiter im Raum steht. Und doch erklärt Heidegger die Anderen und das Zuhandene als teilweise verschiedenartig (wovor natürlich dann auch die vermißte Erklärung hätte erfolgen müssen). So steht der Andere in folgender Hinsicht bei Heidegger auf einer „höheren“ Stufe als das Zuhandene. „Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat aber nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses Seiende wird nicht besorgt, sondern steht in der Fürsorge.“19 Die Fürsorge kann sich äußern einerseits in den positiven Modi der „Rücksicht“ und der „Nachsicht“ (kongruent zur „Umsicht“ beim Zuhandenen)20. Heidegger hält es für notwendig, andererseits auch sogenannte defiziente Seinsmodi der Fürsorge zu erwähnen (z.B. „das Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen“21) Jede erdenkliche Beziehung zum Anderen kann nach Heidegger als Modus der Fürsorge erklärt werden. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es beim Zuhandenen zumindest jene defizienten Modi nicht ausdrücklich gab. Zuhandenes, das nicht begegnet und damit auch nicht irgendwie verstanden werden kann (Damit wäre es dann doch auch kein Zuhandenes!), wird lediglich benannt „als unverstandenes Zeug, als Zuhandenes, mit dem man bislang 'nichts anzufangen' wußte, was sich demnach der Umsicht noch verhüllte.“22 Auch im folgenden Satz laviert er sich geschickt an der Benennung des „unverstandenen Zeugs“ vorbei: „Man darf auch hier wieder nicht die umsichtig noch unentdeckten Zeugcharaktere von Zuhandenem interpretieren als bloße Dinglichkeit, vorgegeben für ein Erfassen des nur noch Vorhandenen.“23
Mit der Nennung der defizienten Modi der Fürsorge (s.o.) wird, jedenfalls was den Anderen betrifft, eine Vorentdecktheit ausdrücklich. Denn auch im Ohne-einandersein oder im Aneinandervorbeigehen ist der Andere vorgängig erschlossen. Die Vorentdecktheit wird dann selbstverständlich beinhaltet im Existential des Mitseins, Dasein ist Mitsein. Diese Erklärung, bei der wir offensichtlich immer wieder ankommen, macht es dem Autor bequem, sich eine echte Analyse des Phänomens des Anderen zu ersparen. Er wird sich fragen lassen müssen, was denn rein phänomenal verhindert, daß sich mir ein Stein in der Seinsart des Mitdaseins gibt? Um nur kurz zu demonstrieren, wie auch unter Berücksichtigung phänomenologischer und ontologischer Problemstellungen das Problem des Anderen auf stimmige Art und Weise zu lösen wäre, auch damit schon hier einen Ausblick gegeben wird auf die weiter unten zu besprechende Infragestellung der Fundamentalontologie Heideggers durch Emmanuel Lévinas, sei hier auf dessen Grundansatz verwiesen. Lévinas zieht seine Folgerungen aus der These, daß der Andere eben nicht vorgängig in seinem Sein verstanden ist. „Vom Verstehen des Anderen ist seine Anrufung [!] untrennbar.“ 24
In Heideggers Fürsorge-System allerdings findet gerade die Sprache keinen Platz. Der Versuch, sie als Seinsmodus des Existentials Fürsorge zu denken, über das in „SEIN UND ZEIT“ jegliches Miteinandersein läuft, kann nicht vollends gelingen, wenn man den Fürsorge-Begriff im heideggerschen Sinne beibehalten will. Er kann nicht gelingen, auch wenn gerade die positivsten Modi der Fürsorge, darunter die „Fürsorge“ im gebräuchlichen Sinne des Wortes, nur in beschränktem Maße vorstellbar sind ohne die Sprache. Vielleicht wird die Sprache nicht zuletzt aus dem Grund, daß sie unter besagtem Existential keinen Platz finden würde, in diesem Zusammenhang (§§26,27) bei Heidegger überhaupt nicht erwähnt.

c) Das „Man“

Doch all diese Einwände, von denen keiner wirklich „Fehler im System“ Heideggers herausstellt, können und sollen nicht vom Gedankengang des vierten Kapitels aus „SEIN UND ZEIT“ ablenken, das in §27 auf die Herausstellung des Man als Seinsweise des Daseins hinausläuft. Hierzu sind §25 – mit seiner Klärung des Unterschiedes zwischen Jemeinigkeit und Selbst – und §26 – mit der Vorstellung der Existentiale Mitsein und Fürsorge – nur die notwendige Einleitung.
Im Zusammenhang mit dem Weltbegriff und dem In-der-Welt-sein ist bei Heidegger die Rede von der Verwiesenheit: Ein Zuhandenes verweist durch sein „Wozu“ auf ein anderes Zuhandenes. Das Verweisungsganze mündet letztendlich in ein „Worum-willen“ in Bezug auf das Dasein, dem es wesenhaft immer um sich selbst geht. Diese Verweisungen sind kein Bewußtseinsprozeß, sondern machen die Welt aus (siehe Anmerkung25), die dem Dasein durch seine Weltlichkeit vorgängig erschlossen ist. Noch nicht erwähnt wurde, daß sich auch hier wieder eine Kongruenz ergibt zwischen der Sorge um das Zuhandene und der Fürsorge um die Anderen. In der Weise des Mitseins, in der sich das Dasein befindet, ist das Dasein Um-willen Anderer. Das heißt, der Charakter der Verwiesenheit besteht bei den Anderen nicht in einem „Wozu“, sondern in einem „Worum-willen“, und zwar, weil auch sie sich in der Seinsart des Daseins befinden. Warum das Dasein wesenhaft zugleich um seiner selbst willen und um Anderer willen sein muß, wird in „§27: Das alltägliche Selbstsein und das Man“ 26 in seiner Zwangsläufigkeit deutlich – es besteht einfach kein Unterschied zwischen dem Dasein „Anderer“ und dem „eigenen“: Sie verschmelzen zum Man. Warum Heidegger im vorigen Paragraphen die phänomenologische Untersuchung der Fremdwahrnehmung eher oberflächlich betrieb (was nicht heißt, das diese überflüssig gewesen wäre), kann die Beschreibung des Man deutlich machen: „Diese Anderen sind dabei nicht bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht.“ 27 (siehe Anmerkungen)
„Zunächst 'bin' nicht 'ich' im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.“ 28 Da es deswegen zwangsläufig im alltäglichen Dasein weder bestimmte Andere noch ein bestimmtes Selbst gibt, befindet sich das Dasein zunächst in der Weise des Man-selbst. „Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“ 29
Das Man wird als das große, nicht faßbare, nicht-gegenständliche Neutrum beschrieben, das (dies nur als Beispiel) gleichzeitig das Wesen der Öffentlichkeit und der Grund für ihre Anonymität ist. Im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit zeigt sich das Existential Man in seinem Seinsmodus der Einebnung, die zum Beispiel dafür sorgt, daß Dinge sowie Sachverhalte in das Gewöhnliche, alles Relativierende eingebettet werden. Vermutlich ist von Heidegger diese These dermaßen prinzipiell verstanden, daß selbst schon durch bloßes Benennen das so Benannte, welches dann durch die alltägliche Sprache erschlossen ist, eingeebnet und damit in seinem Sein undurchsichtig wird und bleibt. „Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten.“ 30

Mitsein versus Antlitz – Heidegger und Lévinas

Heidegger selbst hat bekanntlich nie eine explizite ethische Abhandlung verfaßt, für die seine „Fundamentalontologie“ eine Grundlage gebildet hätte (und er hat auch sonst keine verfaßt). Ethik aus einem komplexen, einheitlichen philosophischen System zu entwickeln, wie es im obigen Versuch in Anlehnung an das System Heideggers andeutungsweise probiert wurde, ist in der neuzeitlichen Philosophie, insbesondere bei Kant und im Idealismus, nichts ungewöhnliches. Diese Moralphilosophie läuft, wenn auch nicht auf einen ausdrücklich formulierten kategorischen Imperativ, so doch meistens auf ein nicht zu verhehlendes „du sollst“ hinaus. Davon verschieden wäre eine Ethik des anderen Menschen, die, von dessen Phänomen ausgehend, kein ontologisches System benötigt. Weil sie dies nicht tut, würde diese Ethik eine „Fundamentalontologie“, die dem Anspruch ihres Namens gerecht werden wollte, in ihre Schranken verweisen.
Gezeigt worden war, daß das Phänomen des anderen Menschen in Heideggers „SEIN UND ZEIT“-Systematik keine Rolle spielt. Eine Ethik jedoch beruht, das würde auch Heidegger nicht leugnen, zu einem grundlegenden Teil auf der „Einfühlung“46 in den Anderen. „Was so phänomenal 'zunächst' eine Weise des verstehenden Miteinanderseins darstellt [die Einfühlung, M.N.], wird aber zugleich als das genommen, was 'anfänglich' und ursprünglich überhaupt das Sein zu Anderen ermöglicht und konstituiert.“ 31 Das ist nach seiner Meinung natürlich eine nicht zu billigende Tendenz, die, aufgrund ihrer Konfrontation von Ich und Anderem, aus phänomenologischer Sicht in den Bereich der Subjektphilosophie zu verbannen ist. Hier richtet sich Heidegger in bester phänomenologischer Tradition gegen die „empirische Psychologie“, die am Ende des 19. Jahrhunderts Blüten trieb; die Phänomenologie kann zwar die Einfühlung, das „Verstehen 'fremden Seelenlebens'“ 32, als reines Phänomen akzeptieren, doch als wissenschaftliches, gar philosophisches Fundament ist sie inakzeptabel. Aber wie wir bereits gesehen haben, kann das Phänomen des Anderen, das zur Erklärung der „Einfühlung“ unzweifelhaft notwendig wäre, mit Heidegger nicht auf eine direkte Art untersucht werden. Im Man ist „jeder […] der Andere und Keiner er selbst“. 33 Das Dasein ist wesenhaft Mitsein und das Man somit eine Sackgasse, weil es eine phänomenologische Erforschung des anderen Menschen unmöglich macht.
Es ist mit Emmanuel Lévinas (1913-95) wiederum ein Phänomenologe, der den Daseinsanalysen aus „SEIN UND ZEIT“ eine gewisse Traditionsgebundenheit nachweisen kann, nichtsdestoweniger er selbst natürlich, wie die ganze phänomenologische Schule Frankreichs, in der Tradition Husserls und Heideggers steht. Diese Nachweisung ist deshalb äußerst bemerkenswert, weil sie genau an dem Punkt ansetzt, wo Heidegger beanspruchte, absolutes Neuland erschlossen zu haben:
Er untersuchte das Seiende vor dem Horizont des Seins. Gerade in dieser Aufgabenstellung, die als Fundamentalontologie ein nötiges Erfassen jenes Horizontes in Anspruch nimmt, sieht Lévinas, daß sich Heidegger „der großen Tradition der westlichen Philosophie anschließt“34.
Auch wenn Heidegger in „SEIN UND ZEIT“ vorausschickt und immer wieder betont, daß „das Wesen des Daseins in seiner Existenz“35 liege und man es deswegen nicht auf bestimmte wesentliche „Eigenschaften“ hin untersuchen könne, benennt er doch die Weisen, auf die das Dasein ist: die Existentialien. Mit der „Fundamentalontologie“, aus deren Perspektive diese Benennung nach Heidegger erst möglich wird, verschafft dieser sich (aus der Sicht von Lévinas) die gleiche Meta-Ebene, von der aus die ganze Philosophie der abendländischen Tradition das Wesen des Menschen gedeutet hatte. (siehe Anmerkung36) Das Traditionelle beruht, so Lévinas, eben darin, daß Heidegger ein Besonderes, nämlich das Verstehen des Seienden als Seiendes, vor den Hintergrund eines Allgemeinen stellt, nämlich die Erkenntnis des Seins. Sie macht möglich, daß das Seiende erschlossen und dadurch vorgängig verstanden ist. Das Erkennen des Seinshorizontes führte implizit mit sich, daß das Sein (genauer: das Dasein) auf seine Seinsweisen hin durchsichtig zu machen war. Die Erkenntnis, die das Dasein hat/ist und von der Heidegger lediglich beansprucht, sie durch die Festmachung von Seinsweisen, den Existentialien, formuliert zu haben, macht das Dasein ontologisch. So wie es die Dinge als Zuhandenes versteht durch sein vorgängiges Verstehen von Welt, eben durch seine Erkenntnis (Weltlichkeit ist Erkenntnis), so versteht es den Anderen vorgängig durch die Seinsweise/Erkenntnis des Mitseins. Letzteres wird von Lévinas bestritten.
Er bestreitet es nicht nur in der kleinen Schrift, die hier untersucht werden soll, sondern dieses Bestreiten ist geradezu Essenz und Methode seines 1961 erschienenen Hauptwerks, das bezeichnenderweise schon in seinem Titel („TOTALITÉ ET INFINI“) eine elementare Konfrontation verrät: Das Seiende vor dem Horizont des Seins (die Totalität) wird gegen ein Seiendes gestellt, das durch seine Unendlichkeit nicht zusammen mit seinem Horizont gefaßt werden kann und das so als Seiendes nicht verstehbar ist – das Antlitz des anderen Menschen.
Bei Heidegger beinhaltet der Begriff Dasein ein Vermögen: Der Terminus „zuhanden machen“ assoziiert, nicht unbedingt gewollt, daß Dasein es vermag, die Dinge für sich zu ergreifen, sie „als Seiendes zu begreifen“, sie „als Seiendes“ aus dem Horizont „herauszulösen“, sie „sein zu lassen“37. Nun ist die Jemeinigkeit, also daß das Dasein sich selbst gegeben ist, daß es „da“ ist, eine ebensolche Seinsweise des Daseins wie das Mitsein, das ja im folgenden als unplausibel aufgewiesen werden wird. Was passiert, wenn das Dasein in seinem Wesen, das ja gleichzeitig seine „Möglichkeit“ 38, sein Vermögen ist, als nicht zu erkennen ausgewiesen wird? Mit der Aufweisung, daß auch nur eine einzige Seinsweise unplausibel ist, werden auch alle anderen hinfällig. Dann kann vom Dasein nicht mehr gesprochen werden. Zurück bleibt das nicht verstehende Selbst, der unvermögende Mensch. Und so scheut sich Lévinas nie, sozusagen „schlicht und ergreifend“, eher vom Menschen als vom Dasein zu sprechen.
Die weiter oben eher polemisch gestellte Frage, wie denn Heidegger mit Mitteln der Fundamentalontologie verhindern will, daß zum Beispiel ein Stein im Mitsein und somit möglicherweise auch als Anderer begegnet, kann mit Lévinas durchaus beantwortet werden. Einen Unterschied zwischen dem Verständnis von Seiendem von der Seinsart des Zuhandenen und Seiendem von der Seinsart des Daseins hatte Heidegger ohne weiteres eingeräumt. Umso merkwürdiger erschien es deshalb, daß sich dann das Mitsein nur in unwesentlichen Punkten von der Weltlichkeit abhob. (Allerdings muß bedacht werden, daß Heidegger ja sein System von Existentialien völlig ausgehebelt hätte, wenn er einen wesenhaften Unterschied zwischen Weltlichkeit und Mitsein zugegeben hätte: Dasein ist wesenhaft Welt, Dasein ist wesenhaft Mitsein, also umschließt die Welt auch wesenhaft das Mitsein.) Nach der Analyse des vorgängigen Verständnisses von Welt über das Verweisungsganze des Zuhandenen waren in „SEIN UND ZEIT“ auch die Anderen anhand von Verweisungen durch Zuhandenes als erschlossen vorgestellt worden. Warum es fraglich bleibt, daß Zuhandenes in den von Heidegger genannten Beispielen unbedingt auf Mitseiendes verweist, habe ich weiter oben erläutert. Die Fraglichkeit ergibt sich einfach daraus, daß wie gesagt der Unterschied zwischen dem Verständnis von Zuhandenem und Mitseiendem in Heideggers System viel zu gering ist, wenn er überhaupt besteht.
Hier ließe sich mit Lévinas ansetzen. Eben dort geht Heidegger seiner Meinung am Wesen der Fremdwahrnehmung und damit am Wesen des Menschen vorbei, wo er versucht, ihn unterschiedslos wie anderes Seiendes als ebenfalls seiend vor den Seinshorizont zu stellen, und das eben wegen dem vermeintlichen Wissen um die „Natur“ des Menschen: „Es handelt sich nicht so sehr darum, […] zu sagen, worin die Natur des Menschen besteht. Es handelt sich vor allem darum, dem Menschen den Platz ausfindig zu machen, wo er aufhört, uns vom Horizont des Seins her anzugehen, d.h. sich unserem Können darzubieten.“ 39 Natürlich ist uns auch der Andere wie ein Zuhandenes vorgängig erschlossen, denn er begegnet ja wie Zuhandenes in der Welt. Aber aus der Sicht von Lévinas macht es sich Heidegger leicht, indem er Zuhandenes – und damit auch die Mitwelt – begegnen läßt. Er selbst meint, in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Unterschied feststellen zu müssen zwischen Erkenntnis und Begegnung, was für Heidegger notwendig eins war. Zuhandenes besagt implizit, daß Dasein es immer schon verstanden hat. „Begegnen lassen“ hieß bei Heidegger „vorgängig verstanden haben“, was wiederum gleichzusetzen war mit der Erkenntnis des Seinshorizontes. Doch der andere Mensch, wie ihn Lévinas vorstellt, ist nicht vorgängig verstanden, während er doch unzweifelhaft begegnet. „Der Mensch ist das einzige Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung selbst auszudrücken. Genau dadurch unterscheidet sich die Begegnung von der Erkenntnis.“ 40
Dieser Ausdruck vollzieht sich als Sprache. „(…) die Person, mit der ich in Beziehung bin, nenne ich Seiendes, aber während ich sie Seiendes nenne, rufe ich sie an.“ 41 Hier ist es nicht etwa so, daß das Ansprechen des Anderen voraussetzt, daß ich ihn zuvor schon verstanden habe. Der Sprechakt ist kein Zeichen für ein Verständnis, sondern der Sprechakt ist Verstehen. Diese Gleichzeitigkeit, die auf gegenseitiger Immanenz von Ansprechen und Verstehen beruht, ist das Entscheidende. Der Husserlsche Terminus der „überspringenden Intention“ paßt wohl auf nichts mehr als auf das Phänomen des Anderen. Dies wird deutlicher, wenn man das Verhältnis Verstehen-Sprache so formuliert, daß Sprache das „Verfahren des Verstehens“ 42 sei. Nehmen wir einmal an, daß der Andere, entsprechend einem Zuhandenen, vorgängig als Seiendes verstanden ist (dadurch natürlich noch nicht verstanden im Sinne Lévinas') und nehmen wir an, daß Sprache das „Besorgen“ des Anderen darstellt, dann wird der Andere, der bis dahin nur als Seiendes verstanden ist, in diesem Ansprechen ständig überschritten – und so erst eigentlich als anderer Mensch verstanden. „Sie [die Person, M.N.] ist mein Teilhaber, sie teilt mit mir die Beziehung, durch die sie mir nur gegenwärtig werden sollte. Ich habe mit ihr gesprochen, das heißt, ich habe das universale Sein, das sie verkörpert, vernachlässigt, um mich an das partikulare Seiende zu halten, das sie ist. Die Formel 'Bevor ich mit einem Seienden in Verbindung stehe, muß ich es als Seiendes verstanden haben', verliert hier ihre strikte Anwendung: Indem ich das Seiende verstehe, sage ich ihm gleichzeitig mein Verstehen.“ 43
Faszinierend ist es, nachzuvollziehen, wie Lévinas aus diesem Unvermögen über den anderen Menschen die ethische Bedeutung des Anderen gewinnt. Die Erkenntnis der Dinge ist eine Aneignung, gewissermaßen eine Ausübung von Macht. Doch beim Ansprechen des Anderen tritt das Verstehen als solches zurück hinter das Verstehen einer spezifischen Gemeinschaft, „ohne daß diese Gemeinsamkeit sich auf irgendeine Eigenschaft, die an dem Gegebenen hervortreten würde, zurückführen ließe, ohne daß die Erkenntnis den Vorrang vor der Gemeinschaft gewinnen könnte.“ 44 Wenn die Erkenntnis doch die Oberhand behält, tue ich dem Anderen paradoxerweise die Gewalt des Nichtverstehens als Teilhaber an. Und so verhindert der Anblick des menschlichen Antlitzes und das daraus resultierende Ansprechen – auch in allen seinen defizienten Modi, so dem Schweigen oder Wegsehen – das Töten, das ich nur wollen kann, wenn mir zuvor das Teilhabende im anderen Menschen verborgen blieb.
In seinem Gesamtwerk überträgt Lévinas das beim Anderen entdeckte Antlitz in einer phänomenologischen Art und Weise auf die Gesamtheit dessen, was in der Welt begegnet, das Zuhandene, die Dinge. Er schafft ein System, ausgehend vom eigenartigen Charakter der Fremdwahrnehmung. Doch schon allein in der Beschreibung der Fremdwahrnehmung weist Lévinas mit dem Aufzeigen der mangelnden Allgemeingültigkeit von Heideggers Daseins-analysen den Weg aus der Fundamentalontologie. Dasein ist nicht wesenhaft Mitsein; aber, wenn Lévinas den Anderen dann auch in den Dingen wiederfindet, die daraufhin auch nicht mehr eine „Weltlichkeit“ des Daseins rechtfertigen können – was ist Dasein dann noch?

Anmerkungen
1) Martin Heidegger: „SEIN UND ZEIT“, Tübingen 1993. S.128
2)Emmanuel Lévinas: „TOTALITÄT UND UNENDLICHKEIT“, München 1997, Übersetzung aus dem Französischen von Wolfgang Nikolaus Krewani. S.30
3) M.Heidegger: „SEIN UND ZEIT“. S.114
4) ebd. S.114
5) ebd. S.41
6) ebd. S.42
7) siehe: §16,: „Die am innerweltlich Seienden sich meldende Weltmäßigkeit der Welt“, §17:“Verweisung und Zeichen“
8) ebd. S.115
9) nach Maurice Merleau-Ponty: „KEIME DER VERNUNFT“, Vorlesungen an der Sorbonne 1949-52″, München 1994, Übersetzung aus dem Französischen von Antje Kapust. S.55
10) nach Rüdiger Safranski: „EIN MEISTER AUS DEUTSCHLAND. HEIDEGGER UND SEINE ZEIT“, Frankfurt 1997. S.98
11) M.Heidegger: „SEIN UND ZEIT“. S.115
12) ebd. S.117
13) ebd. S.117
14) ebd. S.116
15) Zum Verweisungscharakter des Zuhandenen siehe „§ 17: Verweisung und Zeichen; §18: Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt“
16) ebd. S.116
17) ebd. S.120/21
18) ebd. S.118
19) ebd. S.121
20) ebd. S.123
21) ebd. S.121
22) ebd. S.81
23) ebd. S.81
24) E.Lévinas: „DIE SPUR DES ANDEREN“. S.111
25) Das Verweisungsganze ist die Welt1
26) M.Heidegger: „SEIN UND ZEIT“. S.126
27) ebd. S.126. Auch hier wird wieder, typisch für Heidegger, ein Wort aus dem gebräuchlichen Wortschatz herausgerissen. Da das Dasein sich „zunächst und zumeist“ in der Weise der Alltäglichkeit befindet, geschieht diese ungebräuchliche Wortwahl am wirkungsvollsten und der Anlage von „SEIN UND ZEIT“ am gerechtesten, wenn es sich um solche Wörter handelt, die im alltäglichen Gebrauch in ihrer Bedeutung kaum reflektiert werden und in umgangssprachlichen Sätzen die Rolle einer nebensächlichen Selbstverständlichkeit spielen [wie zum Beispiel die Wörter „Zeug“ oder „Man]).
28) ebd. S.129
29) ebd. S.129
30) ebd. S.127
31) ebd. S.124
32) ebd. S.124
33) ebd. S.128
34) E.Lévinas: „DIE SPUR DES ANDEREN“. S.109
35) M. Heidegger: „SEIN UND ZEIT“. S.12
36) (Demgegenüber weist Heidegger – was ihn als Phänomenologen und Existenzphilosophen ausweist – darauf hin, daß das Dasein „je meines“ ist, also nicht von sich abstrahieren kann und in allen seinen Reflexionen immer auch von sich selbst betroffen ist. Dieser Aspekt, der es schwieriger macht, Heidegger der Metaphysik zu verdächtigen, findet zumindest in dieser Lévinas-Schrift keinen Raum.)
37) ebd. S.114
38) M.Heidegger: „SEIN UND ZEIT“. S.42
39) E.Lévinas: „DIE SPUR DES ANDEREN“. S.115
40) ebd. S.112
41) ebd. S.112
42) ebd. S.111
43) ebd. S.112
44) ebd. S.113/14

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