Gesellschaftlicher Konsens?

Ein Versuch

Reisen bildet. Ein Besuch in Kopenhagen macht Unterschiede deutlich: Deutschland hat (noch) illusionäre, falsch verstandene Vorstellungen von einer liberalen, zivilen Gesellschaft und träumt von der Quadratur des Kreises: einer verantwortungslosen, uneingeschränkten Freiheit. Ein kultureller und politischer Konsens wie in Dänemark, der die Gesellschaft zusammenhält, wird schlechtgemacht, dürfte aber besonders in Deutschland vonnöten sein.

In Skandinavien gibt es das Jantegesetz. Dieses „Gesetz“ hat der dänische Schriftsteller Aksel Sandemose formuliert, in seinem Roman „Ein Flüchtling kreuzt seine Spur“ aus dem Jahre 1933; da der Roman zur Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts spielt, dürfte die Haltung, die das Jantegesetz spiegelt, weitaus älter sein. Benannt nach der fiktiven dänischen Kleinstadt Jante, wird das Jantegesetz doch im gesamten Norden, besonders aber in Dänemark anerkannt. Es beschreibt den kulturellen und politischen „Code“ des Umgehens miteinander, nach dem es verpönt ist, sich selbst zu erhöhen oder sich als besser und klüger darzustellen als andere. Entsprechend wird im vorliegenden Text „liberal“ nicht im ökonomischen, sondern kulturellen und politischen Sinn verstanden.

Der skandinavische gesellschaftliche Konsens und seine Kritik


Der deutsche Journalist und Sachbuchautor Rasse Knoller, der nach dem Studium der Politikwissenschaften, Anglistik und Skandinavistik lange Jahre in den skandinavischen Ländern arbeitete, schreibt zum Jantegesetz in einem Reiseführer, den ich auf einem verlängerten Kongresswochenende in Kopenhagen benutzte: „Interpretiert man [es] positiv, steht es für Bescheidenheit. Besagt es doch, dass niemand glauben solle, er sei besser als sein Nachbar. Dementsprechend strebt man in Dänemark auch nicht danach, der Beste zu sein, sondern das Ziel ist das Mittelmaß.“ Natürlich bedeute in Dänemark, versichert Knoller, „Mittelmaß“ etwas ganz Anderes als in Deutschland und wird positiv verstanden, aber: „Während man in den meisten anderen Ländern danach strebt, der Beste zu sein, bemüht man sich in Dänemark, so wenig wie möglich aus der Menge herauszuragen.“

Knoller kann es sich offenbar nicht verkneifen, diese nordische, eigentlich überaus demokratische Einstellung zu kritisieren. Er fährt nämlich fort: „Das mag charmant klingen, doch das Jantegesetz hat seine negativen Seiten: Ehrgeiz wird oft mit Egoismus gleichgesetzt. Und wer auf seiner kritischen, vom Mainstream abweichenden Meinung beharrt, wird schnell als arrogant angesehen. […] Anpassung wird nicht nur von Ausländern erwartet, die in Dänemark leben wollen, sondern auch von den eigenen Leuten. […] ‚Wenn du dazugehören willst, dann passe dich an. Wir sind nichts Besonderes, aber du bist es auch nicht.‘ “ Und zum Abschluss seiner Ausführungen meint man geradezu ein Aufatmen Knollers zu verspüren: „Die jüngere Generation löst sich allmählich von den alten Verhaltensmustern und auch in Skandinavien zieht der Individualismus ein.“ Na Gott sei Dank. Aber welcher Individualismus ist hier eigentlich gemeint?

Die Denkfehler der Kritik


Natürlich können einige aufmerksam verbrachte Tage in Kopenhagen nicht einen langjährigen Aufenthalt ersetzen, aber das offenkundig Falsche an dieser Kritik ist auch durch logisches Nachdenken zu erkennen: Knoller unterlaufen im Ganzen drei Denkfehler, die durch keine noch so lange Erfahrung aufgewogen werden können. Es geht um die Interpretation der Schlüsselbegriffe Individualismus, Bescheidenheit, Egoismus, Anpassung und Mittelmaß.


Individualismus und Egoismus


Die heutigen skandinavischen Gesellschaften sind historisch aus der Reformation erwachsen, und es kann daher gar nicht sein, dass diese Gesellschaften anti-individualistisch sind. Von Luther her kam die Auffassung, dass sich jeder Christenmensch ohne Einschaltung eines Vermittlers unmittelbar an Gott mit seinen Anliegen wenden könne; denn allein der Glaube jedes Einzelnen ist entscheidend und nicht seine Bildung oder Stellung. Diese Lehre war dem mehr kollektiv verfassten Mittelalter gegenüber revolutionär und geradezu eine der Voraussetzungen für die Moderne und den Individualismus. Die Ähnlichkeit dieser Lehre mit dem Jantegesetz ist offenkundig. In Skandinavien sieht man also keinen Widerspruch zwischen dem Prinzip des Individualismus und einem Prinzip der Bescheidenheit; es ist daher zu vermuten, dass Knoller, Jahrgang 1959, einen anderen Begriff von Individualismus hat. Wahrscheinlich ist dieser Begriff deutsch und rührt aus einer bestimmten Sozialisation. Hier wird klar, dass in der Meinung Knollers, die ihm unbenommen sei, Überpersönliches zum Ausdruck kommt und sie an dieser Stelle nur zum Anlass genommen wird, diesem Überpersönlichen nachzugehen.

Denn dieser Begriff des Individualismus dürfte, wie aus den Äußerungen Knollers hervorgeht, eher das radikale und rücksichtslose Ausleben der eigenen Wünsche und Vorstellungen, kurz: des eigenen Ichs meinen, einen Typ des Individualismus, der in Deutschland infolge der 68er Bewegung in einer Überreaktion auf die verkrusteten Ideale der Elterngeneration entstand und bis heute kulturell dominant ist. Die Konzeption von der Einzigartigkeit des Einzelnen und seiner Unabhängigkeit von allen überindividuellen Normen hat zu einer Ungebundenheit und Selbstbezogenheit geführt, die jede Einschränkung schon als Bedrohung der gesamten Person, als Unfreiheit erlebt und nicht nur als egozentrisch definiert werden kann, sondern es auch ist. Ein halbwegs selbstkritischer Deutscher wird dieses deutsche Streben nach Selbstverwirklichung durchaus eine Ideologie nennen müssen (wie dies der Philosoph und Jurist Meinhard Miegel bereits 1996 auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn getan hat). In Dänemark, wo jeder beobachtende Reisende, auch ich, sofort eine außerordentliche Rücksichtnahme im täglichen Umgang der Menschen miteinander feststellen kann, hat sich, das ist völlig klar, eine zivile Gesellschaft herausgeformt, die trotz selbstverständlich bestehender intellektueller und sozialer Unterschiede eine „Gleichheit“ der Bürger durch den „Code“ des Jantegesetzes, einer angestrebten Norm kulturell und politisch zumindest zu leben versucht.

Freiheit und Anpassung


Der Skandinavist Bernd Henningsen zur Entstehung dieses „Codes“: „Die Grundlage der skandinavischen Allgegenwart von Jante und dessen Verankerung im kollektiven Gedächtnis ist eine im späten 18. Jahrhundert verwurzelte und seither gepflegte und verstärkte Erziehung zur Gleichheit; die politischen und sozialen Daten für diese Begründung sind vielfältig: eine staatliche Verwaltung, deren Ziel die Erfassung aller Staatsbürger war, ein früh einsetzendes allgemeines Schul- und Ausbildungswesen, eine relativ ausgewogene Klassengesellschaft mit relativ geringen sozialen Gegensätzen, sprachlich, ethnisch, religiös und kulturell homogene Gesellschaften et cetera, bis schließlich der moderne Wohlfahrtsstaat mit seiner Maxime des sozialen und materiellen Ausgleichs von Interessen und Lebenswirklichkeiten die Gleichheit zum obersten Politikziel machte.“ Sozialpsychologisch bedeute das gegen die Konsequenzen eines Raubtierkapitalismus, der eigentlich aus der protestantischen Ethik resultieren müsste, „lieber die Armut als Tugend [zu] akzeptieren, als den verpassten Aufstieg zu Luxus und Wohlstand beklagen.“ Dieser Ausgleich von sozialen Interessen hat neben der gegenseitigen Rücksicht zu einer skandinavischen Form von Toleranz geführt. Auch dies ist Knoller nicht geheuer: „Die dänische Toleranz ist in den letzten Jahren etwas unter die Räder gekommen. Einst von vielen Linken als Vorzeigeland der Ausländerfreundlichkeit gehandelt, hat die Regierung nunmehr eine radikale ‚Das Boot ist voll‘-Position eingenommen.“ Hier zeigt sich der zweite Denkfehler Knollers.

Die „vielen Linken“ in Deutschland haben eben nicht verstanden, dass das Funktionieren einer liberalen, zivilen und auch sozialen Gesellschaft nicht auf Beliebigkeit basieren kann. Individualismus und auch Freiheit heißt in Skandinavien eben nicht, dass jeder alles machen kann, was er will. Wenn die skandinavischen Gesellschaften in manchem Vorbildfunktion hatten und haben, worin der Linken sicher zugestimmt werden kann, dann hatte dies seine Bedingungen: Man muss sich eben entscheiden. Und diese Bedingungen waren und sind im gesellschaftlichen Konsens zu suchen, der sich unter anderem im Jantegesetz äußert. Die Haltung der deutschen Linken zu „ihren“ skandinavischen Vorzeigeländern war eigentlich verlogen, weil sie in ihrem radikal-egoistischen Individualismus deren ideelle Voraussetzung, nämlich eben jenen Konsens selbst nie akzeptiert hätte. Dieser Konsens bewirkte nicht zufällig die nobelste Rettung im Holocaust – fast alle jüdischen Dänen kamen aufgrund der entschlossenen Haltung von Regierung und Bürgern, die die Juden als integrierte und gleichberechtigte Mitglieder ihrer Gesellschaft sahen, mit dem Leben davon. Der Jante-Konsens ist heute bedroht. Henningsen dazu: „Einwanderung, Globalisierung und Internationalisierung sind die größten Feinde von Jante und werden Veränderungen im kollektiven Seelenhaushalt bewirken.“ Tatsächlich: Wenn Einwanderer, besonders aus islamischen Ländern, meinen, diesen Konsens zerstören zu müssen, muss gefragt werden, ob dabei nicht derselbe infantile Gestus vorliegt, der der deutschen Ideologie des radikalen Individualismus zugrunde liegt. Da heißt es mit einer naiven Auffassung von Freiheit: Ich will aber etwas Besonderes sein, ich will mich nicht anpassen, Anpassung ist Diskrimination. Das Pikante dabei ist, dass diese Menschen aus einer islamisch-kollektiven Gesellschaft kommen und einen (nicht skandinavisch definierten) Individualismus gegen den Jante-Konsens in Stellung bringen, um durch die Hintertür wieder kollektive Zwänge wie zum Beispiel Bekleidungsvorschriften durchzusetzen. Es ist in diesem Kontext kein Zufall, dass Jyllands-Posten, ausgerechnet eine dänische Zeitung, das einzige mutige Statement der westlichen Welt zur Pressefreiheit abgegeben hat.

Bescheidenheit und Leistung


Kommen wir nun zum letzten gedanklichen Fehler in den Ausführungen Knollers. Er meint, das Jantegesetz stünde im Widerspruch zur Leistung, zur Exzellenz und „dem Bestreben, der Beste zu sein.“ Und natürlich wird das Jantegesetz auch innerskandinavisch kritisiert, wie der Skandinavist Bernd Henningsen erläutert – es handelt sich nicht um eine totalitär-monolithische Gesellschaft. Er zitiert den norwegischen Regisseur Nils Gaup, der es für „konformistisch“ hält. Mag es auch im Alltag zu Gängelei und manchen Auswüchsen des Neides gegen Leistungsträger und Besserverdienende führen, so ist die Befürchtung der Unterdrückung von Leistung doch in der Sache offenkundig falsch. Das dänisch (nämlich als soziokultureller Code des Umgangs) verstandene Mittelmaß schließt Genialität nicht aus. Nehmen wir an, das Jantegesetz war avant la lettre schon im 19. Jahrhundert in Kraft, so finden wir die Schriftsteller Hans Christian Andersen, Karen Blixen und Martin Andersen Nexø, den Philosophen Søren Kierkegaard, den Physiker Niels Bohr, den Architekten und Maler Per Kirkeby, die Filmregisseure Carl Theodor Dreyer und Lars von Trier, den Komponisten Carl Nielsen und den Bildhauer Bertel Thorvaldsen. Ferner sind weltbekannt die Biermarke Tuborg, der Uhrenhersteller Skagen und der HiFi-Hersteller Bang & Olufsen. Die Liste könnte problemlos fortgesetzt werden. Wie viele Einwohner hat dieses Dänemark eigentlich? Es sind gerade mal fünfeinhalb Millionen. Ganz schön wenig für so viel Exzellenz: Es ist also offensichtlich möglich, bescheiden zu sein und Leistung zu bringen. Darauf kämen Deutsche nie. Es ist lächerlich, das Jantegesetz in Gegensatz zur Leistungsbereitschaft zu setzen, aber ganz offenkundig kann ein deutscher Autor der sozialdemokratisch erzogenen Generation nicht anders – und auch viele junge Dänen scheinen unter dem Druck der Internationalisierung und Globalisierung mürbe zu werden, wie Knollers Hoffnung auf den Einzug des ungebremsten Individualismus zeigt.


Die Gegner des Konsens


Wer hat ein Interesse daran, ein gut funktionierendes Gesellschaftsmodell wie das dänische schlecht zu machen, indem er Jante, die Grundlage dieses Modells – bewusst, unbewusst? – falsch interpretiert? Es sind ganz offen-sichtlich einmal diejenigen, die ihre egoistischen Ziele ohne normative Einschränkung ausleben wollen und darum in jeder Verpflichtung eine unerträgliche Einschränkung ihrer Freiheit sehen (zum Beispiel also die deutschen Linken, die Freiheit vornehmlich als „Freiheit von“ verstehen, aber auch diejenigen sehr zahlreichen Deutschen, die nur an einer Spaßgesellschaft interessiert sind). Vielleicht ist es aber auch nicht ganz falsch, hinter dieser in der ganzen nicht-skandinavischen westlichen Welt, besonders aber in Deutschland vorherrschenden Auffassung von Individualismus und Freiheit handfeste wirtschaftliche Interessen zu vermuten. Auch in Skandinavien soll keine Ächtung von Egoismus und Gier, soll kein sozialer gesellschaftlicher Zusammenhalt mögliche Profite verhindern. Konsequenz wäre eine neue Klassengesellschaft. Des weiteren machen das skandinavische Modell diejenigen schlecht, die von den Errungenschaften dieser Gesellschaft profitieren wollen, ohne die Voraussetzungen des Erfolgs akzeptieren und also dem Konsens beitreten zu wollen (insbesondere die muslimischen Einwanderer). Auch sie höhlen dieses Modell aus.

Für meine Begriffe geht es darum, ob ein funktionierendes liberales, ziviles Gesellschaftsmodell erstrebenswert und nachahmenswert ist. Ich finde ja. Das geht aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Sagen wir ja zu dieser Gesellschaft, müssen wir ja sagen zu ihren Voraussetzungen. Finden wir diese Gesellschaft gut und richtig, so sollten wir sie verteidigen – in Wort und Tat. Welche Vorstellung von Freiheit haben wir? Eine naiv-infantile oder eine verantwortungsbewusste? Ist Individualität Mittel zur konsumistisch befeuerten Selbstdarstellung oder zur schöneren Teilhabe an der Gemeinschaft? Wandern etwa Menschen aus skandinavischen Ländern in den islamischen Kulturkreis aus oder gibt es vielmehr eine Wanderungsbewegung aus islamischen Ländern nach Skandinavien? Woran liegt das und welche Konsequenzen sollte das haben?
In Deutschland, wo immer schon übertrieben wurde, wo man von einem Extrem in das andere fällt, versucht man heute die Quadratur des Kreises: verantwortungslose und uneingeschränkte Freiheit für alle. Also Freiheit, die keine ist. Dänemark lehrt mit dem Jantegesetz, dass eine liberale, zivile Ge-sellschaft Konsens außerhalb der Verfassungskonformität braucht, der auch durchgesetzt werden muss. Besonders ist hervorzuheben, dass sich Jante zwar an die Zehn Gebote anlehnt, aber selber keineswegs religiös gebunden, sondern säkular ist. In Deutschland wurde mit verunglückten Begriffen wie der Leitkultur vergeblich versucht, Konsens zu schaffen. Natürlich muss es nicht der skandinavische Konsens sein, er wäre auch, schon aus historischen Gründen, nicht übertragbar. Es sollte in Wirtschaft und Gesellschaft überlegt werden, welchen Konsens wir gegenüber „den eigenen Leuten“ und gegenüber Einwanderern anstreben und wie wir ihn durchsetzen wollen, und um welchen Preis, den er zweifellos auch kosten wird in einer zunehmend schwierigeren Situation – angesichts eines zerfallenden Schul- und Ausbildungswesens, einer immer weniger ausgewogenen Klassengesellschaft mit immer mehr sozialen Gegensätzen, einer sprachlich, ethnisch, religiös und kulturell immer inhomogeneren Gesellschaft. Dass ein Konsens nötig sein wird und auch seine vielleicht schmerzliche Durchsetzung, das steht doch eigentlich außer Frage.

Der Beitrag erschien ursprünglich im Buch des Verfassers „Deutsche Befindlichkeiten. Eine Umkreisung. Artikel und Essays“ im Verlag Die Blaue Eule 2012.

Über Adorján F. Kovács 36 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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