Cara Judita – Erstmals in München: ein Oratorium Vivaldis

Vor dem Mord an dem liegenden Holofernes (Laura Mayer): die dreifache Judith (Elisabeth Freyhoff, Haozhou Hu und Tamara Obermayr). Foto: Cordula Treml

Warum zeigt er sich nicht beim Schluss-Applaus für das von ihm in München erstmals gezeigte Vivaldi-Oratorium „Juditha triumphans“, der glückhafte Regisseur Alexander Nerlich, zusammen mit seiner famosen Ausstatterin Thea Hoffmann-Axthelm und der Choreografin Jasmin Wretemark-Hauck? Beifall entgegennehmen ist deren Sache nicht, wie es scheint. Joachim Tschiedel, der ein erlesenes Kammerorchester (nicht ohne drei historische Instrumente, darunter die Schalmei) mit Akkuratesse anfeuert, ziert sich nicht, sondern freut sich sichtlich über den Erfolg beim zustimmenden Publikum.

Es muss gefühlt nur halb so lange aushalten, wie Antonio Vivaldi sein „Sacrum Militare Oratorium“ auf das lateinische Libretto Giacomo Cassettis für das Venezianer Pio Ospedale della Pietà 1706 kreierte. Nerlich erzielt mit entschiedenen Strichen eine hohe Konzentration seiner ausgeklügelten Version. In Nuce geht es dem Alten Testament zufolge um den Kampf der Jüdin Judith gegen den Barbaren Holofernes und seinen Adlatus Vagaus, die die Stadt Bethulien zu vernichten drohen. Für den Zuschauer, der auf die Vorhang-lose Szenerie einer „stark abstrahierten, ausgedachten `Kirche des Bluts` mit roten Wänden aus Lkw-Planen“ schaut und einem „eigens konstruierten theatralen Ritual“ ausgesetzt ist, mag nicht sofort erkennbar sein, Judith in drei Darstellerinnen (Elisabeth Freyhoff, Haozhou Hu, Tamara Obermayr) getrennt und Holofernes (Laura Mayer) sowie Vagaus als Männer zu begreifen. Dass die Witwe Abra in lesbischer Beziehung zu Judith steht, wird kaum deutlich. Dagegen wird, wenngleich nur am Szenen-Rand, die geradezu tierische Liebe Vagaus` zu Abra erkennbar.

Die starke Abstraktion seiner packenden einstündigen Inszenierung erklärt Nerlich mit bewusstem Hinein-Bohren in die im Lauf der Zeit erfolgten Verhärtungen und Überlagerungen der beiden Zentralfiguren. Er will „das rote Innere sehen“ lassen: „komplexe seelische Vorgänge, Widersprüche und Hoffnungen, um wieder ein Gefühl für die Komplexität des Stoffes und die vielen Verwundungen zu bekommen“. So erklärt er im ausgezeichneten Programmheft.

Dem auf dem linken Seitenstreifen eng platzierten Orchester Achtung zu schenken, fällt schwer; ist man, wenn auch der lateinische Text durch deutsche Übertitel präsent wird, doch bis zum fabelhaft gelösten Schluss mit dem abgeschlagenen Schweinskopf und der sich opfernden Cara Judita mit dem Goutieren einer Fülle von Überraschungsmomenten, erreicht mit einer Reihe stark bildhafter Requisiten und Gesten, beschäftigt. Das Darsteller-Ensemble, alles nicht-deutsche Mitglieder dreier Akademie-Studienjahrgänge, erweist sich als exzeptionell und sportiv. Es reicht – dazu nur die Beispiele Abra der Ukrainerin Katya Semenisty und Vagaus der Isländerin Harpa Osk Björnsdóttir – an Staatsopern-Niveau heran. – Besuchs-Gelegenheiten: 20. und 22. Juli, 19.30 Uhr. Tickets: 089 2185-1970, tickets@theaterakademie.de

Über Hans Gärtner 459 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.