Die Karwoche mit einem höchst selten gespielten geistlichen Werk des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzuleiten – allein dies kann als Schlagzeile für Mühldorfs Kulturleben gelten. Hinzukommt, dass das nicht etwa in einer der sechs (katholischen) Stadtkirchen geschah, sondern in der evangelischen Erlöserkirche, von Architekt Johannes Ludwig (1904 bis 1996) im ersten Nachkriegsjahrzehnt in kühler Schönheit geschaffen.
Für Musikdirektor André Gold stand der gewählte Ort für seine mit dem „Jungen Kammerchor euregio“ einstudierte Kreuzwegkantate schon deshalb fest, weil er von der Idee des Komponisten Franz Liszt (1811 bis 1886) ausging. Dessen Alters-Vision als Sakralmusik-Erneuerer war es, die katholische und evangelische Kirchenmusik zu vereinen. In keinem anderen Gotteshaus der Innstadt war das angemessener zu realisieren als in der in vorösterliche Farben getauchten Erlöserkirche. Hier konnte André Gold mit seinem erst kürzlich gegründeten jugendlichen Ensemble und einer herausragenden Pianistin Liszts Passionskantate der Jahre 1878/1879 einem empfangsbereiten Publikum nahebringen.
„Via Crucis“ beschreibt textlich und musikalisch stringent, abstrahierend und bildkräftig den Weg des zur Kreuzigung auf den Kalvarienberg schreitenden Jesus mit den traditionellen 14 Stationen. Dissonantes und Chromatisches drücken da das Schmerzvolle, mehrmals pointiert Gerufenes das Erregende und Unvermeidliche von Jesu Erlösungstat aus. André Gold wählte die autographe Fassung für Klavier und gemischten Chor, der deutsche, lateinische und aramäische Texte zu singen hatte. Der über den Dingen stehende, von tiefem Ernst erfüllte Dirigent konnte sich dabei voll und ganz auf die vom erschütternden Inhalt des Leidenswegs Jesu Christi ergriffene Mühldorfer Pianistin Eva Barbarino verlassen. Sie versenkte sich in die ins 20. Jahrhundert hinein weisende Partitur. Sie verstand es, bescheidend bleibend und unaufgeregt, ihr sowohl das herkömmlich gewohnt Innige als auch das avantgardistisch Verstiegene zu entlocken. Das macht ihr, der Versierten, dabei jede „Zeile“ spirituell Denkenden, nicht gleich jemand nach.
Zum uneingeschränkten Erfolg dieser kaum eine volle Stunde dauernden Darbietung trugen zwölf Mitglieder, sechs Damen und sechs Herren, des „Jungen Kammerchors euregio“ bei. Dem Anlass entsprechend trug man, vor dem Altarraum dicht nebeneinander aufgereiht, Schwarz. Die mehrmals chorisch beklagte Fall-Situation „Jesus cadit“ gelang den Herren nicht weniger eindringlich als die von den Damen zart und in helle Farben gekleideten Passagen des „Stabat mater dolorosa“. Die solistisch wie im Chorverbund brillierenden vielversprechenden Sängerinnen und Sänger – sie gehören übrigens zum einzigen Förder- und Nachwuchsprojekt der gesamten Region Inn-Salzach – waren durchwegs verständlich in der coolen Textgestaltung und sicher in den dramaturgisch geforderten Einwürfen („Crucifige!“) und Chorälen („O Haupt voll Blut und Wunden“). Sie sind auf dem besten Weg zu überregionalen künstlerischen Einsätzen.
Dass ihnen mitsamt den Inhabern der Pult- und Piano-Partie herzlicher Beifall trotz des eher Zurückhaltung gebietenden Gehalts der Kantate gebührte, war „Gold“-richtig. Ihren Dank erwiderten die vier Stimmen, aufgereiht an den Fensterseiten, mit dem Solo-Quartett „Wirf dein Anliegen auf den Herrn“ aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“. Dieses große Werk steht im Moment ganz oben auf Golds Proben-Plan. Es kommt im Rahmen der heuer ihr 50-jähriges Jubiläum begehenden Reihe „Musiksommer zwischen Inn und Salzach“ am Sonntag, 1. Juni um 19 Uhr in der Basilika St. Anna, Altötting, zum Klingen.