Resilienzforschung durch Holocaust-Überlebende

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Resilienz beschreibt die psychische Widerstandskraft. Diese bewährt sich besonders in der Bewältigung von Extrembelastungen und Traumata. In der Nachkriegszeit gab es zahlreiche Psychoanalytiker, die sich der Trauma- und Holocaust-Forschung widmeten. Erst mit der Etablierung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung in der 80er Jahren erhielt diese Forschung neuen Auftrieb. Besonders eindrucksvoll sind jene Psychoanalytiker, die am eigenen Leib die Holocaust-Verfolgung gespürt haben und dann wesentliche Beiträge zur Trauma- und Resilienzforschung beitrugen. Sie haben eine besondere Authentizität und Glaubwürdigkeit. Drei Psychoanalytiker waren selbst im KZ und haben dies überlebt. Dies gilt für Ernst Federn, Bruno Bettelheim und Viktor Frankl. Dabei hat Frankl eine besondere Rolle, weil er sich frühzeitig von Sigmund Freud und Alfred Adler abgewandt hat und mit der Logotherapie und Existenzanalyse eine eigene Psychotherapieschule gründete. Das Buch über seinen KZ-Aufenthalt ist das erste und erfolgreichste Werk eines Psychotherapeuten, der das KZ überlebte. Viele KZ-Überlebende wurden berühmte Schriftsteller, z.B. Jean Amery , Primo Levi oder Imre Kertesz. KZ-Überlebende als Psychoanalytiker gibt es nur wenige. Hans Keilson und Boris Cyrulnik waren nicht im KZ inhaftiert, waren aber in ihrem eigenen Land damit bedroht und verfolgt. Boris Cyrulnik war schon im Sammeltransport zum KZ und konnte in letzter Minute gerettet werden. William G. Niederland und Judith Kestenberg haben viel zum Thema Trauma, Holocaust und Resilienz geschrieben. Sie konnten rechtzeitig fliehen, gingen ins Exil in die USA und verwirklichten dort ihre Forschung. Die genannten sieben Psychoanalytiker waren jüdischer Herkunft und sind im deutschsprachigen Raum geboren und aufgewachsen. Sechs von ihnen – mit Ausnahme des jüngeren Boris Cyrulnik – sind in den Jahren zwischen 1903 und 1914 geboren. Sie waren also zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 25 bis 35 Jahre alt und überlebten den Holocaust.

Wie konnten wir das überleben? Das Holocaust-Trauma als Stimulus für Resilienzforschung

Die sieben Psychoanalytiker, die den Holocaust überlebten, wurden Wissenschaftler und Forscher. Sie fragten sich, wie sie die erlittenen Traumata des Holocaust bewältigen konnten und wollten dies anderen mitteilen. Sie brauchten unterschiedlich lange, um sich dieser schwierigen Herausforderung zu stellen. Viktor Frankl schrieb seinen Erfahrungsbericht über seine KZ-Erlebnisse direkt nach der Befreiung im Jahr 1945. Boris Cyrulnik konnte seine Autobiographie erst mit 75 Jahren schreiben. Vorher war er durch das Trauma blockiert, die Worte waren gefroren. Gemeinsam ist den genannten Psychoanalytikern, dass sie eine Sprache gefunden haben für das große Leid, das ihnen widerfahren ist. Und sie schrieben es mit dem Gefühl einer Berufung, anderen Menschen zu helfen, die ähnliches erlitten haben oder in Zukunft erleiden. Gerade die Kriegsverbrechen und die inhumane Grausamkeit der russischen Armee im Ukrainekrieg zeigt, dass etwa 80 Jahre später solches Grauen wieder möglich wurde.

Ernst Federn, Viktor Frankl und Bruno Bettelheim überlebten das KZ, wurden Psychoanalytiker und Resilienzforscher

Bruno Bettelheim (1903 – 1990) wurde bereits 1938 im KZ Dachau und anschließend im KZ Buchenwald inhaftiert. Nach 11 Monaten KZ-Aufenthalt wurde er im Jahr 1939 nach Unterstützung durch die Ehefrau des US-Präsidenten Roosevelt entlassen und durfte in die USA emigrieren. Dort gelang ihm eine Hochschulkarriere als Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Von 1952 bis 1973 war er an der Universität Chicago. Seine KZ-Erlebnisse schrieb er in dem Buch „Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituationen“ nieder.

Ernst Federn (1914 – 2007) war Sohn des Wiener Psychoanalytikers Paul Federn. Er wurde wegen kommunistischer Aktivitäten bereits im März 1938 verhaftet und verbrachte zuerst 4 Monate im KZ Dachau. Dann wurde er ins KZ Buchwald verlegt. Dort war er fast 7 Jahre. Einige Monate war er Mithäftling von Bruno Bettelheim, der viele Jahre vor ihm entlassen oder befreit wurde. Federn schrieb gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Buch „Versuch einer Psychologie des Terrors.“ Dieses fand damals keine Beachtung. Es wurde schließlich im Jahr 1999 von Roland Kaufhold im Psychosozial-Verlag herausgegeben. Im Jahr 1948 emigrierte er in die USA und arbeitete dort als Psychotherapeut. 1973 kehrte er nach Österreich zurück.

Viktor Frankl (1905 – 1997) wurde im September 1942 verhaftet und ins KZ Theresienstadt gebracht. Im Oktober 1944 wurde er ins KZ Auschwitz verlegt, schließlich im März 1945 in der Außenlager Türckheim des KZs Dachau. Dort wurde er am 27. April 1945 von den Amerikanern befreit. Sein Buch mit dem Titel „…Trotzdem Ja zum Leben sagen“ erschien bereits 1946 und wurde zum Welt-Bestseller. Es hat insgesamt die höchste Auflage aller Bücher über den Holocaust mit mehr als 12 Millionen verkauften Exemplaren.  Es wurde in 28 Sprachen übersetzt. Die amerikanische Ausgabe „Man´s Search for Meaning“ hat die größte Verbreitung gefunden. Nach seiner Befreiung hat Viktor Frankl in Wien die Logotherapie und Existenzanalyse als eigenständige Psychotherapie-Richtung gegründet.

Bruno Bettelheim, Ernst Federn und Viktor Frankl waren als KZ-Überlebende die überzeugendsten Garanten dafür, das Überleben von Terror und Extremsituationen in ihrer psychologischen Tiefe darzustellen. Ihre Hauptwerke zum Holocaust verbinden lebendige Erinnerung des selbst Erlittenen mit der psychologischen Analyse.

Der Holocaust-Verfolgte Hans Keilson wurde Psychoanalytiker, Traumaforscher  und 101 Jahre alt

Hans Keilson (1909 – 2011) wurde in Bad Freienwalde an der Oder geboren und hat in Berlin Medizin studiert. Er war einer der letzten jüdischen Medizinstudenten, die noch das Staatsexamen ablegen konnten. Dann erhielt er Berufsverbot und emigrierte 1936 in die Niederlande. Dort schloss er sich einer Widerstandsbewegung an und kümmerte sich um traumatisierte jüdische Waisenkinder. Seine Eltern wurden ins KZ Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Er selbst lebte in den Niederlanden im Untergrund und musste sich permanent verstecken. Nach dem Krieg erwarb er die niederländische Zulassung als Arzt, wurde Facharzt für Psychiatrie und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. Im Jahr 1979 promovierte er über „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern.“ Er war mittlerweile 70 Jahre alt – es war also eine späte Promotion. Der Inhalt seiner Untersuchung war jedoch eminent bedeutsam für die weitere Traumaforschung. Keilson erkannte, dass das Trauma kein einzelnes Ereignis ist, sondern eine Abfolge traumatischer Sequenzen. Entscheidend ist nicht nur, was initial erlebt wurde, sondern was auf das traumatische Ereignis folgt. Das Trauma wird so zu einem jahrelangen Prozess, in dem die Wechselwirkungen mit dem sozialen Umfeld eine große Rolle spielen.

Boris Cyrulnik als Pionier der Resilienzforschung

Boris Cyrulnik (geb. am 26. Juli 1937 in Bordeaux) ist ein renommierter französischer Neurologe, Psychiater, Psychoanalytiker und Ethologie. Er gilt als einer der bedeutendsten Resilienzforscher. Da er wegen seiner jüdischen Herkunft selbst im Zweiten Weltkrieg verfolgt und traumatisiert wurde, hat er zum Thema der Resilienz eine sehr authentische Position. Die Eltern von Boris Cyrulnik stammten aus der Ukraine und aus Polen. Sie emigrierten im Jahr 1936 nach Frankreich. Sein Vater war französischer Soldat und geriet in Kriegsgefangenschaft. Dort wurde seine jüdische Herkunft erkannt und er wurde nach Auschwitz deportiert. Er starb ebenso in einem KZ wie seine Ehefrau. Nun war Boris Cyrulnik bereits mit fünf Jahren Vollwaise. Die Mutter konnte ihn noch vor ihrer Deportation retten und in einer Pflegefamilie unterbringen. Im Januar 1944 wurde er bei einer Razzia erfasst und wurde in einer Synagoge eingesperrt, die als Sammellager für die Deportation ins KZ fungierte. Er konnte erfreulicherweise fliehen. Nur zwei von 1.700 Personen überlebten diese Aktion – er war einer davon. Seine Rettung und sein Leben danach beschrieb er in seiner Autobiographie „Rette ich, das Leben ruft.“ (Cyrulnik 2013). Nach der Rettung pendelte er zwischen einer Tante und einer Pflegefamilie. Er schaffte das Abitur und studierte Medizin. Nach dem Studium qualifizierte er sich als Arzt für Neurologie und Psychiatrie und machte eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Er war Studiendirektor der Fakultät Humanwissenschaften an der Universität von Toulon. Zusätzlich war er Inhaber eines Lehrstuhls für Ethologie und leitete eine Forschungsgruppe für Klinische Ethologie am Krankenhaus von Toulon. Seine Haupt-Forschungssgebiete waren jahrzehntelang die Resilienz- und Traumaforschung.

Das erste Buch, das in deutscher Übersetzung erschien, führte bereits zentral in die Thematik der Resilienz. Es trägt den Titel: „Die Kraft, die im Unglück liegt. Von unserer Fähigkeit, am Leid zu wachsen.“ Cyrulnik faszinierte das Paradoxon, dass sich Menschen trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschläge gesund entwickeln und ein erfolgreiches Leben führen können. Er schreibt viel von kindlichen Opfern, von Flüchtlingskindern oder „seelisch verletzten Kindern“. Dabei identifiziert er Faktoren, die günstig oder ungünstig sind für die weitere Lebensentwicklung. Am Leid zu wachsen ist sein Hauptthema. Mit Bezug auf Elias Canetti postuliert er: „Der Überlebende ich ein Held, der sich schuldig gemacht hat, den Tod getötet zu haben.“  Cyrulnik hebt das „Trotzdem“ hervor – trotz aller Belastungen sieht er die Chance für seelisches Wachstum. Die von ihm beschriebene Trotzreaktion erinnert an den Bestseller „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ von Viktor Emil Frankl, der dieses Buch als KZ-Überlebender geschrieben hat (Frankl 1946).  Der jüdische Psychiater William Niederland (1980) widmete sich jahrelang der Psychologie des „Überlebenden-Syndroms“. Das Wachsen am Leiden ist ein zentrales Thema der Resilienz- und Traumaforschung. Dieses Phänomen wird „Posttraumatic Growth“ oder Posttraumatisches Wachstum genannt.

Das Buch „Rette dich, das Leben ruft!“ (2013) ist die Autobiographie von Boris Cyrulnik. Der Autor beginnt mit seinem sechsten Lebensjahr, in dem sein Leben durch die Nazi-Vernichtungsmaschinerie bedroht war. Er war gefangen und zum Abtransport ins KZ vorgesehen. Die 1.700 Juden, die mit ihm dieses Schicksal teilten, sind fast alle im KZ umgebracht worden. Nur zwei überlebten. Er war einer von ihnen. Cyrulnik beschreibt ausführlich die Dramatik seiner Rettung. Die Kindheit, die Rettung und später der Umgang mit Erinnerungen nehmen den größten Raum ein. Sein Studium, sein Arztberuf, seine selbst gegründete Familie tauchen nur andeutungsweise auf. Das Holocaust-Trauma überragt und überdeckt alles. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass Cyrulnik bereits 75 Jahre alt war, als der dieses Buch schrieb. Vorher hätte er es gar nicht schreiben können. Warum nicht? Es war eine eiskalte Mauer des Schweigens um ihn herum. Die Worte waren gefroren. Es war eine lange Eiszeit der Worte. Das fünfte und letzte Kapitel des Buches trägt die Überschrift „Gefrorene Worte“. Cyrulnik zitiert in diesem Zusammenhang eine lange Passage des französischen Schriftstellers Rabelais über gefrorene Worte, die wieder auftauen, wenn es wärmer wird. Die Schweige-Mauer hatte mit seinem persönlichen Umfeld in der Nachkriegszeit zu tun. Die Verbrechen und die Kollaboration vieler Franzosen mit Nazis waren tabu. Der Auschwitz-Prozess in Deutschland konnte erst 18 Jahre nach Kriegsende stattfinden. Es gab eine kollektive Verdrängung, die die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen erschwerte. Cyrulnik konnte über die traumatischen Erlebnisse nicht sprechen – und er hatte das richtige Gefühl, dass die meisten es auch nicht hören wollen. Ein Schlüsselerlebnis für ihn war der Prozess gegen den NS-Kollaborateur Maurice Papon im Jahr 1997. Papon hatte in der Nachkriegszeit hohe politische Ämter und kam mehr als 50 Jahre ungeschoren davor, obwohl ja viele wussten, an welchen Verbrechen er wesentlich beteiligt war. Er wurde schließlich zu zehn Jahren Haft verurteilt. Für Cyrulnik war dies eine innere Befreiung. Nun geriet auch die Schweige-Mauer ins Wanken und die gefrorenen Worte tauten auf. Dies war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Cyrulnik im hohen Alter überhaupt noch dieses Buch schreiben konnte. Ihm ging es ähnlich wie dem Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz. Dieser war als Kind in KZ und überlebte dies. Lange konnte er nicht über die traumatischen Erlebnisse im KZ schreiben. Und in seinem Heimatland Ungarn war das Holocaust-Thema weitgehend tabu. Erst als Kertesz nach dem Fall es Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 in den Westen zog, konnte er vier Romane darüber schreiben. Diese berühmt gewordene „Tetralogie der Schicksallosigkeit“ begründete seinem schriftstellerischen Ruhm und wurde mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt (Kertesz 1996, Csef 2018). Kertesz war da bereits älter als 70 Jahre. Boris Cyrulnik war 75 Jahre, als er sein Rettungs-Buch schrieb.

Boris Cyrulnik ist nicht nur ein weltweit bekannter Resilienz- und Traumaforscher. Er ist auch einer der erfolgreichsten französischen Sachbuchautoren der Neuropsychiatrie. Seine Bestseller wurden in viele Sprachen übersetzt. Er hat mehr als 20 Sachbücher verfasst. Fast die Hälfte davon wurden ins Deutsche übersetzt. Mittlerweile wurden mehr als 2,5 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Sein neuestes Buch „Die mit den Wölften heulen“ stand in Frankreich wochenlang auf Platz 1 der Bestseller-Liste. Neben den hier beschriebenen Büchern über die Resilienz hat er auch Werke über ganz andere Themen der Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse geschrieben, z.B. über die Scham, über Kinder-Suizide oder über Glauben und Spiritualität. Mittlerweile ist er 85 Jahre alt und äußert sich weiterhin rege zu aktuellen Themen wie die Bewältigung der Corona-Krise oder den Ukraine-Krieg.

William G. Niederland und Judith Kestenberg – Holocaust-Forschung im Exil

William G. Niederland (1904 – 1993) wurde in Ostpreußen geboren und studierte an der Universität Würzburg Medizin. Sein Vater war Kantor und Rabbiner in Würzburg. Er promovierte noch in Würzburg ging dann aber bald ins Exil nach Amerika. Dort wurde er Psychiater und Psychoanalytiker. Bereits 1952 erhielt er eine Professur. Seine frühesten Arbeiten zum Holocaust erschienen in amerikanischen Fachzeitschriften und widmeten sich dem „Survivor Syndrome“. Im Jahr 1965 erschien die der deutschen psychoanalytischen Zeitschrift „Psyche“ eine richtungsweisende Arbeit über die psychischen Spätschäden nach politischer Verfolgung (Niederland 1965). Dort führte er aus, dass die körperlichen Misshandlungen und Erniedrigungen, das chronische Hungern und alle Entbehrungen einen Zustand völliger Hilf-, Wehr- und Ausweglosigkeit hervorriefen, die zu wiederholten Panikzuständen, Selbstverachtung, Selbstentfremdung und Entmenschlichung führten. Sein Standardwerk „Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord“ erschien im Suhrkamp-Verlag (Niederland 1980). Darin beschrieb er das Phänomen der „Überlebensschuld“. Das sind Selbstvorwürfe von Überlebenden, die sich für Versäumnisse schuldig fühlen oder glauben, dass sie es nicht verdient haben, überlebt zu haben, während andere sterben mussten.

Judith Kestenberg (1910 -1990) wurde in Österreich geboren und studierte in Wien Medizin. Weil sie verfolgte Sozialistin war, emigrierte sie im Jahr 1937 in die USA. In New York arbeitete sie mit den Psychoanalytikern Paul Schilder und Hermann Nunberg zusammen. Sie wurde Professorin für Psychiatrie an der New York University. Ihr Spezialgebiet wurde Entwicklungspsychologie und sie arbeitete überwiegend mit Kindern. Entsprechend lieferte sie zur Holocaust-Forschung überwiegend Beiträge über Kinder von Überlebenden – also die nächste Generation. Diese Forschungen haben viele Gemeinsamkeiten mit denen von Hans Keilson und Boris Cyrulnik bezüglich der Traumatransmission an nachfolgende Generationen. In einem Psyche-Artikel schrieb sie über Kinder von Überlebenden der Naziverfolgungen. Mit Martin S. Bergmann und Milton E. Jucovy gab sie das Standardwerk „Kinder der Opfer. Kinder der Täter.“ heraus (Bergman et al 1995).

Alle sieben Resilienz-Pioniere wurden älter als 80 Jahre 

Die Resilienz als psychische Widerstandskraft sollte auch eine Fähigkeit von Resilienzforschern sein. Sie verfolgen mit großem Engagement, Kreativität und Innovationskraft das Ziel, diesen Schatz zu heben, der Menschen helfen kann, Traumata zu bewältigen und am Leid zu wachsen. Resiliente Menschen sollten auch gesünder sein und besser leben. Das gilt auch für Resilienzforscher selbst, falls sie von ihren eigenen Erkenntnissen profitieren können. Die hier vorgestellten sieben Pioniere der Resilienzforschung sind alle älter als 80 Jahre alt geworden, Hans Keilson sogar 101 Jahre. Das dürfte für sich sprechen.

Vom Überleben zum Leben

Die hier beschriebenen Holocaust-Überlebenden, die sich später als Forscher der Resilienz und dem Trauma widmeten, hatten selbst großes Leid erleben und bewältigen müssen. Das dürfte der wesentliche Kern ihrer inneren Motivation gewesen sein, sich diesen Fragen und Herausforderungen zu stellen. Nachfolgende Generationen haben durch deren Erkenntnisse viel zur Lebensbewältigung hinzugewonnen. „Am Leid wachsen“ – wie Boris Cyrulnik in einem seiner Buchtitel schreibt – ist eine Bereicherung für den Betroffenen und seine Umwelt. Posttraumatisches Wachstum ist ein zentrales Thema der Resilienz- und Trauma-Forschung. Das „nackte Überleben“ wird durch die Wachstumsprozesse zu einer gesteigerten Lebenskraft und damit zu einer Existenzsteigerung.

Die Überlebenden sind jene, die immer wieder eine Sprache gefunden haben für das Unaussprechliche. Die Tiefe des Leidens, die unerträglichen Qualen, der Terror der Täter. Diese verschlugen vielen die Sprache, raubten die Worte oder ließen die Worte gefrieren (Cyrulnik). „Wohin die Sprache nicht reicht“ – so beschrieb Hans Keilson (1984) dieses Unfassbare. „Das Unausgesprochene macht krank“, so lautet ein Credo der Psychotherapie. Die Sprache für das Leid wiederzufinden und die Schwere desselben auszudrücken, ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit.

Der KZ-Überlebende und spätere Schriftsteller Primo Levi schrieb in seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (1990):

„Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“

Literatur

Bergmann, Martin S., Jucovy, Milton E., Kestenberg, Judith (Hrsg.) Kinder der Opfer. Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Fischer, Frankfurt am Main 1995

Bettelheim, Bruno, Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituationen. DVA, München 1982

Csef, Herbert, Traumabewältigung als kreativer Prozess. Imre Kertesz – ein Überlebenskünstler. E-Journal Philosophie der Psychologie. März 2018, S. 1-6

Cyrulnik, Boris, Die Kraft, die im Unglück liegt. Von unserer Fähigkeit, am Leid zu wachsen. Goldmann, München 2001

Cyrulnik, Boris, Warum die Liebe Wunden heilt. Beltz, Weinheim/Basel 2006

Cyrulnik, Boris, Mit Leib und Seele. Wie wir Krisen bewältigen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2007

Cyrulnik, Boris, Rette dich, das Leben ruft. Ullstein, Berlin 2013

Cyrulnik, Boris, Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können. Droemer & Knaur, München 2023

Federn, Ernst, Versuch einer Psychologie des Terrors. Hrsg. Von Roland Kaufhold. Psychosozial-Verlag, Gießen 1999

Frankl, Viktor Emil, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Deuticke, Wien 1946

Keilson, Hans, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Ferdinand Enke, Stuttgart 1979

Keilson, Hans, Wohin die Sprache nicht reicht. Psyche 38 (1984) 915 – 926

Kertesz, Imre, Roman eines Schicksallosen. Rowohlt, Berlin 1996

Kestenberg, Judith, Kinder von Überlebenden der Naziverfolgungen. Psychoanalytische Beiträge. Psyche 28 (1974), S. 249 – 263

Levi, Primo, Die Untergegangenen und die Geretteten. Hanser, München 1990

Niederland, William G., Psychische Spätschäden nach politischer Verfolgung. Psyche 18 (1965) 888 – 895

Niederland, William G., Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom, Seelenmord. Suhrkamp, Berlin 1980

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.