Jenseits von Gut und Böse. Ferdinand von Schirach über Verbrechen, Schuld und Strafe

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Ferdinand von Schirach – Doppelexistenz als Jurist und Schriftsteller.

Als Schriftsteller ist Ferdinand von Schirach eine Art Spätberufener: Sein erster Erzählband erschien im Alter von 45 Jahren. Nach einem erfolgreichen Jurastudium ließ er sich mit 30 Jahren in Berlin als Rechtsanwalt in einer eigenen Kanzlei nieder und spezialisierte sich auf Strafrecht. Er hatte durchaus prominente Mandanten wie das frühere Politbüromitglied Günter Schabowski und den ehemaligen BND-Spion Norbert Juretzko. Weitere Prominente, Reiche und Industrielle, aber auch arme Verbrecher und Kleinkriminelle oder Angehörige der Unterwelt waren seine Mandanten.

Sein erster Erzählband „Verbrechen“ stand immerhin 61 Wochen lang auf der Bestsellerliste des Spiegels. Übersetzungen wurden in über 30 Ländern der Welt verkauft. Alle Folgebände wurden ebenfalls Bestseller. Mittlerweile ist Ferdinand von Schirach durch 10 Bücher und zwei Theaterstücke zum berühmten Schriftsteller und Dramatiker geworden. Kürzlich begann der Zeitredakteur Thomas E. Schmidt unter dem griffigen Titel „Der Wahr-Sager“ seinen umfangreichen Beitrag mit folgenden Worten:

„Preise, Jurys, Lorbeerkränze, hin oder her, der erfolgreichste deutsche Schriftsteller dieser Zeit heißt Ferdinand von Schirach. Alle seine Bücher rangieren ganz weit oben in den Bestseller-Listen, mehr noch, sein Publikum nimmt ihn auch als Kommentator von Zeitfragen ernst.“ (Thomas E. Schmidt 2020, S. 57).

Zahlreiche seiner Bücher sind zuerst im Luchterhand-Verlag erschienen, später in Taschenbuchausgaben mit hohen Auflagen. In den neueren Ausgaben ist auf dem Klappentext jeweils zu lesen:

„Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen „großartigen Erzähler“, die New York-Times einen „außergewöhnlichen Stilisten“, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei „eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur“. Die Erzählbände „Verbrechen“ und „Schuld“ und die Romane „Der Fall Collini“ und „Tabu“ wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als 40 Ländern. Sein Theaterstück „Terror“ zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit.“ (Luchterhand-Verlag).

Für sein erstes Buch, den Erzählband „Verbrechen“ erhielt Ferdinand von Schirach im Jahr 2010 den renommierten Kleistpreis. Seiner Dankesrede gab er den Titel „Jeder kann zum Mörder werden“.  Dieser Satz ist in der Folgezeit als Buchtitel von Kriminologen und forensischen Psychiatern aufgetaucht (Nahlah Saimeh 2012; Andreas Marneros 2012; Josef Wilfling 2012; Norbert Nedopil 2016). Dieser Satz sollte nachdenklich stimmen und er passt zur Grundmelodie, die alle Werke von Ferdinand von Schirach durchzieht.

Faszination für Strafrecht und gewaltsame Todesarten

Ferdinand von Schirach hat sich in seiner Anwaltstätigkeit sehr früh auf das Strafrecht spezialisiert. Ihn faszinieren die Menschen am Abgrund und jene scheinbar alltäglichen Situationen, in denen es zu Mord und Totschlag kommen kann. Von Schirach interessiert sich nicht für exotische Psychopathen, die lange geplant und kaltblütig ihre Verbrechen planen und durchführen. Er schreibt auch nicht über Serienmörder oder aufsehenerregende Sexualstraftäter. Seine Hauptfiguren sind ganz normale Menschen aus dem Alltag, die in Verwicklungen oder schwierige Situationen geraten und dann zum Straftäter werden. Die meisten in seinen Büchern beschriebenen Straftäter haben Beziehungstaten begangen – Tötungen des Liebespartners (Intimizide), Eifersuchtsdelikte, Kindstötungen, Rache an Nachbarn, Doppelsuizide oder Falschbeschuldigungen mit Verurteilung von Unschuldigen. Ferdinand von Schirach war vom 10. Bis 18. Lebensjahr Schüler im Jesuiten-Internat St. Blasien, ganz abgelegen im Schwarzwald. In dieser Abgeschiedenheit hat er viel gelesen, vor allem Philosophen. Die gelehrten Patres haben sein philosophisches Interesse noch gefördert. So hat Schirach auch Friedrich Nietzsche gelesen. „Jenseits von Gut und Böse“ – eines der Meisterwerke von Nietzsche – passt irgendwie zu Ferdinand von Schirach. Ihn bewegt, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse ist und dass die Gratwanderung zwischen Gut und Böse eine existenzielle Herausforderung darstellt. Allzu oft kommt es zu einem ungewollten Umschlag vom Guten in das Böse. Die weltberühmte Philosophin Hannah Arendt sprach von der „Banalität des Bösen“, wenn auch in einem anderen Kontext als von Schirach. In einem Interview bezog sich Ferdinand von Schirach auf das Faust-Fragment von Gotthold Ephraim Lessing. Dort antwortet der Geist auf die Frage von Faust: „Was ist das schnellste auf Erden?“ mit den Worten: „Der Übergang vom Guten zum Bösen“. Diese Worte könnten ein passendes Motto für die Trilogie von Schirach sein, in der er jeweils Straftaten aus seiner Anwaltskanzlei beschrieb.

Die Trilogie Verbrechen, Schuld, Strafe

Ferdinand von Schirach wählte für seine Werke bevorzugt „Ein-Wort-Titel“. Ein prägnantes Schlagwort oder Stichwort bringt alles auf den Punkt. Die drei Erzählbände seiner Trilogie über konkrete Fälle aus seiner Praxis sind „Verbrechen“ (2009), „Schuld“ (2010) und „Strafe“ (2018). Andere Bücher von Schirach tragen die Titel „Tabu“, „Terror“ oder „Trotzdem“. Die beiden Theaterstücke heißen „Terror“ (2015) und „Gott“ (2020). Die Trilogie „Verbrechen, Schuld, Strafe“ bringt Fälle aus seiner Tätigkeit als Strafverteidiger, die ihn besonders berührt haben. Er verfasste sie jedoch nicht als Tatsachenberichte, sondern als fiktional bearbeitete Fälle, in denen das Grundmuster stimmt. Das Wesentliche ist für ihn immer die Stimmigkeit oder Wahrheit der zugrundeliegenden Motivation für die Tat. Alles andere ist „Dichtung und Wahrheit“. Der Literaturkritiker Uwe Wittstock charakterisierte diese Kurzgeschichten wie folgt:

„Es sind kleine Meisterwerke darunter von enormer sprachlicher Präzision und Darstellungskraft.“ (Uwe Wittstock 2009)

Der bekannte Filmregisseur Michael Haneke lobte die Sprachkunst von Ferdinand von Schirach mit folgenden Worten:

„Immer wieder bin ich verwundert von Ferdinand von Schirachs Gabe, auf knappstem Raum das Widersprüchliche zu fassen, mit ein paar Worten den großen emotionalen Raum zu entwerfen. Immer wieder bin ich bis zu Tränen bewegt von dieser Kombination, von unsentimentaler Genauigkeit und wunderbarer, menschenfreundlichster Empathie, die seine Texte so unvergleichlich machen.“ (Michael Haneke)

Erfolge als Dramatiker

Im Jahr 2015 wurde das erste Theaterstück von Ferdinand von Schirach uraufgeführt. Es trägt den Titel „Terror“. Das Theaterstück handelt von einem Terroristen, der eine Maschine der Lufthansa kapert und den Piloten zwingt, Kurs auf die vollbesetzte Allianz-Arena in München zu nehmen. Ein Kampfpilot der Luftwaffe schießt das Flugzeug ab – dies entgegen dem Befehl seines Vorgesetzten. Alle Passagiere sterben. Der Kampfpilot muss sich vor Gericht für sein Handeln verantworten. Am Schluss sollen die Zuschauer abstimmen, ob der Kampfpilot schuldig oder freizusprechen ist. Bereits im ersten Jahr nach der Uraufführung gab es weltweit mehr als 50 Premieren von Neuinszenierungen des Theaterstücks „Terror“.

Im September 2020 war die Uraufführung des zweiten Theaterstückes von Ferdinand von Schirach. Es trägt den Titel „Gott“ und setzt sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe vom 26. Februar 2020 auseinander. Es ist also ein höchstaktuelles Drama. Das Timing ist gut gewählt, da der Gesundheitsminister und der Bundestag aufgefordert sind, in der nächsten Legislaturperiode eine neue gesetzliche Regelung zu verabschieden, die den Richtlinien des Bundesverfassungsgerichtes entspricht. Hier ist mit langen Kontroversen und Diskussionen zu rechnen. Instinktsicher hat Ferdinand von Schirach zum rechten Zeitpunkt das große Thema aufgegriffen. Er hat den unwiderstehlichen Kairos für dieses existenzielle Thema geahnt und ebenso schnell wie sicher die Gelegenheit am Schopfe gepackt. Wie Kairos in der Antike hat er geschickt zugegriffen, als der rechte Zeitpunkt gekommen war. Schon jetzt ist absehbar, dass auch dieses Theaterstück ein großer Erfolg werden wird. Mittlerweile gilt Ferdinand von Schirach als der „Meister des moralisch-ethischen Diskurses“.

Zahlreiche Verfilmungen

Eine Auswahl der Geschichten der Trilogie „Verbrechen, Schuld, Strafe“ ist mehrmals verfilmt worden und wurde im Fernsehen gezeigt. Auch das Theaterstück „Terror“ wurde in der ARD gezeigt und wurde zum erfolgreichsten Fernsehfilm des Jahres 2016 gekürt. „Der Fall Collini“ wurde 2018 von Constantin-Film gedreht und in den Kinos gezeigt. Heiner Lauterbach und Alexandra Maria Lara spielten die Hauptrollen. Das zweite Theaterstück „Gott“ soll im November 2020 im deutschen Fernsehen gezeigt werden.

Privatleben als Geheimnis

Es gibt wohl wenige derzeit lebende bekannte deutsche Schriftsteller, über deren Privatleben so wenig bekannt ist wie über das von Ferdinand von Schirach. Dieser gibt zwar gerne Interviews und taucht in Talkshows auf, bei Fragen nach seinem Privatleben wirkt er jedoch einsilbig und zugeknöpft. Bekannt ist freilich, dass sowohl sein Vater als auch seine Mutter aus Nazi-Familien stammten. Sein Vater, Robert von Schirach (1938-1980), war das vierte Kind des bekannten Nazi-Funktionärs Baldur von Schirach (1907-1974). Der Großvater war im Nazi-Regime Reichsjugendführer und ließ als Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien etwa 60 000 Juden in Konzentrationslager deportieren. Die Eltern von Ferdinand von Schirach ließen sich während seiner Kindheit scheiden und er verbrachte vom 10. Lebensjahr an acht Jahre im Jesuiteninternat St. Blasien. Autobiographische Bekenntnisse von Ferdinand von Schirach sind sehr rar. Er lebt offensichtlich alleine und sehr zurückgezogen, meist in Berlin, zeitweise auch in Venedig. Von Frauen und Kindern ist nichts zu lesen. Einige kurze autobiographische Skizzen finden sich in dem Erzählband „Kaffee und Zigaretten“ (2019). Über seinen Nazi-Großvater Baldur von Schirach schrieb er im Jahr 2011 im Spiegel den Essay „Du bist, wer du bist“. Seine Jahre im Jesuiteninternat schilderte er in einem kurzen Essay im Spiegel unter dem Titel „Was übrig bleibt“. Im Jahr 2019 erschien im ZDF ein Porträt von Ferdinand von Schirach. Manfred Riepe (2019) schrieb darüber im „Tagesspiegel“ eine Rezension und kam zu dem Fazit: „Über sein Privatleben ist wenig bekannt.“

Literatur:

Marneros, Andreas: „Jeder kann zum Mörder werden.“ Interview mit Beate Lakotta und Hauke Goos. Der Spiegel 36/2012

Nedopil, Norbert: „Jeder kann zum Mörder werden“. Interview mit Michael Kraske. PSYCHOLOGIE HEUTE vom 1. Dezember 2016

Oswald, Georg M.: Aller Abgrund ist schwarz. Justizgeschichten. Frankfurter Allgemeine vom 25.7.2020, S. 1-6

Riepe, Manfred: Ferdinand von Schirach. Der Unscheinbare. TV-Porträt mit Filmautor Claudio Armbruster im ZDF. Tagesspiegel vom 12.9.2019

Saimeh, Nahlah: Jeder kann zum Mörder werden. Wahre Fälle einer forensischen Psychiaterin. Piper, München 2012

Schirach, Ferdinand von: Verbrechen. Piper, München 2009

Schirach, Ferdinand von: Schuld. Piper, München 2010

Schirach, Ferdinand von: Was übrig bleibt. In: Der Spiegel Nr. 6 vom 8. Februar 2010. S. 136-137

Schirach, Ferdinand von: Jemand muss büßen. Interview mit Rebecca Casati. Süddeutsche Zeitung vom 1. August 2010

Schirach, Ferdinand von: Jeder kann zum Mörder werden. Rede zum Kleistpreis. Tagesspiegel vom 22.11.2010

Schirach, Ferdinand von: Der Fall Collini. Piper, München 2011

Schirach, Ferdinand von: Du bist, wer du bist. In: Der Spiegel Nr. 36 vom 5. September 2011

Schirach, Ferdinand von: „Wenn wir töten, tun wir es aus Liebe oder Gier“. Interview mit Matthias Wulff. DIE WELT vom 2.1.2012

Schirach, Ferdinand von: Tabu. Piper, München 2013

Schirach, Ferdinand von: Die Würde ist antastbar. Piper, München 2014

Schirach, Ferdinand von: „Es geht nicht um Einsamkeit, es geht um Distanz“. Interview mit Tobias Haberl, Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 38/2014

Schirach, Ferdinand von: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede. Piper, München 2015

Schirach, Ferdinand von; Alexander Kluge: Die Herzlichkeit der Vernunft. Luchterhand, München 2017

Schirach, Ferdinand von: Strafe. Stories. Luchterhand, München 2018

Schirach, Ferdinand von: Kaffee und Zigaretten. Luchterhand, München 2019

Schirach, Ferdinand von; Kluge, Alexander: Trotzdem. Luchterhand, München 2020

Schirach, Ferdinand von: Gott. Theaterstück. Düsseldorfer Schauspielhaus 2020

Schmidt Thomas E.: Der Wahr-Sager. Was macht den sagenhaften Erfolg des Schriftstellers Ferdinand von Schirach aus? DIE ZEIT vom 17. September 2020

Wilfling, Josef: Unheil – Warum jeder zum Mörder werden kann. Heyne, München 2012

Wittstock, Uwe: Weisheit und Blindheit der Gesetze. DIE WELT vom 31.7.2020, S. 1-5

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacherstr. 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.