Marx erscheint im Anthropozän. Zu Kohai Saitos Buch „Systemsturz“

Mit der Begriffsprägung Anthropozän gestehen wir uns ein, dass wir als erddeformierende Kraft in planetarem Maßstab unübersehbar geworden sind: Wo wir auch hinschauen oder was wir auch anfassen: wir oder unsere Rückstände und Verunreinigungen sind bereits da. Um einen Ausweg zu öffnen, hat Kohai Saito ein durchweg kurzweiliges Buch geschrieben, das in Japan zu einem Verkaufsschlager wurde.Der wichtigste Denker der jüngsten erdgeschichtlichen Epoche ist für Saito der späteste Marx. Das heißt: der Marx nach dem Kapital.

Der Autor hat in Deutschland studiert und kennt daher relevante deutschsprachige Autoren. Auf den ersten zig Seiten setzt er sich mit Autoren wie Stephan Lessenich (Nach uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft) oder U. Brand/M. Wissen (Imperiale Lebensweise) auseinander. Wer diese Bücher kennt, muss die ersten zig Seiten Saito nicht unbedingtstudieren.

Saito will uns den post-kapitalen Marx erschließen als denMarx noch ungehobener Schätze und Einsichten, die in derMarx-Engels-Gesamt-Ausgabe (MEGA) zu finden seien, wobei Saito zu den Herausgebern der MEGA gehört. Laut Saito „wurde durch die MEGA eine neue Interpretation des ›Kapitals‹ ermöglicht, die sich von den bisher gängigen gänzlich unterscheidet. Durch die sorgfältige Lektüre der von Marx oft in schwer leserlicher Schrift hinterlassenen Exzerpte erscheint ›Das Kapital‹ in einem neuen Licht.“

Irgendwo klingt diese Berufung auf Schwerzugängliches, das nur einer auserwählten Schar zugänglich sei, nach geheimnisvoller intellektueller Logenbrüderschaft. Die Aussage ist jedenfalls: Maßgeblich sei nicht der Wortlaut des Kapitals, sondern der wahre Sinn von Marx‘ Hauptwerkerschließe sich erst im Lichte von allerlei Unveröffentlichtem.Dies erinnert ein wenig an Aussagen wie: „Der wahre Platon ist derjenige der ungeschriebenen Lehre.“

Parallel zu ungehobenen Schätzen der MEGA eröffnet Saito indes einen zweiten Zugang zum spätesten Marx, der auf das jüngste Erdzeitalter – das Anthropozän – passe, wie der Arztzum Kranken: Es ist der Marx, wie er sich in den Briefen an die russische Revolutionärin Wera Sassulitsch (1849–1919) ausspricht. Sassulitsch hatte Marx die Frage vorgelegt, ob die vorkapitalistische russische Dorfgemeinschaft (Mir) zunächst durchkapitalisiert werden müsse, bevor sie in ein höheres Stadium der Geschichte eintreten könne. Worauf Marx antwortete, es gebe hier keine strenge historische Gesetzmäßigkeit, und die russische Dorfgemeinschaft könne unter Auslassung kapitalistischer Qualen direkt in eine kommunistische Vergemeinschaftung auf höherer Stufenleiter – nämlich unter Rekurs auf technologische Errungenschaften des Kapitalismus – springen.

Der Marx der Sassulitsch-Briefe

Saitos Leuchtturm für eine postkapitalistische Gesellschaft ist also Marx‘ Brief (d.h. ein Brief nebst mehreren Entwürfen) anSassulitsch von 1881: „Der ›Brief an Sassulitsch‹ ist Marx’ Vermächtnis an uns, das für unser Überleben im Anthropozänunerlässlich ist.“ Zugleich nutzt Saito die Sassulitsch-Wende, um Marx ein für allemal von dem Vorwurf zu exkulpieren, ein notorischer Aufschieber zu sein, jemand, der seine Sachen nicht zu Ende bringt: „Da sein theoretischer Wandel zu groß war, konnte er ›Das Kapital‹ zu Lebzeiten nicht mehr zu Ende schreiben.“ Dies ist sicherlich eine kühne These.

Saito identifiziert drei verschiedene Weisen, auf die Marx eine postkapitalistische Gesellschaft gedacht habe: eine produktivistische, eine öko-sozialistische und eine Wachstumsrücknahme-Phase („Degrowth –wie SaitosÜbersetzer sie nennt). Nach einer Bestandsaufnahme desSassulitsch-Briefes urteilt Saito über Marx: „Sein dem Kommunismus zugrundeliegendes Konzept wandelte sich somit vom früheren Produktivismus und Ökosozialismus zu etwas völlig anderem: dem Degrowth-Kommunismus.“

Friedrich Engels (1820–1895) kommt in diesem Kontext denkbar schlecht weg. Als Marx‘ Nachlassverwalter verdanken wir Band 2 und 3 des Kapitals Engels‘ titanischer Arbeit an Marx‘ Handschriften. Doch Saito urteilt: „Was man heute als Band zwei und drei lesen kann, ist nichts weiter als eine von seinem engen Freund und Förderer Engels posthum bearbeitete und verlegte Fassung. Aufgrund der Differenzen in ihrer beider Ansichten gibt es viele Passagen, in denen die Gedanken des späten Marx im Bearbeitungsprozess verzerrt und unkenntlich gemacht wurden.“

Und Saito findet weitere despektierliche Worte: Habe Engelsseinen Weggefährten Marx einerseits verfälscht, so sei Engels überdies nicht einmal mehr in der Lage gewesen, den spätesten Marx auch nur zu begreifen: „Hierbei handelt es sich um nicht weniger als eine Neuinterpretation der Vision einer zukünftigen Gesellschaft, wie der späte Marx sie sich vorstellte. Bisher hat niemand diese Interpretation vertreten, nicht einmal Engels konnte sie verstehen.“ „In seinem Versuch, den Fokus auf die Systematizität des ›Kapitals‹ zu legen, verheimlichte Engels die unvollendeten Passagen.“

Diese ideenkriminologischen Befunde Saitos sind zumindest originell, wenn nicht ehrenrührig. Hier sei nur angedeutet, dass der Marx des Kapitals nicht zuletzt mit Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage kämpfte wie sich der Wert einer Ware in ihrem Preis ausdrückt – das sogenannte Transformationsproblem und dass die Mehrwerttheorie Probleme bereitete. Und nur en passant sei erwähnt, dass Marx seinem Freund Engels über Jahre verheimlichte, wie schlecht er mit der Fertigstellung seines Hauptwerksvorankam.

Welchen revolutionären Inhalt entdeckt Saito in Marx Brief an Wera Sassulitsch? Marx habe hier nichts Geringeres als einen „Degrowth-Kommunismus“ entwickelt, auf Deutsch etwa: Wachstumsrücknahme- oder Negativwachstum-Kommunismus. Marx schrieb 1881, „dass die Form des kommunistischen Eigentums in Russland die modernste Form des archaischen Typus ist“, das heißt die Spätform einer älteren kommunistischen Form des Eigentums, aber immerhin kommunistisch. Und von dieser Spätform der archaischen Form könne man direkt – unter Auslassung einer ursprünglichen Akkumulation wie im Westen – in einen modernen Kommunismus übergehen. Denn, so Saito: „Marx war vom Konzept des »Raubbaus« sehr beeindruckt, das Liebig in der siebten Auflage seiner ›Agrikulturchemie‹ (1862) entwickelte.“

Nach Saito wäre dieser moderne Kommunismus einer, der den Stoffwechsel des Menschen mit der Natur respektiert: „Von entscheidender Bedeutung ist hier die Stoffwechseltheorie, zu der Marx von Liebig inspiriert wurde und die er im ›Kapital‹ weiterentwickelte. Man möchte Saito gern glauben, dass sich in der MEGA eine solche Weiterentwicklung der Stoffwechseltheorie findet. Allein aus dem Kapital lässt sichvielleicht keine Handvoll entsprechender Äußerungen zusammentragen. Dabei haben schon ganze Forschergenerationen folgenden Passus aus dem 1. Band des Kapitals zitiert:

„Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit.“

Vielzitiert ist auch folgende Stelle aus dem 3. Band des Kapitals, in der Marx sich für die Zukunft erhofft, „… dassder vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden.“

Seine „ökologische Forschung“ habe Marx zu einem „Bruch mit dem progressiven Geschichtsbild“ veranlasst und zu einer „ökologischen Kapitalismuskritik“ geführt. Zugleich habe Marx nach 1868, also nach der Veröffentlichung des Kapitals „einen großen Teil seiner Energie nicht nur für das Studium der Naturwissenschaften und der Ökologie, sondern auch für die Erforschung nicht westlicher und vorkapitalistischer kommunaler Gesellschaften auf[gewendet].“ Vor diesem Hintergrund sei Marx zum Produktivitätskritiker geworden und habe das entwickelt, was Saito „seine Hinwendung zum Ökosozialismus“ nennt.

Saito: „Um der Krise des Anthropozäns die Stirn zu bieten, kommen wir nicht um eine kühne Neuinterpretation von Marx herum.“ An dieser Stelle stellt uns Saito vor ein Problem: Während er nämlich hier vom Erfordernis einer „kühnen Neuinterpretation“ redet, stellt er uns den Inhalt dieser „Neuinterpretation“ an anderer Stelle als den wahren oder sogar als den „unterdrückten“ Marx vor: „Vielmehr kam Marx an einem Punkt an, an dem er den Degrowth-Kommunismus als Projekt entwarf, das den westlichen Kapitalismus tatsächlich überwindet.Saitos Buch hindurch bleibt unklar, ob sein Buch nun eine kühne und zuallererst von Saito vorgenommene Neuinterpretation bietet oder ob Marx diesen Kommunismus mit Negativ-Wachstum bereits entworfen und intendiert hat.

Problematisch scheint ebenfalls: Im Brief an Sassulitschnotiert Marx: „Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer mit Hilfe von Maschinen betriebenen, in großem Maßstabe organisierten und auf genossenschaftlicher Arbeit beruhenden Landwirtschaft geradezu ein.“ Diese Diktion erinnert eher an Maschinerie und große Industriesowie an LPG denn an den Öko-Landbau energiesparender kommunistischer Kommunen. Gegen Saitos Deutungen spricht vielleicht auch Marx‘ generelle Technikbegeisterung. Hält man sich einerseits an Marx‘ Schwärmerei über den Dampfpflug im Kapital und andererseits an seine Ausführungen über die riesigen mit Maschinen zu bewirtschaftenden Landstriche Russlands, der russischen Ackerbaugemeinde, so ergibt sich das Bild einer durchtechnisierten Landwirtschaft. Dass diese Lesart von Marx‘ Brief an Sassulitsch nicht ganz abwegig ist, erhellt etwa aus dem Buch „Versuch, Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen“ von Rudi Dutschke (1940–1979), worin dieser Marx‘ kühnen Gedanken erörtert, direkt von den vorkapitalistischen Dorfgemeinden in einen kollektiven Kommunismus höherer Stufenleiter mit genossenschaftlicher Produktion überzugehen.Diesbezüglich zitiert Dutschke den Ökonomen Kurt Mandelbaum (1904–1995: In dieser außergewöhnlichen Lage, die keine historische Analogie hat, besteht nach Marx theoretisch die Möglichkeit, dass sich Russland die Ergebnisse des vergesellschafteten Arbeitsprozesses der großen kapitalistischen Industrie aneignet, ‚ohne sich deren modusoperandi zu unterwerfen‘. Es kann schrittweise zu maschineller agrarischer Großproduktion übergehen, aber gestützt auf die noch wirksamen Assoziationen sich die neuen Produktionskräfte unmittelbar als gesellschaftliches Eigentum nutzbar machen…“

Aufs Ganze gesehen wird man beim Lesen von Saitosdurchaus kurzweiligem Buch den Eindruck nicht los, dass er Marx zu einem Naturdenker stilisiert, der er nicht ist. Ähnliche Versuche unternahmen bereits Generationen vor Saito. So etwa Alfred Schmidt (1931–2012) mit seinem „Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx“ oder H. D. Schmidt Kowarzik (*1939) in seinem Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Eine philosophiegeschichtliche Studie zur Naturproblematik bei Karl Marx. Auffallend ist, dass in derlei Versuchen einer naturphilosophischen oder gar naturökologischen Auf- oder Umwertung von Marx immer wieder dieselben vielleicht zwei Handvoll Zitate abgearbeitet werden. So drängt sich der Verdacht auf, dass Saito in Marx hineinliest, was Marx in dieser Form nicht zu bieten hat und in seiner historischen Situierung wohl auch noch nicht bieten konnte. Bei alledem: Wer weiß, welche „unterdrückten“ Schätze sich in der MEGA noch finden.

Auch sei die Frage gestattet, warum ein Deutsch lesender Autor wie Saito zwar ausgiebig Lessenich oder Brand/Wissen referiert, jedoch mit keinem Wort seinem eigenen Vorhaben verwandte Bücher wie „Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen“ (erschienen 2005) von Elmar Altvater oder „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann (erschienen im September 2022) erwähnt. Ist es am Ende Missgunst – und erklärt diese etwa auch, warum U. Herrmann das Bruderwerk Altvaters totschweigt? Wir werden es wohl nie erfahren.

Der Marx der Grundrisse

Man hätte sich gewünscht, dass Saito zum Marx der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58 etwas sagt. Im darin ganz unvermittelt enthaltenen sogenannten Maschinenfragment führt Marx prophetisch aus, wie das Kapital im Kontext zunehmender Automatisierung die menschliche Arbeit ganz unabsichtlich auf ein Minimum reduziert. Im Zuge forcierter technologischer Anwendung der Wissenschaft würden die Arbeiter „subsumiert unter den Gesamtprozess der Maschinerie selbst, selbst nur ein Glied des Systems, dessen Einheit nicht in den lebendigen Arbeitern, sondern in der lebendigen (aktiven) Maschinerie existiert.“ Nicht mehr die Arbeiter seien somit die Herren der Produktion: „Sondern die Maschine, die für den Arbeiter Geschick und Kraft besitzt, ist selbst der Virtuose,… Der Produktionsprozess hat aufgehört, Arbeitsprozess in dem Sinn zu sein, dass die Arbeit als die ihn beherrschende Einheit über ihn übergriffe.“ Der Marx der Grundrisse sieht dies überaus positiv. Denn mit dem Fortschreiten dieses Prozesses arbeite das Kapital einerseits „an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form“; andererseits werde dieser Prozess „der emanzipierten Arbeit zugute kommen und ist die Bedingung ihrer Emanzipation.“ Zu diesem von Marx skizzierten – und etwa von Paul Mason für die Gegenwart erörterten – Weg in eine postkapitalistische Produktionsweise(wonach der Kapitalismus aufgrund der ungeheuren technologischen Fortschritte ganz automatisch und als Automatismus in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft dränge) sagt Saito leider nichts. Vielleicht hätten seineLeserinnen gerne etwas darüber erfahren, wie sich die Ausführungen im Maschinenfragment der Grundrisse zu der Perspektive verhalten, die Marx in seinem Brief an Sassulitscheröffnet.

Sehr indirekt sagt Saito dann womöglich doch etwas zur Vision der Marxschen Grundrisse: „Marx hätte in seinen letzten Lebensjahren jedoch extreme Ideen wie eine komplette Abschaffung der Arbeit durch Vollautomatisierung und stufenweise Arbeitszeitverkürzung wahrscheinlich als problematisch angesehen.“ Den Grund für diese Ablehnung von Seiten Marx‘ erkennt Saito im Problem der Energieversorgung – woher sollte die Energie herkommen, um eine vollumfängliche automatische Produktion zu gewährleisten?

Um das Buch „Systemsturz“ mit Saito zusammenzufassen: „Beruhend auf den jüngsten Erfolgen der Marx-Forschung analysierte ich den Zusammenhang von Klimakrise und Kapitalismus und wurde dadurch überzeugt, dass der beste Weg aus der Klimakrise des Anthropozäns der gedankliche Kristallisationspunkt des späten Marx, also der Degrowth-Kommunismus, ist.“ Als wichtige Stationen auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft und zu einer von der Wachstumsgesellschaft befreiten Natur gelten Saito etwa: die Stadtpolitik Barcelonas (als ein Zentrum der Solidarwirtschaft) oder die französischen Bürgerversammlungen sowie eine Ausdehnung der Demokratie über die Parlamente hinaus auf den Produktionsbereich, indem gemäß dem Prinzip gegenseitiger Hilfe die Sphäre der Commons erweitert wird: „womit gemeinschaftlich produzierte, organisierte und genutzte Güter, gesellschaftlich geteilter und verwalteter Reichtum gemeint ist; bei Marx hieß es noch ‚Gemeinbesitz‘.

Kohei Saito, Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, DTV 2023

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Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).