Recht und Macht

Bestimmung – Entwicklung – Kritik

1. Einleitung

In der Rechtsphilosophie lassen sich im Allgemeinen zwei Dimensionen aufzeigen, unter die die differierenden Fragestellungen subsumiert werden. Zum einen ist es die Frage, Was Recht eigentlich ist? Also welche Funktionen dem Recht und seinen Institutionen wesentlich zu eigen sind? Diesem Aspekt sind etwa Luhmanns Theorie der Normierung von Erwartungsbeziehungen, Kants Theorie der Optimierung menschlicher Freiheit, aber auch das Hegel´sche Anerkennungstheorem zuzuordnen.1 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Thesen der genannten Philosophen ebenso wie solcher, die keinen positiven Bezug zu Recht an und für sich in ihrer Philosophie aufweisen, in ihren Überlegungen in einem zweiten Punkt kulminieren. Denn zum anderen dreht sich die Disziplin in ihrem Kern auch immer zugleich um die Frage, welche Kriterien ausgewiesen werden können um die normative Basis von gesetztem Recht zu begründen. Das weite Spektrum dieser Diskussion wird dabei eingerahmt von zwei sich diametral entgegengesetzten Polen, die unter den Begriffen Naturrecht und Rechtspositivismus firmieren. In der vorliegenden Arbeit soll dieser Gegensatz exemplarisch anhand des Diskurses im dritten Buch von Ciceros De re publica dargestellt werden. In einem Exkurs soll die dem Naturrecht inhärente Problematik der Geltung aufgezeigt werden, die nicht allein im diskursiven Zusammenspiel mit positivem Recht besteht. Anschließend soll die in der Rezeption der Rede des Karneades zum Ausdruck kommende Kritik an dem durch ihn positiv gesetzten Begriff des Rechts auf ihre Aussagekraft hin untersucht werden. Zu diesem Zweck soll die entsprechende Passage der re publica mit der Theorie des gleichnamigen Werkes Ausnahmezustand von Giorgio Agamben konfrontiert und auf ihren Gehalt hin abgeglichen werden. Die sich hieraus ergebende Hypothese, die den eigentlichen Gegenstand der Arbeit darstellt, betrifft die inhaltliche Relation der beiden Werke, respektive Auszüge.2 Demnach soll aufgezeigt werden, dass die Rede des Karneades, bedingt durch den ihr zugrunde liegenden Rechtsbegriff, bereits die wesentlichen Implikationen der Theorie des Ausnahme­zustandes von Agamben aufweist. Abschließend sollen die grundlegenden Aussagen, für deren Herleitung Agamben neben Carl Schmitt auch Walter Benjamin bemüht, kritisch auf deren Gehalt hin untersucht werden.

2. Imperium und/oder Recht?

„Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und betätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit ein Individuum.“3G.W.F. Hegel

Als Cicero im Jahr 55 v. Chr. nach De oratore und De legibus auch sein Werk De re publica fertig gestellt hatte, waren sowohl die römische Republik als auch seine persönliche Karriere, die auf das Engste mit dieser politischen Ordnung verwoben war, bedroht. Nur fünf Jahre zuvor, 60 v. Chr., hatten Caesar und Pompeius gemeinsam mit Crassus das erste Triumvirat gegründet, welches die schleichende Unterminierung der republikanischen Grundfesten Roms vorantrieb. Gleichzeitig war Cicero, der sich den politischen Ränkespielen der drei Mächtigen zunächst verweigert hatte, zunehmend in Ungnade gefallen, was nicht zuletzt in seiner Verbannung zwischen 58-57 v. Chr. deutlich wird. Im Anschluss an die Rückkehr nach Rom, die nicht gleichbedeutend mit einer Aufhebung der politischen Isolation war, hatte er sich der schriftstellerischen Tätigkeit gewidmet, wobei er sich in der Reihenfolge der Abhandlung an Platon orientierte.

Dem Tod des Triumvirn Crassus in der Schlacht von Carrhae gegen die Parther, der die zunehmende Entfremdung zwischen Caesar und Pompeius beförderte, war die Veröffentlichung der De re publica im Jahr 51 v. Chr. gefolgt. Dieser Schritt Ciceros, einer verdienten und saturierten Persönlichkeit Roms, kann wohl nur als ein verzweifelter aber zugleich bestimmter Versuch gewertet werden, den Niedergang der Republik aufzuhalten. Tatsächlich vermochte dies sein Werk nicht mehr. Nur zwei Jahre später überschritt Caesar mit seinen Legionen den Rubikon, der Bürgerkrieg war damit zur Realität geworden. Alea iacta est. Es war Zwischenspiel einer Entwicklung, der neben Caesar auch Cicero zum Opfer fallen sollte und deren Ausgang markiert wird durch den Beginn der Kaiserzeit unter Octavian, dem späteren Augustus. Betrachtet man vor diesem historischen Hintergrund den Inhalt der De re publica, so wird man sich der konkreten politischen, über reine Philosophie hinausgehenden, Tragweite des Werkes bewusst. Es finden sich dort Auffassungen wieder, die bereits De inventione, eine Schrift aus Ciceros Jugend, enthalten. Folglich Gedanken, die für sein politisches Denken als Maßstab dienten und die unter dem Eindruck der eigenen Bedrohung und der der Republik in den Text geflossen sind.4 Es handelt sich somit auch um eine Form von politischer Agitation an der Schwelle des noch Möglichen. Dies begründet sich nicht zuletzt in der Wahl des Redners Scipio Africanus Minor, der den Mittelpunkt der Dialoge bildet. Vereint doch Scipio in seiner Person die Tugenden, die schon vor ihm all Jene aufweisen, die sich um die Republik verdient gemacht haben und so im kollektiven Gedächtnis der Bürger verhaftet blieben. In diesem Sinne lässt Cicero im ersten Buch Laelius, den Ältesten der aristokratischen Runde zu Wort kommen, der Scipio aufgrund seiner historischen und philosophischen Bildung, sowie der Verbindung von Theorie und Praxis in seiner Rolle als Senator, zum Redner vorschlägt.5 Unter einem historischem Blickwinkel betrachtet, fällt sein Wirken in einen Zeitraum in dem Rom seine imperiale Macht und Anspruch konsolidierte, während zugleich im Inneren schwere Verteilungskämpfe zwischen Aristokratie und Plebejern ausgetragen wurden. Als Eroberer Karthagos und distanziertem Unterstützer der Agrarreformen des Gracchus, war Scipio in beiden Vorgängen involviert. Diese waren Teil eines größeren Prozesses, der letztlich zur Überschreitung der „Imperialen“ oder auch „augusteischen Schwelle“ führte.6

So handelt das erste Buch die republikanischen Grundlagen Roms ab. In Anlehnung an die Ideen seines Hauslehrers Polybios, begründet Scipio die Vorteile der Mischverfassung, in der die Vorteile der Demokratie, der Herrschaft der Optimaten und der Monarchie – libertas, consilium und caritas – vereint sind. Gleichzeitig grenzt er sich jedoch von Polybios ab, indem er die Grundlagen seiner Vertragstheorie auf die natürliche Sozialität des Menschen zurückführt.7 Bereits in diesem ersten Abschnitt finden sich Andeutungen, die in der Diskussion um das Wesen und den Status des Rechts im dritten Buch wiederkehren. Demnach zeichnet sich die „res publica res populi“, als die Gemeinschaft des Menschen, neben der bereits angesprochenen Sozialität, dadurch aus, dass sie „in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist“8. In diesem Kontext kann von einem positiv konnotierten Rechtsbegriff gesprochen werden, für dessen Verwirklichung es aber dennoch einer genauen inhaltlichen und institutionellen Bestimmung bedarf, die sich von einer rein utilitaristischen unterscheidet. Demgegenüber kann ein darauf folgender Abschnitt angeführt werden, in dem Cicero in Anlehnung an die Kriterien der guten Herrschaft des Aristoteles, das Herrscher- sowie Gemeinwohl9 zu den zu wahrenden Inhalten des weisen Politikers macht.10 Der Verweis auf die nahezu göttliche Wesenhaftigkeit des Staatsmannes, der diese Aufgabe zu bewältigen weiß, gibt einen ersten Hinweis auf die folgende Bestimmung des Naturrechts, das für die Konzeption des Werkes grundlegend ist.

Das zweite Buch verdeutlicht, wie stark es sich bei der De re publica um eine Synthese von griechischem Denken und römischer Weisheit der Tat, also von vita contemplativa und vita activa, handelt.11 War bei Aristoteles die Pólis noch eine natürliche Entität, so spielt bei Cicero und allgemein im römischen Denken, die historische Dimension des Gewordenen eine entscheidende Rolle.12 Hiervon legt der Abschnitt Zeugnis ab. Es sind Betrachtungen in denen Geschichte als „ein dauernd aufgegebener Kampf gegen den Kreislauf“ gefasst wird.13 Damit negiert Cicero ein von Schicksal und Notwendigkeit determiniertes Bild von Geschichte. Vielmehr ist sie Schauplatz im Kampf zwischen der ratio, die den Kreislauf zu überwinden trachtet und dem Bestehenden, als dem Ergebnis verschiedener Formen menschlicher Schwäche. In diesem Kontext wird die Frage nach dem Wesen des Rechts aufgeworfen. Dabei ist sie nicht allein wegen ihrem Status in der Mischverfassung von Bedeutung, sondern wird darüber hinaus als moralische Überlegung angeführt. Denn die Expansion Roms basiert auf seiner Stärke, doch die Herrschaft wird gerechtfertigt durch die Bindung an die Gerechtigkeit.14

2.1 Karneades – Recht und Macht

Nach Abschluss des Proömiums beginnt das dritte Buch mit der Rezitation der Rede des Karneades durch Philus. Als Oberhaupt der skeptischen Akademie war er zu Lebzeiten Scipios als Teil einer Gesandtschaft Athens nach Rom gereist. Dort hatte er zunächst eine Rede für die Gerechtigkeit gehalten, nur um sie am nächsten Tag zu widerlegen und so die Kunst der Sophistik zu demonstrieren.15 Tatsächlich spricht es wohl für das historische Gedächtnis der römischen Zivilisation, dass Cicero mehr als 100 Jahre nach dem Ereignis, Philus, Karneades rezitierend, als „advocatus diaboli“ auftreten lässt.16 Die Argumentation des Amoralismus beginnt mit der Behauptung, dass sich die Menschen ihr Recht nach ihrem Nutzen setzen würden. Ein Naturrecht gäbe es deshalb nicht, da der Mensch oder Lebewesen allgemein wiederum nur in Abhängigkeit von ihrem Nutzen für die Natur zu betrachten wären. Was folgt, ist ein Verweis auf die unterschiedlichen Rechtsauffassungen verschiedener Kulturen, um die Idee des Naturrechts vollständig zu diskreditieren.17 Karneades argumentiert folglich auf der Basis eines positiven Rechtsbegriffs, der durch den Menschen, nicht etwa durch Menschlichkeit, normiert ist. Die Kritik am Recht wird durch den Gegensatz von iustitia und sapientia hervorgehoben, ohne zugleich bei der einfachen Formel stehen zu bleiben, wonach Recht immer das des Stärkeren sei. Denn das Wesen des Rechts in seinem Wirken in der Gemeinschaft, im modernem Recht würde man wohl den Terminus der „kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenser­wartung“18 gebrauchen, ist die Strafe, welche dem „gerechten Mann“ – vir bonus – Orientierung verspricht.19 Indem Karneades die Wirkungsweise von iustitia und sapientia auseinander dividiert, zeigt er die Grenzen der moralischen Integrität des Imperiums auf. So zieht er eine Analogie zwischen einem Schiffbrüchigen und Rom. Demnach kann man einem anderen Ertrinkenden eine rettende Planke überlassen, was gerecht wäre aber den eigenen Tod bedeutet, oder man bemächtigt sich dieser und handelt klug aber ungerecht. Ebenso verhält es sich auch mit der Situation der Römer, die, um gerecht zu sein, sich sinngemäß wieder in das Elend ihrer Hütten zu flüchten hätten, „nulla est tam stulta civitas, quae non iniuste imperare malit quam sevire iuste – kein Staat ist so dumm, daß er nicht lieber ungerecht herrschen als gerecht Sklave sein wollte“.20 Die Rede negiert inhaltlich somit nicht allein die Existenz eines Naturrechts, sondern stellt generell die Möglichkeit einer an sich gerechten, positiven Rechtslehre in Frage. Mit dieser Kritik am Naturrecht geht der Moderne, am Neukantianismus ausgerichtete, Rechtspositivismus von Radbruch, dessen Grundlage die strikte Unmöglichkeit beinhaltet aus einem Sein ein Sollen abzuleiten, noch einher.21 Allerdings ist in Opposition zur zweiten These die Radbruch´sche Formel mit ihrem überpositiven Rechtscharakter zu setzen, wonach gesetzliches Unrecht von übergesetzlichem Recht negiert wird.22

2.2- Laelius – Recht und Vernunft

Im Gegensatz zu der wiedergegebenen Rede des Karneades, ist die Antwort von Laelius nur weitaus fragmentierter erhalten geblieben. Dennoch lässt sich aus den vorhandenen Teilen und unter zu Hilfenahme der Reflexionen von Laktanz und Augustin die Kernaussage rekon­struieren.23 In seiner Rede begegnet Laelius dem positiven Rechtsbegriff des Karneades mit einem Rekurs auf das Naturrecht. Demnach wird das wahre Gesetz, welches mit der Natur in Einklang steht, durch die Vernunft diktiert. Damit ist es unabdingbar und unabhängig von Ort, Kultur und Zeit. Ausdruck dieses Rechtsverständnis ist der Staat, geschaffen für die Ewigkeit. Daher ist auch die imperiale Expansion Roms gerecht, denn indem sie das Rechtssubjekt überhaupt erst hervorbringt, geschieht sie zum Nutzen der Beherrschten. Die Gerechtigkeit ist somit die erste Tugend, sie bildet die Grundlage an die die Herrschaft gebunden ist.24 Allgemein sieht sich Naturrecht mit der Problematik konfrontiert, dass es zur Ausweisung dieses Rechtstypus nur schwer begründbarer normativer Prämissen bedarf. In der Perzeption der antiken Rechtslehre wurde so noch die Einheit von Natur und Recht nicht einfach als „kausaler, sondern auch als finaler Zusammenhang aufgefasst.“25 Neuzeitliche Bemühungen das Naturrecht zu verteidigen, etwa von Hobbes, Locke, Grotius oder aber Pufendorf, versuchten die Differenz von Natur und Recht, wie sie Karneades in seiner Rede bereits benennt, durch die Zugrundelegung eines abstrahierten Naturzustandes zu überwinden.26 Eine Annahme, die von Hegel in einem Aufsatz über die Bestimmung des Naturrechts kritisiert wurde und in dem Halbsatz, „das richtende Princip für jenes apriorische ist das aposteriorische“, prägnant auf den Punkt gebracht wird.27 Daneben bleibt das zentrale Problem der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses, als der Ableitung eines Sollens aus einem Sein bestehen.28 Damit ist auch das neuzeitliche Naturrecht konfrontiert, dass in Abkehr von der antiken Vorstellung nicht mehr von einer natürlichen Ordnung ausgeht, sondern in der Vernunft das Einheitsstiftende Prinzip verortet.29

3. Agamben – Recht und Ausnahmezustand

Giorgio Agamben unternimmt mit seiner Homo Sacer Reihe, bestehend aus den Werken Homo Sacer gefolgt von Ausnahmezustand und Was von Auschwitz bleibt, den Versuch, die Grundlagen der Gesellschaft und Politik der Moderne einheitlich und systematisch zu rekonstruieren. In dem zweiten Band Ausnahmezustand beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Recht und Politik. Dabei geht er von einem positiven Rechtsbegriff aus, dessen besondere Prägung im Sinne Agambens aber in der Notwendigkeit besteht, sich diesen auch immer als sein Dispositiv zu denken.30 Der Ausnahmezustand stellt dabei jenen Moment der Schwelle dar, in dem das Recht zu Gunsten der Gewalt suspendiert wird, um sich selbst zu wahren. Insofern handelt es sich um eine „einschließende Ausschließung“.31 Diese Entwicklungstendenz weist Agamben seit Anfang des massendemokratischen Zeitalters für die modernen Demokratien der Vereinigten Staaten, Schweiz, Italiens, Großbritanniens aber vor allem Deutschlands nach.32 Der Ursprung dieser rechtlichen Verfasstheit zeigt sich in der römischen Republik, in der man das Mittel des senatus consultum ultimum, das heißt die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, bei Gefahr erhob. Damit einhergehend war das iustitium als der vorübergehenden Aufhebung des Rechts. Cicero selbst hat in der rechtlichen Aufwertung des Ereignisses tumultus zu einem quasi bellum, es könne „einen Krieg ohne tumultus geben, aber keinen tumultus ohne Krieg“, zu einer Indifferenzierung der Zustände beigetragen.33 Tatsächlich finden sich zahlreiche solcher Krisensituationen, die mit einer Aussetzung des Rechts einhergingen. Erinnert sei etwa an die Reformversuche des Volkstribun Tiberius Gracchus, den Angriff Hannibals oder die Catilinarische Verschwörung. Wobei es sich im letzteren Fall um eine Ironie der Geschichte handelt, war es doch ausgerechnet Cicero, der vom Senat mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestattet wurde. Dabei mag zwar seine Handlungsmaxime die Rettung der res publica gewesen sein, die Maxime des Rechts verkehrte sich jedoch faktisch in jene des Karneades, die er philosophisch noch mit Laelius zu überwinden wusste.34 Dieses Stück gelebter und philosophischer Aporie lässt sich nur auflösen, wenn man Recht als relationelles System, bedingt durch sein Äquivalent, zu denken weiß. Der Ausnahmezustand ist dabei die Anomie des Rechts, ein Raum, in welchem das Gesetz aufgehoben wird und einzig die Kraft verbleibt, „Gesetzeskraft“ waltet, wie Agamben es (be-)schreibt.35 Die Theorie die aus diesem Ansatz hervorgeht, wird von Agamben auf Carl Schmitt und Walter Benjamin zurückgeführt. Beide erkannten die Problematik auf annähernd gleiche Weise, zogen jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Schmitt unternimmt in der politischen Theologie den Versuch, die Gewalt in Form rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt zu bannen.36 Das Anliegen von Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt ist es dagegen, genau jenen Nómos zu durchbrechen. Folgt man seinen Überlegungen, besteht die Schwierigkeit darin, reine und erst wirklich anomische Gewalt hervorzubringen, um den Zustand des latenten Ausnahmezustandes zu durchbrechen. Nicht die Negation eines bestimmten Rechts, um der Schaffung eines neuen Rechts Willen, ist der Kern der Argumentation von Benjamin, sondern die Aufhebung jeglichen Rechts, als der Ursache von Gewalt.37 In den geschichtsphilosophischen Thesen wird dieses Motiv aufgenommen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ’Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen“.38 Gefolgt wir dieser achte Ausschnitt von der Allegorie des Angelus Novus, Ausgangspunkt eines utopischen Messianismus als einer säkularisierten Eschatologie.

4. Benjamin – Recht und Kritik

„Während die Gesellschaft ohne Recht, wie im Dritten Reich, Beute purer Willkür wurde, konserviert das Recht in der Gesellschaft den Schrecken, jederzeit bereit, auf ihn zu rekurrieren mit Hilfe der anführbaren Satzung. Hegel lieferte die Ideologie des positiven Rechts, weil es ihrer, in der bereits sichtbar antagonistischen Gesellschaft, am dringendsten bedurfte. Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität.“39 – Theodor W. Adorno

In der Res publica vollzieht Scipio die Synthese aus den beiden Reden, die darin besteht, jenen Gesellschaften die Eigenschaft einer Gemeinschaft abzusprechen, die nicht den Vollzug des von Laelius definierten Rechts für sich anführen können.40 „Es muß ein Staat so eingerichtet sein, daß er ewig ist.“41 Die Geschichte Roms weist indes einen anderen Weg, der über die Aufhebung der Republik durch Kaiser Augustus, zu dem Ende eines einheitlichen römischen Imperiums im Jahr 395 n. Chr. führte. Diese Entwicklung, die rein rechtlich nur ungenügend greifbar wird, kann als eine zunehmende Ersetzung republikanischer Normen durch deren eigentliche Anomie, der Herrschaft des Einzelnen, verstanden werden. Die Rede des Karneades, die Recht als menschliches Werk erklärt, dem immer die Tendenz des Umschlagens innewohnt, vollzieht somit eine Kritik mit nahezu prophetischem Charakter. Agamben greift diese Argumentation indirekt auf und transformiert deren Gehalt für die Moderne. Interessant ist dabei die Intention seiner Kritik des Rechts, die auf zwei getrennten Ebenen nachvollzogen werden kann. Zum einen auf der des Individuums in Konfrontation mit dem Recht, auf der das Lager zum Paradigma der Politik der Moderne wird, was Gegenstand des Werkes Homo Sacer ist.42 Zum zweiten konstatiert er auf der Ebene der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur Politik eine Bannung durch das Recht, vor der sich „schon gar nicht das nackte Leben schützen mag“.43 Die daraus resultierende Forderung ist „Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen“, um dadurch „einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des ’Politischen’ für sich einforderte.“44 Damit bekräftigt er die Politik als Grundlage seines Denkens, deren Struktur er in Anlehnung an die Freund-Feind Unterscheidung von Carl Schmitt, in der „Inklusion“ und „Exklusion“ sieht.45 Mit diesen Überlegungen begibt sich Agamben allerdings in Opposition zu Benjamin, dessen Intention des Essays Zur Kritik der Gewalt eben nicht eine Aufwertung der Sphäre des Politischen gegenüber dem Recht, sondern die Aufhebung dieser Einheit ist. Die Differenz, die sich an dieser Stelle ausdrückt, wird auf der Ebene des Individuums vervollständigt, wenn Agamben schreibt, „daß die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den ursprünglichen (…) Kern der souveränen Macht bildet“46. Woraus er die Schlussfolgerung zieht, dass die Nationalsozialisten mit der Vernichtung der Juden und Jüdinnen eine eugenische Politik betrieben hätten.47 Dem muss entgegnet werden, dass das Ziel des Nationalsozialismus in der Shoah nicht die „Reinhaltung“ der eigenen imaginierten Rasse war, sondern die Vernichtung der in allem Jüdischen imaginierten „Gegenrasse“. So schreibt etwa Adorno: „Die deutsche Kritik, der der Kantische Formalismus zu rationalistisch war, hat ihre blutige Farbe bekannt in der faschistischen Praxis, die von blindem Schein, der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer designierten Rasse, abhängig machte, wer umgebracht werden sollte.“48

Mag die Betrachtung der Politik als eine des Ausnahmezustandes im Sinne der Kritik der Gewalt auch richtig sein, so knüpft sich daran eine Aufforderung, die zu formulieren Benjamin nicht mehr möglich war: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“49 Dies würde bedeuten, Kritik in der Wahrung der Differenz zu üben, um das „sich zum totalen Betrug der Massen“ wandelnde Projekt der Aufklärung zu wahren.50 Dass Agamben dies nicht vermag, wird nicht zuletzt an der unseligen Gleichsetzung von Guantánamo und Auschwitz, wenn auch nur strukturell-rechtlich vorgenommen, deutlich.51 Bezeichnender ist da fast nur das Aufgreifen der historischen Reminiszenz, zur Lösung Nah-Ost Konflikts ein staatenloses Jerusalem zu schaffen. Der geforderte Zustand „reziproker Extraterritorialität“ verbunden mit einen „refugium des Einzelnen“, würde die Suspendierung des Gewaltmonopols des israelischen, demokratisch organisierten Souveräns und seinem „ius des Bürgers“, voraussetzten.52 Ein Schritt der gleichsam bedeuten würde, den jüdischen Teil der Bevölkerung schutzlos dem Vernichtungswahn islamistischer Suizid-Kollektive auszuliefern. Es wäre eine Hinwendung zu rechtssetzender, mythischer Gewalt, die der Benjamin´schen reinen, göttlichen Gewalt, „welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist“ unvereinbar gegenüber steht.53 In seiner Konsequenz kommt das Denken Agambens so der Rede des Karneades gleich, einem Anhänger des Skeptizismus, der vor mehr als 2000 Jahren lebte.

Ich möchte mich bei Gunter Heiß für seine freundschaftliche Hilfe bedanken.

5. Literaturverzeichnis

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– Seelmann, Kurt, Rechtsphilosophie, dritte überarb. u. erw. Auflage, München 2004.

1 Vgl. Seelmann, Kurt, Rechtsphilosophie, dritte überarb. u. erw. Auflage, München 2004, S.55-59.

2 Von Giorgio Agamben liegen in der Homo Sacer Reihe vor: Homo Sacer; Ausnahmezustand; Was von Auschwitz bleibt.

3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt a.M. 1970, S.330.

4 Vgl. Cicero, Marcus Tullius, De re publica. Vom Gemeinwesen, Büchner, Karl (Hrsg.), Stuttgart 1979, Kommentar, S. 6.

5 Cicero, De re publica, 3. 34.

6 Münkler, Herfried, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, BPB, BD. 505, Bonn 2005, S. 112.

7 Vgl. Cicero, De republica, 1. 38.

8 Cicero, De re publica, 1. 39.

9 Vgl. Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, Franz F. Schwarz (Hrsg.), Stuttgart 1993, 3. Buch, S. 235.

10 Vgl. Cicero, De re publica, 1. 45.

11 Cicero, De re publica, Kommentar S. 8.

12 Vgl. Cicero, Der re publika, Kommentar, S. 40.

13 Ebd. S. 40.

14 Vgl. Cicero, De re publica, Kommentar, S. 52.

15 Vgl. ebd., S. 42.

16 Ebd. S. 42.

17 Vgl. Cicero, De re publica, 3.12. u. 3.13.

18 Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 134.

19 Ebd. 3.18.

20 Cicero, De re publica, 3.17.

21 Vgl. Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie, Dreier, Ralf/Paulson, Stanley L. (Hrsg.), Heidelberg 2004, S. 207.

22 Vgl. ebd., S. 216.

23 Vgl. Cicero, De re publica, Kommentar, S. 41.

24 Vgl. Cicero, De re publica, 3. 33. u. 3. 41.

25 Seelmann, Rechtsphilosophie, S. 141.

26 Vgl. Benhabib, Seyla, Critique, Norm and Utopia. A study of the origin of the foundation of Critical Theory, New York 1986, S. 23-24.

27 Hegel, G.W.F. Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniss zu den positiven Rechtswissenschaften, in g.W. in 21 Bd., hier Bd. 4 Jenaer kritische Schriften, Hamburg 1968, S. 425.

28 Vgl. Moore, George Edward, Principia Ethica, Cambridge 1970, S. 75.

29 Vgl. Seelmann, Rechtsphilosophie, S. 146.

30 Vgl. Agamben, Giorgio, Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004, S. 72.

31 Ebd., S. 51.

32 Vgl. ebd. S. 22-30.

33 Cicero zit. nach, Agamben, Ausnahmezustand, S. 53.

34 Cicero, De re publica, Kommentar, S. 61.

35 Agamben, Ausnahmezustand, S. 63.

36 Vgl. ebd. S. 66.

37 Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a.M. 1965, S. 64.

38 Ebd. S. 84.

39 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 304.

40 Cicero, De re publica, 3. 33.

41 Ebd. 3. 23.

42 Vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 177.

43 Agamben, Ausnahmezustand, S. 103.

44 Ebd. S. 103/104.

45 Agamben, Homo Sacer, S. 182.

46 Ebd. S. 16.

47 Vgl. ebd. S. 30.

48 Adorno, Negative Dialektik, S. 235.

49 Ebd.S. 358.

50 Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Darmstadt 1998, S. 60.

51 Vgl. Agamben, Giorgio, A Work of Art Without an Author: The State of Exception, the Administration of Disorder and Private Life, in: German Law Journal No. 5 (1 May 2004), http://www.germanlawjournal.com/article.php?id=437, am 15.9.07.

52 Agamben, Giorgio, Jenseits der Menschenrechte . Einschluss und Ausschluss im Nationalstaat, in: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/28/sub03a.htm, am 17.9.07.

53 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 64.

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