REINHARD LETTAU – Vom Erfurter Gymnasiasten zum Dichter, Lehrer, Weltbürger und Rebellen

Uhr, Foto: Stefan Groß

I.

„Ich bin über den Abschied von Erfurt nie richtig hinweggekommen“, so Reinhard Lettau 1994, zwei Jahre vor seinem Tod, im Gespräch mit Frank Quilitzsch. In Erfurt sei er, trotz der schweren Zeit, mit dauernden Luftangriffen, „unglaublich glücklich“ gewesen. Er spricht von einer „schönen Kindheit“.

Nicht nur Erfurt, sondern die Thüringer Landschaft ließ ihn niemals los. In Massachusetts habe er sich „neu in die Landschaft verliebt, denn sie hat mich an Thüringen erinnert.“ Auch die Armut an Bäumen, die der Baumfreund Lettau in England beobachtete, verglich er mit dem Thüringer Reichtum.

Die Anregung zu einem seiner wichtigsten Bücher, „Auftritt Manigs“, (1963) ist mit Erfurt verbunden. Manig „war ein Nachbar, ein guter Freund von mir. Wir gingen zusammen auf die ‚Himmelspforte‘, die Gutenberg-Schule, er war drei Klassen über mir. Nach einem nächtlichen Luftangriff liefen wir die Straße entlang, da wurde gerade eine tote Frau aus dem Haus gezogen, ihr Kopf bumste immerzu aufs Pflaster. Ein Schock für uns. Und plötzlich sagte mein Freund Manig zu mir: Dieser Heldentod ist doch eine furchtbare Scheiße… Dann wurde er eingezogen, und zwei Jahre später kam der Briefträger, und wir hörten nur den Schrei von Frau Manig.“ Die Kurzgeschichten des „Manig“ – Bandes wurden von Brechts „Keuner“- Geschichten inspiriert.

Zu den Erfurter Erinnerungen Lettaus gehört, dass er hier als Jugendlicher zweimal verhaftet wurde. „Einmal habe ich mich den Amerikanern als Dolmetscher angeboten, ein andermal im Auftrag meiner Mutter einen Nachbarn vor den Russen gewarnt. Dann habe ich eine Zeitung herausgegeben, natürlich ohne Lizenz.“ Welche Zeitung er meint, sagte er 1994 nicht. Wir wissen, dass er schon als Schüler zu schreiben begann und gar als Schriftleiter der Schulzeitungen „Unser Blick“ und „Erfurter Allerlei“ tätig war.

Lettau verbrachte die ersten 18 Jahre seines Lebens in Erfurt. Vor allem in seiner letzten Prosa-Edition „Zur Frage der Himmelsrichtungen“, die 1988 erschien, als der Autor schon sehr krank war, setzte er seiner Heimatstadt Erfurt ein besonderes, eigenartiges literarisches Denkmal. Erfurt setzte ihm keines. Weder eine Tafel am Geburtshaus am Domplatz, eine Straße, ein Bibliotheksraum, ein Platz tragen seinen Namen. Darauf machte Christina Onnasch während eines literarischen Spaziergangs aufmerksam. (TLZ, 24.6.2011) Wenig später kam ihre Edition eines nachgelassenen erzählerischen Frühwerks von Lettau heraus, das in Thüringen angesiedelt ist. Davon später.

Der Prosazyklus von 1988, den Lettau seinen Eltern widmete, weist so viele Mosaiksteine auf wie ein Jahr Wochen hat: 52. Der vielreisende Weltbürger sinniert auf seine skurrile Weise von vielen Punkten der Welt aus über die Himmelrichtungen. Das Spezifische dabei ist, dass Thüringen und Erfurt sich fast zufällig immer wieder als besonders wichtige Orte erweisen. Gleich im ersten Part lesen wir: „Legt man sich nun als Wissenschaftler die Frage vor, zu welchem Ort der Erde man aufbrechen müßte, um die Himmelrichtungen, wie sie uns überliefert sind, zu bezeichnen, ohne hierbei den jeweiligen Ort zu leugnen, so wird man sich nach Europa, genauer: nach Erfurt in Thüringen begeben müssen.“ Was bei dem Wissenschaftler Lettau wie eine wissenschaftliche Darlegung zur Geografie daherkommt, ist bei genauerer Betrachtung stets eine Liebeserklärung an die Region seiner Kindheit. Auch liefert der Dichter vielfältige Gründe dafür, warum gerade das thüringische Erfurt dieser auserkorene Ort ist. So geschieht dies augenzwinkernd auch in der Buchmitte, in der Skizze 23, die aus nur einem Satz besteht. „In diesen Gegenden, in denen es in alle Richtungen nur geradeausgeht, wenn man dort leben will, muß man viel können, z.B. wenn man lieber in einem Haus statt im Freien wohnt, muß man es bauen, und wenn es schon dasteht, täglich neu bauen können, ebenfalls Glas blasen, Wasser finden, d. h. man kommt zu gar nichts, vielleicht wäre man doch lieber in Erfurt geblieben, wo mehr Platz zu leben ist.“ Kurzum, Erfurt wird in einen globalen Kontext gestellt und erhält dabei eine herausragende Rolle. Dies zeigt Lettau 1988, wohlwissend, dass sich die damalige „Bezirkshauptstadt“ nach 27 Jahren noch immer hinter dem Eisernen Vorhang befand.

Lettau war, um wieder auf seine Biographie zu blicken, auch promovierter Germanist. Die Doktorurkunde überreichte ihm kein Geringerer als John F. Kennedy. Sein Spezialgebiet war die Vergleichende Literaturwissenschaft. Jahrzehnte arbeitete er in den USA, in England, kurz auch in Deutschland als Hochschullehrer.

Bei den Deutschen sei das „Verlassen des Hauses“ indessen zum „Hauptberuf“ geworden sei. Den Tourismus nennt er 1994 die „Pest des Jahrhunderts“. Der vielreisende Dichter und Wissenschaftler „fahre prinzipiell nur hin, wo ich eingeladen werde.“ Wirklich heimisch wurde er nirgends und nie.

Er liebäugelte mit einer Rückkehr in die Region seiner Kindheit. „Ich brauche noch ein bißchen Zeit, um es noch einmal mit Thüringen zu versuchen. Es müßte auch ein bißchen außerhalb Erfurts sein.“ (Palmbaum 4/ 1994)

Blickt man auf sein Erfurt-, genauer gesagt, auf sein Bischleben-Gedicht „Warnung“, so hat man inhaltlich und formal fast den ganzen Dichter Reinhard Lettau vor sich: Die Liebe zu seiner Geburtsstadt Erfurt, sein Hang zur Knappheit, Lettaus – durch Kafka mitgeprägte – Vorliebe für das Spielerische, Skurrile und Phantastische, seine Solidarität mit den Nicht- Privilegierten.

 

Warnung

(1)    Die guten Beziehungen zwischen

Der Ortschaft Bischleben in Thüringen einerseits

Und der englischen Krone andererseits

Erklären sich folgendermaßen:

 

(5)  Ein großer Teil des englischen Hochadels

Kommt aus Bischleben.

 

Wenn man jetzt

Edelleute

Aus Bischleben nicht mehr nach

(10) London ausreisen lässt, so hat das seine

Folgen fürs Commonwelth.

 

Gewidmet hat Lettau dieses ungereimte, freirhythmische Gedicht dem Graphiker und Buchgestalter Uwe Bremer, mit dem er über Jahre zusammenarbeitete. Der dreistropfige lyrische Text in elf Versen findet sich in dem Band „Immer kürzer werdende Geschichten & Gedichte & Porträts“ (1973). Der Text beginnt mit einer erklärenden Situationsbeschreibung, der sich im Gedichtzentrum eine These, gar eine Behauptung anschließt. In der abschließenden Versgruppe werden die (freilich überzogenen) Konsequenzen aufgezeigt und – wie es der Titel verspricht – eine Warnung ausgesprochen. Das harte Wort „Warnung“ umspielt der Dichter aber ironisch.

Die Schlussstrophe ist politisch brisant, wenngleich Lettau seine Kritik verdeckt, fast spaßig vorträgt: In Bischleben wohnende „Edelleute“ (vielleicht auch „edle Leute“, die einen eigenen Vers verdienen) dürfen nicht nach London reisen. (V. 8-10) Im Schlussvers ist von den „Folgen fürs Commanwealth“ die Rede. Reinhold Lettau bringt im Gedicht die kleine Welt der provinziellen „Ortschaft“ seiner Heimat auf spielerische Weise mit dem Staatenbund des ehemaligen britischen Weltreiches zusammen.

 

III.

Das Werk Lettaus ist vom Umfang her schmal, dabei jedoch sehr vielfältig. Das Wichtigste sind seine knappen, leicht daherkommenden, aber hintergründigen Prosatexte. Hinzu kommen Gedichte, Essays und Reden. Mancher seiner Texte wurden zum Hörspiel, andere fanden den Weg auf die Bühne. Für die Rubrik „Gelesen& Wiedergelesen“, die der Thüringer Literaturrat initiierte, formulierte Jürgen K. Hultenreich nach der Lektüre des Bandes „Alle Geschichten“ (1998) stark übertreibend: Was Lettau „in fünfunddreißig Jahren schrieb, lesen wir an einem Tag. Um uns am Abend zu wundern, dass wir so glücklich sind.“

Der Autor Reinhard Lettau stand für den ostdeutschen Leser nicht in der ersten Reihe der bundesdeutschen Literatur. Seine wenigen in der DDR erschienenen Bücher wurden nicht (wie etwa die Heinrich Bölls) unter dem Ladentisch verborgen. Immerhin erschienen im Osten Deutschlands, im Leipziger Reclam Verlag, zwei Bücher Lettaus: Zunächst 1973 – zwei Jahre nach der Erstausgabe – der Band „Täglicher Faschismus – Amerikanische Evidenz aus sechs Monaten“. Hier legte der Autor eine dokumentarische Presseanalyse der Vereinigten Staaten zur Zeit des Vietnam-Krieges vor. Unter dem Titel „Irrgarten – Geschichten und Gespräche“ folgte 1980 ein weiteres Taschenbuch. Es enthält Textproben aus den Bänden „Schwierigkeiten beim Häuserbauen“ (1962), „Auftritt Manigs“, „Die Feinde“(1968) und „Frühstückgespräche in Miami“(1977). Die Auswahl fand die volle Zustimmung des Autors. Unüblich war es, dass der Leipziger Verlag den Herausgeber nicht nannte und auf ein Nachwort verzichtete. Sein zweites, im Osten Deutschlands erschienene Buch machte eine Reise in die DDR und einen Besuch Erfurts möglich, den ersten seit seiner Kindheit.

In wesentlichen Anthologien der DDR ist Lettau mit wichtigen Beiträgen vertreten: In „Erkundungen – 24 Erzähler aus der BRD und Westberlin“ sind Partien aus den „Frühstücksgespräche(n) in Miami“ zu lesen. Für das „Lesebuch – BRD heute – Westberlin heute“ steuerte der deutsch-amerikanische Schriftsteller 1982 seinen kritischen Essay „Deutschland als Ausland“ bei. In der Rubrik „Zu den Autoren“ hatten die Herausgeber Lettau versehentlich 10 Jahre älter gemacht, als sie sein Geburtsjahr mit 1919 angaben. In beiden Sammlungen steht Lettaus Name neben dem Christoph Meckels, der Jahre später das gleiche Erfurter Gymnasium besuchte. Mit Meckel (Jahrgang 1935) ist Lettau auch in der opulenten Anthologie „Denkzettel- Politische Lyrik aus der BRD und Westberlin“ vertreten, die 1973 bei Reclam erschien. Von Lettau wurden die Gedichte „Mehrheit“ und „Ein Beispiel für die verschiedenen Wirkungen einer Zeitungsmeldung“ aufgenommen. In letzterem Text zeigt Lettau, wie unentschieden und zugleich verlogen die New York Times mit der Nazivergangenheit des Ex-Kanzlers Kiesinger umgeht.

 

  1. *

Als 2011 in der von Wulf Kirsten begründeten, von Kai Agthe weitergeführten Edition „Muschelkalk“ (36) Reinhard Lettaus „Romanversuch“ „Roter Sturm über Thüringen – Deutschlands Herz wird rot“ herauskam, war dies im Thüringischen eine kleine literarische Sensation. Im ersten Heft des „Palmbaums“, dem „Literarischen Journal aus Thüringen“, meldeten sich 2012 kontroverse Stimmen zu Lettaus frühem, postum erschienenen Text zu Wort. Martin Straub sprach von einem „hochinteressanten Dokument über Erfurt in den ersten Zeiten nach dem II. Weltkrieg als die Soldaten der Roten Armee nach den Amerikanern das Zepter übernahmen.“ (S.197) Schon der Titel lasse stutzen, meinte Jens-Fietje Dwars, verantwortlicher Redakteur des Journals. „Roter Stern über Thüringen. Das klingt wie ein CDU-Wahlplakat aus den Hochzeiten des Kalten Krieges. Und als genüge das nicht, folgt noch der martialische Untertitel: Deutschlands Herz wird rot. Der Rest ist leider nicht viel besser: ein Machwerk voller Klischees, die Sprache hölzern, der Antikommunismus penetrant, dass man Zweifel hat, ob das Buch denn wirklich von Lettau stamme. Der galt als Linker, als Achtundsechziger, nachdem er 1971 in seinem Buch Täglicher Faschismus totalitäre Tendenzen in den USA gebrandmarkt hatte.“ (S. 202) Der „penetrante Antikommunismus“ ist vor allem aus der Schreibsituation erklärbar: Der beginnende Autor war 1947 vor stalinistischen Entwicklungen (der „Sowjetisierung“ Thüringens und verschiedener Intrigen) noch vor seinen Eltern aus Thüringen geflohen.

Noch rigoroser ging 2012 der thüringische Landeshistoriker Professor Volker Wahl mit Lettaus Frühwerk ins Gericht. Lettau schildere die Thüringer Jahre zwischen 1945 und 1947 „aus der Sicht des damaligen Landespräsidenten Rudolf Paul (1893-1978), was auffällig ist“ heißt es in der Zeitschrift des Vereins für Thüringer Geschichte (66). Lettau erzählt allerdings nicht durchgehend aus Pauls Perspektive, erstmals ab Seite 14. Wahl spricht als Geschichtswissenschaftler, als Mann der Quellen, abschließend von „einer missglückten Edition eines verunglückten ‚Romanversuchs‘“ (S.380) Wie kam er zu diesem vernichtenden Urteil?

Der Weimarer Archivar weist nach, dass der junge Lettau 1947, nach seiner Flucht in den Westen, Pauls Erinnerungsbericht zur Verfügung hatte und diesen recht ausgiebig zu nutzen wusste. Paul und Lettaus Vater, Leiter der Landesversicherungsanstalt, wohnten seit 1948 in Frankfurt a.M. bzw. (nach Volker Wahl) in Wiesbaden, waren so fast Nachbarn.

Die gleiche Quelle, zeigt Wahl, stand auch dem gestandenen Erzähler Theodor Plievier (1892-1955) zur Verfügung, der von 1945-1947 gleichfalls in Weimar wirkte. In seinem Roman „Berlin“, welcher 1954 als Teil einer Trilogie in München erschien, geht er ebenfalls auf die Thüringer Ereignisse zwischen 1945 und 1947 ein. Mit Blick auf Lettau nennt Wahl Plievier den weitaus „geschickteren Plagiator!“ (Ebenda, S. 378)

Interessant ist, dass Plievier, der im Auftrag der KPD nach Thüringen kam und als Landesleiter des Kulturbundes wirkte, in Lettaus dokumentarischem „Romanversuch“ als Figur vorkommt. (S.21/22) Lettau, der Plieviers Roman „Stalingrad“ als Fortsetzungsroman in einer KPD-Zeitung zur Kenntnis genommen hatte, betrachtet skeptisch, dass Plievier als Schriftsteller und Politiker in Personalunion bei der Landtagswahl für die SED antritt.

Berücksichtigt man, dass der Jenaer Historiker Professor Jürgen John, der für 2019 eine Edition der Paulschen Erinnerungen vorbereitet, auf Lettau zu sprechen kommt und Gerd Kaiser im „Blättchen“ (vom 5.12 2011) eine Rezension zu Lettaus Erstling drucken ließ, so war die Resonanz auf Lettaus frühen Text rein quantitativ beachtenswert.

Reinhard Lettau hatte seinen rohen Erstling aus gutem Grunde nicht veröffentlicht. Die beträchtlichen künstlerischen Mängel und die ungenaue Darstellung vieler Momente der Zeitgeschichte in seinem „Romanversuch“ waren ihm bewusst. Auch sollte sein Text, wahrlich keine genialische Frühleistung, nicht im Schatten der Roman-Trilogie Plieviers stehen.

 

V.

Über Lettaus Leben und Werk nachdenken heißt nicht zu vergessen, wie dieser Schriftsteller, der seit 1960 einen amerikanischen Pass hatte, als „Gast“ während einiger Freisemester die Westberliner Ereignisse mit ihrem Kulminationspunkt 1967/1968, zur Zeit der Notstandsgesetze und der Außerparlamentarischen Opposition, nicht nur beobachtete, sondern mitprägte. Eine solcher Rückblick, ein halbes Jahrhundert nach den Rebellionen in vielen Staaten, scheint angebracht. Reinhard Lettau dachte in dieser Zeit über die Möglichkeiten der Literatur nach und favorisierte – wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss u.a. – die Hinwendung zum Dokumentarischen.

Im Herbst 1962 gehörte er zu jenen, die den Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein verteidigten, als dieser verhaftet wurde, weil er „sogenannte militärische Geheimnisse“ an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Das Spiegelmanifest wurde von der Gruppe 47 verfasst, über die Lettau 1967 ein „Handbuch – Bericht, Kritik, Polemik“ herausgegeben hatte. Auch der „Aufruf für eine neue Regierung“, gemeint war eine sozialdemokratische, trägt im Sommer 1965 Lettaus Unterschrift.

Die „Gruppe 47“, zu der Lettau gehörte und in der er mehrfach las, bekämpfte 1967 den Springer-Konzern, der fast 33 % aller deutschen Zeitungen und Zeitschriften kontrollierte. Die Unterzeichner des Manifests vom Oktober 1967 weigerten sich, in einem Organ des Axel-Springer- Konzerns zu publizieren oder Anzeigen für ihre Bücher dort schalten zu lassen.

Reinhard Lettau war Teilnehmer am Internationalen Vietnamkongress in Westberlin im Februar 1968, den der Senat zunächst verbieten wollte. Die Resolution, die mit der Aussage „Vietnam ist das Spanien unserer Generation“ einsetzt, trägt ebenso Lettaus Unterschrift. Die Quellen zeigen, dass Lettau in der Rückschau die Jahre 1967/68 als eine Einheit sieht. Bekanntlich war der Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 der Anlass für die Revolten. Auch Lettau gehörte zu jenen, die nach dem Mord die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Duensing forderten.

Besondere Beachtung fand Lettaus kurze Rede „Von der Servilität der Presse“, die er im April 1967 in der Freien Universität hielt. „In der ganzen Welt, außer in Westberlin weiß man, daß die hiesige Presse polizeihörig und servil ist und im Zweifelsfall auf der Seite der Autorität steht…“ Es gelte „jede Autorität immer und überall und unentwegt in Frage zu stellen und zu kontrollieren.“ Von besonderer Brisanz war der prägnante Schlusssatz: „Mit den Rezepten des Polizeipräsidenten, des Rektors und der Westberlinre Presse hätte man allerdings nie die Tuilerien erstürmt und hätte in Boston den englischen Tee nicht in den Hafen geworfen. Mit den Lieber-Duensing-Springer- Rezepten wären wir noch immer in der Steinzeit.“ (S. 245 f.) Dieser Redetext, der 1979 Aufnahme in den berühmten Band „Vaterland, Muttersprache“ fand, führte dazu, dass die Behörden den Dichter ohne deutschen Pass als lästigen Ausländer auszuweisen gedachten. Sein öffentliches Verbrennen bestimmter Berliner Zeitungen verstärkte den amtlichen Zorn. Durch Proteste vieler Berliner konnte diese Ausweisung verhindert werden.

Lettau ist ein Autor, der bis zuletzt – nicht nur bei der Zeitungslektüre – genauestens auf die Sprache achtete. Das Schreiben macht er mehrfach zum Gegenstand seines Schreibens: „Vom Schreiben über Vorgänge in direkter Nähe oder in der Entfernung von Schreibtischen.“ (1979) Sensibilität im Umgang mit Sprache fordert er auch 1994 ein. „Die deutsche Sprache wird systematisch verstümmelt. In den Medien gibt es überhaupt keinen Genitiv mehr, keinen Dativ, keine Apposition…“ Heute, im Jahre 2018, zu Zeiten Tramps, wäre vieles noch weitaus schärfer zu formulieren. Reinhard Lettau, der ein Schwinden von Scham und Höflichkeit konstatiert, kam vor 22 Jahre (im Gespräch mit Quilitzsch) zu Aussagen von verblüffender Aktualität. „Deutschland wird von einer liberalen Elite beherrscht, zu der wir ja auch gehören. Die aber hat ein gestörtes Verhältnis zum Land, zu patriotischen Gefühlen. Und so wird dieses Feld den Rechten überlassen. Das halte ich für gefährlich. Wo sollen denn Leute, die vierzehn alt sind und immer hören Deutschland ist Scheiße, irgendeine Art von Selbstwertgefühl herkriegen?“ (Palmbaum 4 / 1994)

 

VI.

In ihrer Dankesrede zum Thüringer Literaturpreis (2005) kam die in Gotha geborene Erzählerin Sigrid Damm gleich eingangs auf den Beginn ihrer Freundschaft mit Reinhard Lettau zu sprechen. „Als ich ihn 1990 kennenlernte – gelockt von den Veränderungen war er nach langer Zeit wieder nach Deutschland gekommen – riefen wir uns, ohne Vorrede, ohne uns eigentlich bekannt zu machen, über den Tisch hinweg Namen zu: Bischleben, Gispersleben, Neudietendorf, Fahnersche Höhen, Ettersberg, Wandersleben, Oßmannstedt, Drei Gleichen, Steigerwald…

Bis heute erinnere ich mich dieses heiteren, fast eruptiven Ausbruchs, mit dem wir unsere Lebensorte im thüringischen Raum topographisch umkreisten, mit unseren Zurufen wie Kartographen das Feld unserer Herkunft absteckten und damit eine für die anderen (Schriftsteller, die mit am Tisch saßen – U.K.) völlig unverständliche Nähe erzeugten.“ (Auskünfte, 2000, S. 295 f.)

 

Der Plan des Dichters, in die Thüringer Provinz zurückzukehren, erfüllte sich für den zuletzt in Berlin Lebenden nicht. An einer Lungenentzündung verstarb er früh, im 67. Lebensjahr. Auf dem Friedhof am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg wurde er am 27 Juni 1967 begraben. Ganz in seiner Nähe ruht E.T.A. Hoffmann, der „Gespenster- Hoffmann“, wie Lettau ein Meister des Phantastischen.

 

 

Verfasser: PD Dr. Ulrich Kaufmann, geboren 1951, lebt in Jena-Cospeda, Rotdornweg 6, Tel. 03641 / 9283059.

( 6,5 Seiten)

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PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.