Dominik von Ribbentrop: Verstehen und Verständnis – ein zeithistorischer Balanceakt

Ribbentrop_Pixabay_andreas160578

Wenn ein Enkel eines der Hauptakteure des NS-Regimes „Anmerkungen“ zu seinem Großvater veröffentlicht, weckt die großen Erwartungen. Dominik von Ribbentrop, der Enkel des Reichaußenministers Joachim von Ribbentrop, der ab 1939 Hitlers Außenpolitik vertrat, übernimmt zunächst einmal Verantwortung – das ist zu loben. Denn er schreibt über das, was ihm ungewollt in die Wiege gelegt wurde. In einem durchaus frischen und zeitgemäß aufgemachten Buch spürt er des Weiteren den Wechselwirkungen nach, die das Denken und Wirken von Individuen, aber auch von Gruppen, Gesellschaften und Nationen, nach wie vor bestimmen. Und er geht dabei durchaus über die unselige Zeit des Nationalsozialismus hinaus, bemüht sich um Aktualität. Auch dies – ein guter Ansatz.

Ribbentrop legt, so lässt es sich beschreiben, eine historische, soziologische auch philosophische Reise durch das 20. Jahrhundert an. Für die Jahre von 1918 bis 1945 kann das auch als gelungen gelten. Dann jedoch legt er es auf Parallelen zu den heutigen Vorgängen in Deutschland, Europa und der Welt an, und geht ist der Maßstab – in einem zugegebenermaßen extrem groß Themengebiet – etwas verloren. So ist denn allenfalls ansatzweise zu erkennen, was sichtbar werden soll, und die Bezüge wirken stellenweise konstruiert. Das sollte aber nicht zu sehr irritieren, denn dies ist nur ein Seitenaspekt. Zunächst und in der Hauptsache geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Und hier wird der Leser durchaus fündig.

Der Titel dieses Buches ist geschickt gewählt. Er weckt Interesse. Mit 80 Jahre Abstand betrachtet Dominik von Ribbentrop das Leben seines Großvaters, immer geleitet von der letztlich fassungslosen Frage: „Wie konnte das passieren?“ Spannend, wie Ribbentrop „die Wirbelstürme der damaligen Ideologien und der Kämpfe um Vorherrschaften“ schildert, wie es der Verlag sehr bildhaft benennt. Als exemplarisch für einen solchen „Wirbelsturm“ darf wohl eine Szene gelten, in der Außenminister Ribbentrop, der Großvater, eigentlich schon durch den Diktator gefeuert worden war, was dieser aber alsbald bereut. Ribbentrop, der Großvater, ließ sich dann durch emotionale Erpressung einer offenbar krankhaft gestörten Persönlichkeit zur Rückkehr ins Amt bewegen. Etwas hypothetisch ist die These Ribbentrops, des Enkels, daß sein Großvater dann, wenn er sich gerade hier standhaft geweigert hätte, der Nachwelt als ein weniger schlimmer Nazi-Täter gegolten hätte. Wie das hätte funktionieren können, bleibt indessen offen.

Und es gibt weitere offene Fragen. Am Ende nimmt der Autor seinen Faden der  „Anmerkungen eines Enkels“ nochmals auf, und vielleicht hätte er es besser nicht getan, denn hier fallen einige Vergleiche – sagen wir mal – aus dem Rahmen. Dass Henning von Tresckow eigentlich auch ein NS-Täter hätte sein können, ja, eigentlich sogar einer war, und nur durch seinen Freitod schließlich ein Held wurde, wie es Ribbentrop indirekt andeutet, ist für die Frage, wie sein Großvater zu dem Täter werden konnte, der er wurde, nicht relevant. Der Autor tut sich hier selbst keinen Gefallen. Und noch etwas schwieriger ist es im Fall des Hitler-Attentäters Graf Stauffenberg, in dessen Nähe der Enkel der seinen Großvater Ribbentrop vorsichtig, aber doch erkennbar rückt – doch wohl, weil er ihn nur allzu gern dort sähe. Knapp entgeht der Autor dabei der süßen Versuchung der Hagiographie.

Erfreulicherweise ist Ribbentrops Buch in einem interessanten, aber entspannten Erzählstil gehalten. An mancher Stelle hatte der Rezensent indessen den Wunsch, dass wissenschaftliche Belege mitgegeben worden wären, denn es geht um ernste Fakten, buchstäblich um Leben und Tod. In der Anlage des Buches ist zwar erkennbar, daß hier zwar wahrhaftig und ehrlich Auskunft gegeben wird, dass ein streng wissenschaftliches Vorgehen aber gar nicht intendiert war – dieses Fehlen des „Warum“ ist also nicht in erster Linie eine Frage an den Autor, sondern eher an den Verlag, der es in sein Programm genommen hat.

Als gut lesbares Buch für eine zeitgeschichtlich interessierte Leserschaft, die sich beim Gedanken an eine Diktatur gruseln möchte, funktioniert „Verstehen. Kein Verständnis“ indessen recht gut, es ging erkennbar durch ein kundiges Lektorat. In der Schlusspassage des Buches mit ihren teils gewagten Thesen kommt jedoch ganz dezent der Eindruck auf, der Autor könnte dies Buchprojekt begonnen haben, weil er nur allzu gerne eben kein Enkel eines NS-Intensivtäters wäre. Dies ist im übrigen ein menschlich bestens erklärbarer und im übrigen völlig legitimer Wunsch, an sich ist daran nichts zu kritisieren.

Speziell wegen der Zwischenperspektive eines persönlich betroffenen, aber um Objektivität erkennbar ringenden Autors wären Register, Zeittafel, Literaturverzeichnis und vor allem Quellenangaben zu historischen Verknüpfungen sehr hilfreich. Weil es hinderlich für das Verstehen sein kann, wenn auf die Quellen nicht direkt verwiesen wird. Gleichwohl hätte sich der Leser speziell in dieser Passage erhofft, der so gewandte wie griffige Buchtitel wäre konsequenter umgesetzt worden. Und das würde bedeuten, noch etwas mehr von der Materie zu verstehen, um dann vielleicht auch die steile Ansage „kein Verständnis“ noch konsequenter durchhalten zu können.

Dominik Ribbentrop, Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels, Frankfurt am Main 2025, 336 S., Hardcover, ISBN 978-3-9879132-1-1, 32 Euro.

Über Sebastian Sigler 120 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.