Der reale Sozialismus, der Plattenbau und das Wohnen in der Zukunft

Berlin, Strausberger Platz, Quelle: frankosch, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig.

Die Geschichte des Plattenbaus ist die Geschichte einer Architektur, die stets mehr war als Beton in Serienform: ein Spiegel der Hoffnungen, Zumutungen und Brüche eines Jahrhunderts, das seine Zukunft in Normen zu fassen suchte. Zwischen politischer Verheißung und biografischem Aufbruch wurde die „Platte“ für Millionen zu einem nüchternen Wunder, das Licht, Wärme und Würde dorthin brachte, wo zuvor Mangel regierte. Und doch trägt sie – hinter ihrer Gleichförmigkeit – die ganze Ambivalenz einer Moderne, die den Menschen formen wollte, indem sie seine Räume standardisierte. Wer heute auf diese Baukörper blickt, erkennt in ihnen nicht nur die Verfehlungen einer Epoche, sondern auch die unausgesprochene Frage, wie wir künftig bauen wollen, wenn Anmut und Raum wieder zusammenfinden sollen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Von den einen als ästhetische Bankrotterklärung gescholten, von den anderen zur baulichen Apotheose sozialistischer Selbstbehauptung verklärt, für viele schlicht ein Stück schlichter, aber vollkommen verlässlicher Alltag: Die „Platte“ entzog sich von Beginn an jeder eindimensionalen Zuschreibung. Sie war zu vielschichtig, zu sehr Teil biografischer Brüche und zu sehr Ausdruck eines Staates, der seine Zukunft in Beton goss, um sich darin zu vergewissern. In einem Land, in dem ganze Straßenzüge in sich zusammensanken, wo der Winter durch ungeheizte Zimmer kroch und die Toilette noch auf halber Treppe im Bretterverschlag hauste, erschien den Bewohnern die neue Wohnung wie ein nüchternes Wunder. Es war kein Luxus, kein architektonisches Versprechen bürgerlicher Komfortästhetik, sondern einfach: Licht. Wärme. Wasser, das aus einem Hahn kam. Und eine Tür, die richtig schloss.

Berliner Wohnhaus, SGL

Die serielle Großplattenarchitektur war kein rein technisches oder ökonomisches Projekt, sondern Ausdruck einer politischen Vorstellungskraft, die sich im real existierenden Sozialismus eine eigene Logik geschaffen hatte. Walter Ulbricht (1893–1973), der nüchterne Modernist ohne Ironie, erkannte früh die Sprengkraft industrieller Rationalisierung und machte sie zum Werkzeug staatlicher Legitimation. Der Plattenbau sollte beweisen, dass Fortschritt planbar sei, dass Gesellschaft sich durch Architektur gestalten lasse, dass man das Leben in Normen fassen könne. Als Erich Honecker (1912–1994) 1971 die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ausrief, wurde der Wohnungsbau zur politischen Bühne: Der Sozialismus sollte nicht mehr erklärt, sondern bewohnt werden.

Mit der 10. Tagung des ZK der SED im Oktober 1973 wurde dieses Programm zur Staatsdoktrin gehärtet. Der Wohnungsbau wurde zum „Kernstück der Sozialpolitik“. Die Zahlen – 2,8 bis 3 Millionen Wohnungen bis 1990 – waren nicht bloße Zielmarken, sondern die architektonische Fortschreibung eines politischen Glaubens, der die Zukunft in Serie fertigen wollte. Der Beton, frisch geschalt, war das Material einer großen Erzählung; die Plattenbauweise ihr Industrielyrik.

Hochhaus, Quelle: SGL

Für unzählige Familien bedeutete der Einzug in diese neuen Räume einen Einschnitt, der kaum hoch genug anzusetzen ist. Der Übergang vom bröckelnden Altbau zur standardisierten Wohnung war mehr als ein Komfortgewinn – er war eine Verheißung neuer Zugehörigkeit, die Geburtsstunde eines sozialistisch normierten Lebensgefühls. Die Wohnung wurde zum sichtbaren Teil einer biografischen Neuordnung: Die häusliche Enge wich dem kalkulierten Gleichmaß, das Private wurde in staatlich geprüfte Raster gefasst, die Zukunft in Grundrissvarianten überführt.

Doch gerade diese Uniformität, die einst als Triumph der Gleichheit gefeiert wurde, entpuppt sich im Rückblick als ein Erbe ambivalenter Natur. In der Platte steckt die Überzeugung, dass der Mensch durch räumliche Normierung besser formbar werde – eine Idee, die weit älter ist als der Sozialismus, aber unter ihm ihre politisch radikalste Ausprägung fand. Man glaubte, das gesellschaftliche Ganze stabilisieren zu können, indem man die Wohnung strukturierte. Die Wohnung wurde zum therapeutischen Instrument einer Pädagogik der Gleichheit.

Berliner Wohnhaus, SGL

Und doch wäre es zu einfach, diesen Baukörper nur als politisches Experiment zu lesen. Deutschland besitzt – wie kaum ein anderes europäisches Land – ein Panorama seriellen Bauens, das sich nicht im Lagerdenken erschöpft. Hinter den Betonfassaden verbergen sich räumliche Konstellationen, die heute, befreit von ideologischer Patina, eine ungeahnte Schönheit entfalten. Die Karl-Marx-Allee, lange als sozialistische Monumentalkulisse unterschätzt, zeigt im zweiten Bauabschnitt ein faszinierendes Spannungsfeld: Normierte Bauelemente wachsen zu einer Monumentalität zusammen, die gleichsam gegen ihre eigene Gleichförmigkeit arbeitet. Eine Strenge, die doch zu sprechen beginnt.

Wer den Blick weitet – nach Sheffield, Göteborg, Prag, Moskau –, erkennt die transnationale Verschränkung einer Epoche, die überall dieselbe Frage stellte: Wie organisiert man das Wohnen unter dem Druck einer wachsenden Gesellschaft? Park Hill, mit seinen berühmten „Streets in the Sky“, ist der britische Versuch, Durchlässigkeit in die Enge zu schreiben; skandinavische Modelle lieferten der DDR ebenso Impulse wie die sowjetische Megalomanie. Die serielle Bauweise war ein europäisches Gespräch, kein sozialistisches Monopol.

Im Abstand der Jahrzehnte erscheint die Platte als versteinertes Gedächtnis einer Moderne, die zugleich befreien und disziplinieren wollte. Sie ist Fortschritt und Fessel, Versprechen und Zumutung, Dokument einer Epoche, die glaubte, man könne Gesellschaft wie ein Baukastensystem ordnen. In diesen Betonlandschaften sedimentierte die radikale Hoffnung des 20. Jahrhunderts: dass die Zukunft gemacht, geformt, gegossen werden könne.

Bauhaus und Platte – eine geheime Verwandtschaft

Der Plattenbau ist kein legitimer Bauhaus-Erbe – und doch wäre seine Existenz ohne das Bauhaus nicht denkbar. Nicht die Form wurde geerbt, sondern die Denkfigur. Das Bauhaus wollte das Bauen aus der Ornamentik befreien und in die Wahrheit industrieller Fertigung überführen. Es war weniger eine Schule als eine geistige Bewegung, die den Anspruch erhob, den Menschen durch den Raum neu zu situieren. Es entwarf eine Ästhetik des Funktionalen, eine Grammatik des Lichts, eine Ethik der Klarheit.

Bauhaus-Museum in Weimar, Foto: Stefan Groß

Walter Gropius (1883–1969) formulierte früh, dass ein Haus wie ein Auto zu bauen sei: modular, austauschbar, seriell. Nicht die Mauern, sondern die Methode war revolutionär. In den Werkstätten des Bauhauses entstanden jene frühen Typenbauten, die später – ohne jede künstlerische Reserve – in den Plattenbaulandschaften der sozialistischen Staaten ein zweites, härteres Leben fanden. Licht, Luft, Raum – humane Wegmarken des frühen 20. Jahrhunderts – wurden im sozialistischen Kontext in Quadratmeter und Normteile übersetzt.

Der sozialistische Plattenbau radikalisierte den Bauhausgedanken, indem er ihn seiner Ambivalenz beraubte. Wo das Bauhaus zwischen Kunst, Industrie und Lebensform zu vermitteln suchte, machte der Sozialismus aus der Idee ein Werkzeug politischer Reproduzierbarkeit. Aus dem Menschenmaß wurde das Massenmaß. Aus dem Traum der ästhetischen Befreiung wurde die Wirklichkeit eines Wohnmaschinenparks.

Und doch bleibt die genealogische Verbindung bestehen. Ohne das Bauhaus wäre die industrielle Wohnform nicht das geworden, was sie wurde. Die Platte ist nicht Bauhaus, aber sie ist – ideengeschichtlich betrachtet – dessen unerwartete, verstörende Nachfahrin: der Versuch, die industrielle Moderne in ein soziales Projekt zu verwandeln, das zwischen Hoffnung und Härte oszilliert.

Wohnen der Zukunft – vom industriellen Raster zur kulturellen Form

Wenn der soziale Wohnungsbau der Zukunft mehr sein will als eine modernisierte Fortschreibung der Großtafelästhetik, muss er die Logik des Plattenbaus nicht verwerfen, sondern transfigurieren. Das serielle Bauen bleibt unverzichtbar – doch sein Zweck verschiebt sich: weg von der rein technischen Versorgungsidee, hin zu einer kulturellen Gestaltungskraft, die dem Wohnen wieder jene Würde zurückgibt, die im industriellen Zeitalter zu oft dem Kalkül geopfert wurde. Die Zukunft fragt nicht mehr, wie viele Einheiten man stapeln kann, sondern wie Räume entstehen, die eine Gesellschaft tragen und ihr Selbstverständnis spiegeln.

Statt Betonmonaden entstehen vernetzte Quartiere, die das Leben nicht fragmentieren, sondern integrieren. Häuser, die Wohnen, Bildung, Arbeit und soziale Begegnung nicht künstlich voneinander trennen, sondern miteinander verweben – wie ein fein strukturiertes Gewebe, das den Menschen nicht nur beherbergt, sondern einbettet. Erdgeschosszonen, die nicht länger tote Ladenzeilen sind, sondern Orte produktiver Öffentlichkeit, Werkstätten, Ateliers, kleine Läden, Lesesäle. Höfe, die zu grünen Atmungsräumen werden: nicht Restflächen, sondern Orte stiller gesellschaftlicher Regeneration.

Damit verändert sich auch das Material, aus dem man die Zukunft baut. Holz, Hybridkonstruktionen, modulare und rückbaubare Elemente bilden die Bausteine eines neuen Ethos, das nicht nur auf Nachhaltigkeit verweist, sondern eine neue kulturelle Ehrlichkeit ausdrückt. Die industrielle Fertigung bleibt – doch sie wird präziser, individueller, intelligenter. Die Serie verliert ihren dogmatischen Charakter und wird zur Variation: Wiederholung, die Spielräume eröffnet statt sie zu verschließen.

Eine der großen Lehren aus den Siedlungen des 20. Jahrhunderts lautet, dass soziale Gleichheit nicht aus räumlicher Gleichförmigkeit entsteht. Eine Gesellschaft, die nicht mehr in normierten Biografien lebt, braucht Räume, die Übergänge ermöglichen: Clusterwohnungen, die Gemeinschaft und Rückzug vereinen; Mehrgenerationenmodelle, die nicht pädagogische Ideale reproduzieren, sondern natürliche Lebensbeziehungen architektonisch ermöglichen; flexible Grundrisse, die ein Leben lang mitwachsen können, statt mit dem Einzug bereits zu veralten.

Doch all dies bleibt Theorie, wenn nicht jene Instanz Verantwortung übernimmt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu oft abgetreten wurde: die öffentliche Hand. Ohne kommunale Bauträger, starke Genossenschaften und eine europäische Rahmensetzung, die Wohnen als kulturelles Gut erkennt, nicht als renditefähige Ware, bleibt der Wohnungsbau ein Marktprodukt – und die Wohnungsfrage eine soziale Zumutung. Die großen Beispiele des Kontinents – von Wien bis Kopenhagen – zeigen, dass architektonische Qualität untrennbar mit politischer Verantwortung verbunden ist.

Die Alternative zur Platte ist daher weder eine Rückkehr zur kleinbürgerlichen Idylle noch die Flucht in exklusiven Luxus, sondern eine Architektur, die Technik mit Haltung, Ökonomie mit Würde und Serienfertigung mit Individualität verbindet. Eine Architektur, die nicht verwaltet, sondern antwortet: auf das Bedürfnis nach Raum, nach Gemeinschaft, nach Sinn. Wohnen wird dann nicht länger als Zustand begriffen, der verwaltet, sondern als kulturelle Praxis, die gepflegt werden muss. So könnte der Wohnungsbau der Zukunft zu jenem kulturellen Projekt werden, das die Moderne einst versprach und nie einlöste: eine Bauweise, die den Menschen weder funktionalisiert noch idealisiert, sondern ernst nimmt – in seiner Bedürftigkeit ebenso wie in seiner schöpferischen Würde. Und vielleicht liegt gerade darin die stille, fast verschämte Hoffnung dieser neuen Epoche: dass man aus den Fehlern des industriellen Zeitalters nicht nur lernt, sondern etwas gewinnt, das in der Geschichte selten vorkommt – eine Architektur, die den Menschen nicht normiert, sondern befreit.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".