Thomas Bernhard kommt am 9. Februar 1931 in Heerlen zur Welt, einem niederländischen Grenzort, der eher Durchgangsstation als Ursprung seiner weiteren Existenz ist. Seine Mutter Herta Bernhard arbeitet dort als Hausangestellte und versucht in der Fremde ein Leben zu stabilisieren, das bereits im Ansatz fragil ist. Der Vater, Alois Zuckerstätter aus Henndorf am Wallersee, verweigert jede Verantwortung, bestreitet die Vaterschaft, wird jedoch 1939 vom Berliner Amtsgericht als Vater festgestellt und stirbt 1940 in Berlin; die genauen Umstände seines Todes sind bis heute nicht abschließend dokumentiert. Die ersten Monate seines Lebens verbringt das Kind in den Niederlanden, bevor ihn der Großvater, der Schriftsteller Johannes Freumbichler, nach Wien holt.
Diese Großvaterfigur wird für den Jungen den ersten wirklichen Halt darstellen. Und die Jahre in Seekirchen am Wallersee, wohin die Großeltern 1935 aus wirtschaftlicher Not ziehen, beschreibt Bernhard später als die wenigen Augenblicke eines beinahe unbeschwerten Daseins. Doch auch dieses kurze Glück bleibt prekär. Die Mutter heiratet 1936 erneut, zieht mit dem Sohn nach Traunstein, neue Halbgeschwister kommen hinzu, und das Leben des Kindes bleibt in steter Bewegung. Über den Vater wird nicht gesprochen; sein Name wird zum Tabu, sein Bild zur Leerstelle.
Saalfeld in Thüringen – Der Ort, der sich als Geistesvernichtungsanstalt einbrennt
Die schwerste Wunde dieser frühen Jahre öffnet sich 1943. Eine Sozialbetreuerin empfiehlt dem von Krankheiten geschwächten Jungen eine Erholungskur im Salzburger Land. Tatsächlich gelangt er jedoch nach Saalfeld in Thüringen – in ein nationalsozialistisches Erziehungsheim, geprägt von Drill und ideologischer Härte. Bernhard selbst schildert diese Entsendung im Rückblick als folgenschwere Verwechslung; biographisch gesichert ist der Aufenthalt in Saalfeld, nicht die genaue Vermittlung dorthin.
Für den Dreizehnjährigen bedeutet dieser Irrtum einen tiefen biographischen Einschnitt. Die Monate in Saalfeld, geprägt von Strenge und seelischer Bedrängnis, formen jenen Blick, der später in seinen autobiographischen Erzählungen sichtbar wird: den Blick dessen, der nicht mehr erwartet, dass eine Institution das Heil im Sinn hat. Bernhards spätere Beschreibung der Schule als „Geistesvernichtungsanstalt“ ist die präziseste Chiffre für diese Erfahrung.
1944 folgt er dem Ruf zurück nach Salzburg, in das damalige NS-Internat Johanneum. Erst nach Kriegsende wird diese Institution wieder katholisch. Einziger Lichtpunkt dieser Zeit ist der Violinunterricht bei Georg Steiner vom Mozarteum-Quartett, ein Moment der Kunst inmitten der Gewalt des Systems. Nach Bombennächten kehrt Bernhard nach Traunstein zurück; doch auch das Ende des Krieges bringt ihm keine Ruhe. Großvaters Aufzeichnungen aus den Jahren 1945 und 1948 dokumentieren tiefe seelische Krisen des Jugendlichen – Zeugnisse dafür, wie nah der Heranwachsende in diesen Monaten an existenzielle Abgründe gerät.
Der Keller – Gegenmodell zur Bürgerlichkeit
Nach dem Krieg lebt die Familie in der Salzburger Radetzkystraße. Das Akademische Gymnium, das den Anspruch erhebt, geistige Elite auszubilden, wirkt auf Bernhard wie ein Ort der Bevormundung. So verwundert es kaum, dass er die Schule abbricht und 1947 eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in der Scherzhauserfeldsiedlung, der Armensiedlung Salzburgs, beginnt.
Der Keller, in dem er arbeitet, wird zu einem Gegenuniversum zur bürgerlichen Bildungswelt. Während oben die Fassaden gepflegt werden, der Schein des Bürgerlichen regiert, die Etikette wie ein Steckenpferd gepflegt und das Unmoralische als Moralisches verkleidet wird, entdeckt er unten jene Wirklichkeit, die kein Curriculum vorsieht: die Bedürftigen, die Erkrankten, die Übersehenen. Seine spätere, unbestechliche Wahrnehmung des Sozialen hat hier ihren Ursprung.
1949 zwingt ihn eine nasse Rippenfellentzündung an die Grenze des Lebens. Schon wieder öffnet sich der Raum des Todes, schon wieder droht sein Leben im Abgrund zu verschwinden. Und weitere Schicksalsschläge folgen. Im selben Jahr stirbt der Großvater, ein Jahr später die Mutter. In dieser Häufung von Verlusten formt sich jene Einsicht, die sein gesamtes Werk grundiert: dass Krankheit und Tod nicht Störung des Lebens sind, sondern sein Fundament.
Hedwig Stavianicek – Die zweite Achse
1950 tritt eine zweite entscheidende Person in sein Leben: Hedwig Stavianicek, 37 Jahre älter, gebildet, streng, klar im Urteil. Sie hört Bernhard in der Lungenheilstätte Grafenhof singen und sucht sofort das Gespräch. Zwischen beiden entsteht ein geistiger Bund, der ohne Sentimentalität auskommt und doch von tiefer Zuneigung getragen ist.
Durch sie öffnet sich für Bernhard die Bühne der Wiener Gesellschaft; mit ihr betritt er einen Boden, der ihm bislang verschlossen war. Hedwig ermöglicht ihm den Eintritt in die Welt der urbanen Kultur, die ihm gleichzeitig Inspiration und Angriffsziel wird. Die Jahre ihrer Freundschaft, ihre Reisen, ihr Austausch prägen sein Denken nachhaltig. Diese Verbindung bleibt bis zu ihrem Tod 1984 bestehen; Bernhard pflegt sie bis zuletzt. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Leerstelle, sondern wird literarisch in „Alte Meister“ verarbeitet – in jener Mischung aus Ironie und Trauer, die sein Spätwerk kennzeichnet.
Bernhards Schreiben beginnt leise; der Umgang mit den Worten gleicht einem vorsichtigen Herantasten an eine Welt, die ihm künftig Luft und Raum zum Atmen gibt. 1950 veröffentlicht er unter dem Pseudonym Thomas Fabian die Erzählung „Das rote Licht“. Zwischen 1952 und 1955 arbeitet er als Journalist, besucht Kurse am Mozarteum und hält 1954 einen Vortrag über Arthur Rimbaud, in dem seine Skepsis gegenüber staatlicher Kulturpolitik deutlich wird.
Auf dem Tonhof des Komponisten Gerhard Lampersberg begegnet er H. C. Artmann, Christine Lavant und Peter Turrini. Der Tonhof wird zum Brennpunkt einer literarischen Szene, die zwischen Förderung und Rivalität schwankt. Jahrzehnte später wird „Holzfällen“ diese Konstellationen schonungslos beleuchten.
Der literarische Durchbruch
Der literarische Durchbruch gelingt ihm 1963 mit dem Roman „Frost“. Für dieses Werk erhält er 1965 den Bremer Literaturpreis. Das Preisgeld verwendet er nicht für Prestigesymbole, sondern für den Kauf des Vierkanthofs in Obernathal, eines 700 Jahre alten Gebäudes, das zu seinem Lebenszentrum wird. Hier entsteht ein Großteil seines Werks. Die dort lebende Altbäuerin Anna Reisenberger, mit Wohnrecht ausgestattet, wird zu einer stillen Beobachterin seines Alltags und damit Teil seiner geistigen Topographie.
Parallel zu diesem ländlichen Rückzugsort nutzt Bernhard die Kaffeehäuser in Wien, Salzburg und Gmunden als urbane Resonanzräume. Der Bräunerhof wird zur geistigen Zweitwohnung – ein Ort der Selbstbeobachtung und der Verachtung, der zugleich Grundlage seiner literarischen Genauigkeit ist –doch bei aller Reflexion, bei aller Sezisierung des Lebens, Bernhard ist ein kranker Mann. Das Lungenleiden seiner Jugend bleibt sein Leben lang präsent, hat sich eingebrannt und liegt wie ein dunkler Schatten auf seinem Körper. Der später diagnostizierte Morbus Boeck und die sich verschlechternde Herzfunktion – eine dilatative Kardiomyopathie – bestimmen zunehmend seinen Alltag. Doch Krankheit bedeutet für ihn keine Schwächung, sondern eine Verschärfung der Wahrnehmung. Sie entblößt die Wahrheit der Existenz, die sich hinter gesellschaftlicher Selbstdarstellung verbirgt. Krankheit ist für Bernhard nicht Ausnahme, sondern Klarheit.
Die Sprache als Angriff und als Motor
Kaum ein anderer Schriftsteller hat die Sprache in solcher Radikalität zur Waffe geformt wie Bernhard. Seine Monologe sind musikalische Redeströme, getragen von Wiederholung, Steigerung und Variation. Polemik wird zur Erkenntnis, Übertreibung zur Methode. Seine Figuren sprechen nicht, um Recht zu behalten, sondern um trügerische Ordnungen zu zerschlagen. In „Die Ursache“ nennt er Salzburg eine „Todeskrankheit“, an anderer Stelle eine „perfide Fassade“ – Formeln, die bis heute durch die Sekundärliteratur hallen.
1968, bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises, spricht er jenen Satz, der die Republik erschüttert: „Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ Eine landesweite Debatte folgt. Ehrungen werden zurückgezogen, Zeitungen empören sich. Bernhard nutzt den Konflikt nicht zur Flucht, sondern als Bestätigung seiner Diagnose: dass die Öffentlichkeit jene Wahrheiten am heftigsten bekämpft, die sie am deutlichsten betreffen.
„Holzfällen“ wird nach einer Ehrenbeleidigungsklage des Komponisten Gerhard Lampersberg zunächst verboten und zeitweise aus dem Verkehr gezogen; das Verbot wird 1987 aufgehoben. „Heldenplatz“ entfacht 1988 einen Kulturkampf, der Wochen andauert. Das Drama entsteht im Auftrag von Burgtheater-Direktor Claus Peymann zum hundertjährigen Jubiläum des Hauses und wird von Anfang an nicht als Festspiel, sondern als radikale Intervention konzipiert. Der Skandal beginnt, als am 7. Oktober 1988 erstmals aus dem Zusammenhang gerissene Textfragmente in „Wochenpresse“ und „Kronen Zeitung“ erscheinen – ein kalkulierter Tabubruch, der die öffentliche Erregung entfesselt. Die moralisch überhitzte Atmosphäre der Waldheim-Affäre, der Reflex des nationalen Selbstschutzes und die Offenheit der Jubiläumsjahre verbinden sich zu einer explosiven Mischung. Politiker, Kirchenmänner und Boulevardblätter stilisieren das Stück zum staatsgefährdenden Pamphlet, obwohl kaum jemand es vollständig kennt. So entsteht ein Skandal, der weniger aus der Dramatik Bernhards erwächst als aus der Dramatik einer Republik, die in ihren eigenen Schatten erschrickt und in „Heldenplatz“ nicht ein Theaterstück, sondern einen Ankläger erkennt. Doch die Premiere wird ein Triumph und bestätigt Bernhards literarische Autorität. Die Zusammenarbeit zwischen Bernhard und Peymann entwickelt sich Anfang der 1970er Jahre zu einer der produktivsten Allianzen des deutschsprachigen Theaters; ihren ersten gemeinsamen Erfolg feiern sie 1978 mit „Minetti“. Bernhard widmet dieser Beziehung später das Dramolett „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“.
Der letzte Winter
Ende 1988 verschlechtert sich Bernhards gesundheitlicher Zustand drastisch. Sein Halbbruder Peter Fabjan, Internist in Gmunden, betreut ihn seit Jahren. Am 12. Februar 1989 stirbt Bernhard in seiner Wohnung an Herzversagen. Er wird auf dem Grinzinger Friedhof beigesetzt – im Grab von Hedwig Stavianicek. Nur drei Angehörige sind anwesend, wie er es verfügt hatte.
In seinem Testament verfügt er ein umfassendes Aufführungs- und Publikationsverbot seiner Werke in Österreich. Auch wenn spätere Nachlassentscheidungen dieses Verbot de facto lockern, bleibt es als symbolische Geste eines lebenslangen Konflikts bestehen.
Was an Bernhard bis heute wirkt, ist seine entschlossene Weigerung, sich an den Trost der Oberflächen zu gewöhnen. Seine Literatur zeigt den Menschen in seiner Zerbrechlichkeit, die Gesellschaft in ihrer Maskerade und das Land in seiner Selbsttäuschung. Sie verlangt Wahrnehmung, nicht Zustimmung. Bernhard war kein Zerstörer, sondern ein Beobachter größter Genauigkeit – einer, der die Schatten ausleuchtete und darin eine Wahrheit fand, die tiefer reicht als jeder staatliche Preis. Seine Texte bleiben eine Schule des Sehens – und ein Gegengift gegen die Pose unserer Zeit.
