„Du musst dein Leben ändern“ – Zum 150. Geburtstag Rainer Maria Rilkes

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Rainer Maria Rilke wäre heute wohl ein Außenseiter. Der große europäische Dichter, geboren am 4. Dezember 1875 in Prag, wäre in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden. Ein Anlass, sich erneut jenem Seher, Eremiten und Verklärer zuzuwenden, dessen Worte wie aus einer anderen Welt in unsere Gegenwart herüberhallen: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“, heißt es in der ersten „Duineser Elegie“, die er auf Schloss Duino in der Nähe von Triest 1912 beginnt. Alle zehn Elegien wird er nach zehn Jahren langer Schaffenskrise 1922 vollenden.

Das Wort als Welt – Rilkes Sprachmystik

Rilke war kein Dichter für den schnellen Trost, kein Freund einfacher Wahrheiten. Er war ein Wanderer zwischen Geist und Körper, Christentum und Mythos, Europa und Ewigkeit. Seine Verse sind keine ästhetischen Produkte, sondern existentielle Erfahrungen. Sprache war für ihn nie Mittel zum Zweck, bloßes Sich-Verständigen, sondern Ursprung, buchstäblich Suche nach dem, was mit Worten gedacht, was Sprache als Schöpfung zu geben vermag. Und so  erscheint das Wort beim gebürtigen Prager und Weltenwanderer nicht als Werkzeug des Verstandes, sondern als Schöpfungsakt. Die Dinge zu sehen, bleibt sein Credo  – und dieses Sehen, dieses Ein- und Durchdringen begreift er als seine ethisch-metaphysische Aufgabe.

Rilke war, wie der der große Philosoph Martin Heidegger, überzeugt: Die Sprache ist das Haus des Seins. Doch während Heidegger philosophisch räsonierte, lebte Rilke diesen Gedanken existenziell durch. Seine „Dinggedichte“, etwa in den „Neuen Gedichten“ (1907), zeugen davon, wie Sprache die Dinge nicht benennt, sondern erschafft: den „Panther“, der nicht nur in seinem Käfig geht, sondern zum Sinnbild eines eingesperrten Daseins wird; die Rose, die nicht blüht, sondern betet. Es ist ein poetischer Sakramentalismus, der die Welt nicht erklärt, sondern verklärt – ohne dabei in bloße Romantik zu verfallen.

Wer Rilkes Denken verstehen will, kommt an seinen „Duineser Elegien“ nicht vorbei – jenen hymnischen Klage- und Preisgesängen, die zwischen 1912 und 1922 entstanden und wie ein apokrypher Text über der Moderne schweben. Die Engel, die in diesen Elegien auftreten, sind keine Boten Gottes, sondern absolute Wesen jenseits des Menschlichen. Sie sind schön – zu schön, als dass der Mensch sie ertragen könnte. „Ein jeder Engel ist schrecklich“, ruft Rilke – und meint damit: Das Göttliche ist nicht tröstlich, sondern überwältigend.

Die Engel sind Spiegel des Absoluten, und dieses Absolute ist nicht der christliche Gott in pastoraler Pose, sondern ein metaphysisches Prinzip, das sich dem Menschen nur im Schmerz, in der Ekstase, in der Kunst offenbart. Rilkes Theologie ist eine der Immanenz, der Verwandlung: Das Göttliche zeigt sich in der Welt – aber nur, wenn der Mensch bereit ist, sich zu ändern.

Die Verwandlung als Lebensprinzip

„Du musst dein Leben ändern.“ Dieser Imperativ aus dem berühmten Gedicht Archaïscher Torso Apollos ist nicht moralisch, sondern ontologisch zu verstehen. Rilke fordert keine Tugend, sondern Metamorphose. Der Mensch ist bei ihm kein fertiges Wesen, sondern ein Werdendes, ein Unfertiges, das sich stets in ein Anderes überführen muss – sei es in der Liebe, in der Einsamkeit oder im Tod.

In den „Sonetten an Orpheus“ feiert Rilke die Figur des mythischen Sängers nicht als Helden, sondern als Archetyp des Verwandlers. Orpheus verwandelt die Welt durch Gesang – und nur in dieser poetischen Geste erkennt Rilke den Sinn menschlicher Existenz. Kunst ist nicht Nachahmung, sondern Wandlung. Leben ist nicht Besitz, sondern Gabe.

Es ist verführerisch, Rilke als spirituellen Dichter zu bezeichnen. Doch sein Verhältnis zum Christentum war ebenso distanziert wie tief – keine Konfession, sondern eine innere Bewegung. Er war kein Kirchenchrist, doch auch kein bloßer Pantheist. Vielmehr war er ein Suchender, dessen dichterische Theologie sich jenseits aller Dogmen vollzog.

Rilkes Mystik ist christlich grundiert, aber offen für alles Transzendente. Er glaubte an die Auferstehung der Dinge im Gedicht – nicht an die buchstäbliche Auferstehung der Toten. Für Rilke war das Christentum ein poetischer Raum, kein institutioneller. Christus war für ihn nicht der Erlöser, sondern der große Mitfühlende – ein Bruder im Leiden, nicht ein Herr im Himmel.

Rilkes Erbe in der Gegenwart – ein Auftrag, kein Nachruf

Was bleibt von Rilke? In einer Zeit, in der Algorithmen unsere Aufmerksamkeit kolonisieren und Poesie zur Instagram-Kategorie verkommt, wirkt Rilke wie ein Relikt – oder wie ein Prophet. Seine Verse lassen sich nicht twittern, seine Gedanken nicht in Podcasts pressen. Er ist unzeitgemäß – und gerade deshalb so notwendig.

Denn Rilke erinnert uns daran, dass das Menschsein eine Aufgabe ist. Kein Konsum, kein Produkt, sondern ein Prozess. Er mahnt uns, tiefer zu sehen, langsamer zu leben, ehrlicher zu fühlen. In einer Welt, die sich dem Äußeren verschrieben hat, ruft er zum Innersten auf. In einer Zeit, die das Ich glorifiziert, erinnert er an das Du.

Zum 150. Geburtstag Rainer Maria Rilkes wäre es also nicht genug, ihn zu feiern. Man müsste ihn hören. Lesen. Schweigen. Und schließlich den alten Imperativ neu hören: Du musst dein Leben ändern.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".