Hannah Arendt: Zwischen Mob und Elite: eine kurze Allianz mit langer Wirkung

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Es gehört zu den merkwürdigen Ironien des 20. Jahrhunderts, dass ausgerechnet jene Frau, die sich zeitlebens gegen alle Versuche sperrte, ihr Denken in die Schablone eines Systems zu pressen, heute zu den präzisesten Seismographen unserer politischen Gegenwart zählt; denn Hannah Arendt hat, lange bevor sich die Erosionen der Moderne abzeichneten, jene Mechanismen freigelegt, mit denen Gesellschaften ihre Freiheit verspielen, ihre Urteilskraft einbüßen und sich am Ende selbst in den Strudel des Totalitären treiben lassen, und vielleicht liegt gerade darin der Grund, weshalb ihre Texte im Augenblick so viel unmittelbarer wirken als viele theoretische Entwürfe, die nach ihr geschrieben wurden. Dass sie weder Partei ergriff noch einer Richtung angehörte, macht ihre Stimme heute umso verlässlicher — eine Stimme, die uns mahnt, die Geschichten unserer Zeit nicht zu überhören, bevor sie Geschichte geworden sind.

Wenn Hannah Arendt die Entstehung totalitärer Herrschaft rekonstruiert, interessiert sie sich nicht nur für Institutionen, Ideologien und Apparate, sondern auch für jene eigentümliche Nähe, die sich für einen historischen Moment zwischen intellektueller Elite und gesellschaftlichem Bodensatz einstellt. In einer früheren Studie über den Imperialismus bereitet sie diese Perspektive vor; später verarbeitet sie sie systematisch in ihrem großen Werk über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“.

Sie beobachtet: Totalitäre Bewegungen gewinnen ihre Sprengkraft nicht zuletzt aus der echten Hingabe ihrer Anhänger. Erstaunlich viele Vertreter der geistigen und künstlerischen Oberschicht lassen sich – wenigstens für eine Zeit – auf diese Regime ein. Diese Elite, die sich bereits vor dem Zerfall der Klassengesellschaft innerlich von der bürgerlichen Ordnung gelöst hat, erkennt in den entwurzelten „Massenindividuen“ etwas Vertrautes. Auf der anderen Seite steht der „Mob“: jene Mischung aus Unterwelt, Randexistenzen, Gesindel, die von Verfassung, Parteien und herkömmlicher Moral kaum berührt wird. In dem Moment, in dem traditionelle Laufbahnen verschlossen sind, wird dieser Rand zum Reservoir für politische Karrieren.

Die Parteiführer wähnen anfangs, die Kooperation mit dem Mob beschädige ihre eigene Seriosität. Tatsächlich ist es umgekehrt: Die Lage der Massen ist so hoffnungslos geworden, dass sie mit der herkömmlichen Gesellschaft wenig verbinden. Gerade Figuren wie Hitler und Stalin verkörpern für Arendt Züge dieses Pöbels – fanatisch, rachsüchtig, aggressiv. Die temporäre Allianz zwischen Elite und Mob speist sich aus einem durchaus genuinen Lustmoment: Die Gebildeten genießen es, wenn der rohe Rand der Gesellschaft die bürgerliche „Respektabilität“ der „feinen Gesellschaft“ bloßstellt – wenn Großindustrielle den gescheiterten Kunstmaler im braunen Hemd empfangen oder das kulturelle Leben mit plumpen Fälschungen aus seiner akademischen Bahn gerissen wird.

Die geistige Elite fasziniert der radikale Gestus dieser Bewegungen: dass sie private und öffentliche Sphäre ineinander schieben, dass sie einen Anspruch auf den ganzen Menschen erheben und ihn in eine allumfassende Weltanschauung einspannen. Arendt sieht in den Überzeugungen des Mobs nichts anderes als die ungefilterte, nicht mehr höflich kaschierte Variante bürgerlicher Einstellungen. Am Ende aber werden sowohl die Erwartungen der Elite als auch die Hoffnungen des Mobs enttäuscht. Die Führer der totalitären Bewegungen, häufig selbst aus milieus der Unterschicht hervorgegangen, verfolgen weder die Interessen ihrer alten Genossen noch diejenigen der Intellektuellen. Sie zielen auf „Reiche“, die auf Dauer gestellt werden sollen. Eigenständige Initiativen aus den Reihen der Radikalen wären für den Aufbau rational durchkalkulierter Herrschafts- und Vernichtungsapparate störend gewesen. In der Praxis stützten sich die Regime lieber auf „gleichgeschaltete Spießer“, deren Konformismus verlässlich ist.

Wie Propaganda Wirklichkeit verschiebt

Damit aus vereinzelter Frustration eine Bewegung werden kann, braucht es für Arendt die systematische Bearbeitung der Wahrnehmung. Der Mob mag aus eigenem Antrieb bereit sein, das Bestehende zu zerstören; die breite Masse muss erst gewonnen werden – durch Propaganda. Totalitäre Bewegungen bündeln die diffuse Unruhe und richten sie auf umfassende Deutungsmuster: Rassenphantasien, Versprechen einer klassen- oder nationslosen Gesellschaft, Konstruktionen geheimer Verschwörungen, die angeblich alles lenken.

An den „Protokollen der Weisen von Zion“ zeigt Arendt exemplarisch, wie eine durchschaubare Fälschung zu einer Art Schriftenkanon einer Massenbewegung werden konnte. Der Text funktioniert, weil er in eine moderne Grundstimmung hineinragt: das Gefühl, unsichtbaren Mächten ausgeliefert zu sein, die Geschichte im Hintergrund steuern. Alte antisemitische Stereotype werden mit zeitgenössischen Elementen kombiniert – und gerade dieses Gemisch verschafft der Fälschung ihre zähe Wirksamkeit.

Auch im sowjetischen System findet Arendt antijüdische Motive, die sich an dieses Muster anlehnen. Die Rede von einer „zionistischen“ Verschwörung, die Ausweitung des Begriffs auf alle Juden – unabhängig von ihrem tatsächlichen politischen Standort – knüpft an vorhandene Ressentiments an und eignet sich in den Augen der Machthaber besser zur Begründung von Weltherrschaftsansprüchen als abstrakte Begriffe wie „Imperialismus“ oder Kapital.

Nach der Machtergreifung verlagert sich das Gewicht: Propaganda, nach außen gerichtet, macht der nach innen gewandten Indoktrination Platz. Der Terror richtet sich nun nicht mehr nur gegen reale oder imaginierte Gegner, sondern ebenso gegen einstige Mitstreiter, die unbequem werden. Die Loyalität der Überzeugten geht so weit, dass sie bereit sind, den eigenen Tod als Opfer für Führer und Partei zu akzeptieren – Arendt verweist hier auf die Haltung vieler Angeklagter in den Moskauer Prozessen.

Auffällig ist für sie, dass die offenkundige Absurdität der Lügen den Glauben keineswegs bricht. Weder die Wehrlosigkeit der jüdischen Bevölkerung hat die Erzählung von ihrer angeblichen Allmacht zerstört, noch die physische Vernichtung trotzkistischer Oppositioneller die Fiktion einer trotzkistischen Weltverschwörung. Die Konstruktion bleibt wirksam, obwohl die Realität sie längst dementiert.

Terror als Funktionsprinzip – und nicht nur als Mittel

Schritt für Schritt wird unter nationalsozialistischer Herrschaft ein Apparat errichtet, der Gewalt monopolisieren und zugleich verschleiern soll. Die Strukturen werden vereinheitlicht, verschärft, immer undurchsichtiger. Das Recht zu töten – und die Fähigkeit, die Spuren dieses Tötens zu verwischen – wird zur sichtbaren Programmatik. Es ist kein Geheimnis, dass die Nationalsozialisten einen Vernichtungskrieg planen, „fremde“ Völker vertreiben und biologisch als minderwertig definierte Menschen „ausmerzen“ wollen; ebenso transparent sind die weltweiten Ambitionen der Bolschewiki.

Die Fiktionen, auf die sich der Terror stützt, bleiben in Bewegung. Während der Nationalsozialismus an der Idee einer jüdischen Weltverschwörung festhält, wechselt die sowjetische Führung ihre Feindbilder: erst Trotzkisten, dann imperialistische Kräfte, schließlich „wurzellose Kosmopoliten“. Organisatorisch bündelt Stalin seine Macht, indem er die kommunistischen Parteien weltweit in filialartige Anhängsel einer von Moskau kontrollierten Internationale verwandelt. Im Inneren bildet der Geheimpolizeiapparat – GPU, später andere Namen – den Kern dieser „totalen Welt“.

Arendt ist vorsichtig mit Zahlen. Für die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungssystems liegen ihr bereits belastbare Größenordnungen vor, die Dimensionen der stalinistischen Morde kann sie nur umrisshaft benennen: von der Liquidierung der Kulaken über Verluste bei der Kollektivierung bis hin zu „Säuberungen“ und Massendeportationen ganzer Völker. Sie stützt sich auf zeitgenössische russische Stimmen, die von Flächenrepressionen berichten.

Die Lager erscheinen ihr als Versuchsanordnungen: Orte, an denen Menschen nicht nur physisch vernichtet, sondern in ihrer Person schrittweise aufgelöst werden. Identität, Spontaneität, Pluralität sollen zerstört werden. Die Verbrechen sind so radikal, dass sie für Außenstehende kaum glaubwürdig wirken; gerade das Unvorstellbare schützt die Täter.

Die Zerstörung der Person – juristisch, moralisch, physisch

Konzentrationslager, so beschreibt Arendt, stehen prinzipiell außerhalb normaler Rechtssysteme. Sie beruhen auf der systematischen „Entrechtung“: Menschen werden auf Etiketten reduziert – „Jude“, „Bazillenträger“, „Vertreter absterbender Klassen“. Bei politischen Häftlingen und Kriminellen gelingt es der Herrschaft nicht vollständig, die juristische Person zu vernichten, weil diese wenigstens ein Motiv kennen. Die Mehrheit der Opfer hat keine Schuld im klassischen Sinn; gerade sie werden in den Gaskammern ermordet, während tatsächliche Gegner des Regimes nicht selten bereits vorher ausgeschaltet werden. Rechtlosigkeit wird zur Voraussetzung totaler Verfügbarkeit.

Hinzu tritt, was Arendt die Zerstörung der moralischen Person nennt. Die Herrschaft organisiert ein umfassendes Vergessen, das in Familien und Freundeskreise hineinreicht; Tod und Verschwinden werden anonymisiert. Entscheidungen, die auf Gewissen oder moralischer Urteilskraft beruhen, werden ins Leere gestellt. Sie verweist auf geschilderte Situationen, in denen Opfer vor unmögliche Entscheidungen gestellt werden – etwa eine Mutter, die wählen soll, welches ihrer Kinder getötet wird. In solchen Konstellationen wird Moral als Orientierungssystem regelrecht aufgehoben.

Die Praxis, Menschen zu „lebenden Leichen“ zu machen, beginnt früh: Transportbedingungen, öffentliche Entkleidung, Rasuren, Schikanen und Torturen sind nicht bloß Begleiterscheinungen, sondern Teil eines Programms zur Entformung der Person. Arendt unterscheidet zwischen frühen Phasen, in denen noch unmittelbarer Hass und rohe Brutalität dominieren, und der späteren, technisch durchorganisierten Vernichtung, die in einem fast routinierten, mechanisierten Ablauf vollzogen wird – mit Tätern, die sich äußerlich wenig von „normalen“ Menschen unterscheiden, aber systematisch in eine bestimmte Rolle hineinerzogen werden.

Der Terror übt auf entwurzelte, orientierungslose Menschen zunächst eine makabre Anziehungskraft aus. Später presst er die Massen zusammen, zerstört alle Bindungen und treibt die Menschen bis zu jenem Punkt, an dem sie, von Angst und Verlassenheit umstellt, sogar dann noch „mitlaufen“, wenn sie bereits zu jenen gehören, die als „überflüssig“ markiert sind. Typisch ist für Arendt: Totalitäre Systeme brechen nicht langsam aus, sondern beginnen plötzlich – und sie enden ebenso abrupt. Danach setzen die Verleugnungen ein: Viele leugnen die eigene Beteiligung, die Mitgliedschaft, die Verantwortung.

„Vita activa“ – eine Anthropologie aus der Geburt heraus

Von hier aus führt Arendt ein zweiter großer Weg ihres Denkens zu einem anderen Fokus: weg von der Rekonstruktion totaler Herrschaft hin zur Grundfrage, was es heißt, überhaupt tätig zu sein. In „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ setzt sie mit einem bewussten Gegenakzent zu Heidegger: nicht der Tod, sondern die Geburt – die Möglichkeit, neu anzufangen – steht am Anfang ihres Denkens.

Sie schlägt vor, das menschliche Dasein unter dem Gesichtspunkt dreier Grundtätigkeiten zu betrachten: Arbeiten, Herstellen, Handeln. Das Arbeiten sichert den biologischen und ökonomischen Fortbestand; es bleibt an Notwendigkeit und Zwang gebunden. Das Herstellen schafft eine relativ stabile künstliche Welt – Dinge, an denen Menschen sich festhalten können, die Dauer erlauben und das Gefühl eines „Zu-Hause-Seins“ stiften. Produkte der Arbeit werden verbraucht, Produkte des Herstellens gebraucht.

Das Handeln unterscheidet sich von beidem: Es ist auf andere bezogen, findet im gemeinsamen Raum statt und begründet Politik und Geschichte. In kommunikativen Prozessen – im Sprechen, im gemeinsamen Beraten, im Entscheiden – zeigen Menschen ihre Einzigartigkeit und zugleich ihre Fähigkeit, mit anderen zusammen eine Welt aufzubauen. Handeln setzt Pluralität voraus: dass es mehrere, voneinander verschiedene Menschen gibt, die nicht auf eine Rolle reduzierbar sind.

Vom antiken Marktplatz zur modernen Massengesellschaft

Ihre leitende Folie ist die griechische Polis. Dort, so Arendt, war der öffentliche Raum strikt vom privaten getrennt: Notwendigkeit und Zwang, die mit Arbeit und Haushalt verbunden sind, blieben im Haus; Freiheit und öffentliche Rede fanden auf dem Marktplatz statt. Im Mittelalter verschiebt sich der Akzent: Unter christlichen Vorzeichen gilt die „vita contemplativa“, die auf Gott gerichtete Betrachtung, als höchste Form menschlichen Lebens. Das Handwerk, das Herstellen, gewinnt eine Aufwertung; das politische Handeln verliert Rang. Der Mensch wird zum „Homo faber“, dem Gestalter einer künstlichen Welt.

Die neuzeitliche Philosophie, insbesondere Hegel, bindet Politik stark an einen vermeintlich notwendigen Geschichtsverlauf. In dem Maß, in dem Geschichte auf ein absolutes Ziel zugespitzt wird, wächst die Neigung, reale Entwicklungen unter Berufung auf angebliche „Notwendigkeiten“ zu rechtfertigen. Arendt sieht in dieser Tradition einen geistigen Nährboden für totalitäre Ideologien.

Parallel dazu entsteht eine Massengesellschaft, in der Individuen zwar formell gleich sind, aber durch Bürokratien normiert und gelenkt werden. Unterschiede werden privatisiert; öffentliche Konformität wird zur Erwartung. Wo große Menschenansammlungen keinen politischen Raum mehr finden, tendiert das Ganze zur Despotie – sei es in der Form eines starken Einzelnen oder in Gestalt einer Mehrheit, die sich als Souverän versteht. Bürokratien werden zu anonymen Herrschaftsformen, in denen niemand wirklich verantwortlich zu sein scheint.

Arendt setzt dagegen eine republikanische Tradition, die sie bei Kant wiederfindet. Dessen Moralphilosophie deutet sie als Versuch, die Pluralität der Menschen ernst zu nehmen: Jeder soll nicht nur als Untertan, sondern als Mitgesetzgeber gedacht werden. Darin findet sie einen Ansatzpunkt für jene Vorstellung von Politik, in der Freiheit mehr ist als die Abwesenheit von Zwang: nämlich die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln und zu urteilen.

Revolution, Räte und die verlorene Erfahrung der öffentlichen Freiheit

In „Über die Revolution“ knüpft Arendt unmittelbar an diese Fragestellungen an. In einem nachgelassenen Text über „Die Freiheit, frei zu sein“ formuliert sie ihre Ausgangsthese: Revolutionen sind keine zwangsläufigen Resultate sozialer Misere, sondern Antworten auf den Verfall politischer Autorität. Solange staatliche Ordnung und Befehlskette intakt sind, bleibt ein Umsturz unwahrscheinlich. Bröckelt die Autorität, kann die Gelegenheit entstehen, einen Anfang zu wagen.

Sie vergleicht die Französische und die Amerikanische Revolution. Ihr Interesse gilt weniger den bekannten Etappen historischer Abläufe als dem, was sie den „Geist der Revolution“ nennt: die Erfahrung öffentlicher Freiheit, die Freude am gemeinsamen Handeln, das Bewusstsein, Teil einer Gründung zu sein. In der Sprache des 18. Jahrhunderts, schreibt sie, heißen diese Prinzipien „öffentliche Freiheit“, „öffentliches Glück“, „öffentlicher Geist“.

Die Frage, die sie umtreibt, lautet: Warum ist dieser Geist so schwer in dauerhafte Institutionen zu überführen? Sie knüpft an Thomas Jefferson an, der nach seiner Präsidentschaft darüber reflektiert, was von der revolutionären Erfahrung geblieben ist. Jefferson kommt zu der Einsicht, dass es nach der Verfassungseinführung kaum noch Orte gebe, an denen das Volk sich als politisch Handelnder erfahre. Die alten „town meetings“ verlieren ihre Bedeutung; das öffentliche Engagement verengt sich, die Aufmerksamkeit wandert ins Private.

Arendt greift Jeffersons Modell kleiner, örtlicher Einheiten – der „wards“ – auf und deutet sie als „Elementarrepubliken“. Für sie markieren diese Strukturen einen Gegenentwurf zur reinen Parteienrepräsentation. Parteien, egal ob zwei oder viele, neigen dazu, Politik zu professionalisieren und die Bürgerrolle auf gelegentliches Wählen zu reduzieren. Dem stellt Arendt die Rätestruktur entgegen, die in unterschiedlichen Revolutionen auftaucht – von Russland bis zu Arbeiter- und Soldatenräten nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Gremien, so ihre Diagnose, sind meist parteilos, pragmatisch, auf Aufbau eines neuen Gemeinwesens orientiert. Gerade deshalb werden sie von Parteien als Konkurrenz empfunden und mit staatlicher Macht bekämpft.

Ihr Plädoyer für Räte ist kein romantischer Rückgriff, sondern Ausdruck einer Überzeugung: Menschen können sich nur dann als wirklich frei erleben, wenn sie an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen. Wer nie erfährt, was „öffentliche Freiheit“ bedeutet, bleibt in einem entscheidenden Sinn unpolitisch – selbst dann, wenn er seinen Lebensunterhalt in einer Demokratie verdient.

Denken, Wollen, Urteilen – der späte Versuch einer inneren Topographie

Im Spätwerk verschiebt Arendt den Schwerpunkt erneut. In „Vom Leben des Geistes“ – postum veröffentlicht – nimmt sie sich nacheinander das Denken, das Wollen und das Urteilen vor. Auslöser ist auch hier eine politische Erfahrung: der Eichmann-Prozess. In „Eichmann in Jerusalem“ prägt sie die Formel von der „Banalität des Bösen“. Sie meint damit nicht, dass das Böse harmlos wäre, sondern dass die Täter nicht notwendig dämonische Gestalten sein müssen. Der Angeklagte erscheint ihr als jemand, der nicht wirklich denkt, sondern in Floskeln lebt.

Die Frage lautet nun: Kann das Denken selbst – verstanden als die Gewohnheit, Ereignisse und Handlungen innerlich zu prüfen – ein Schutz gegen das Böse sein? Arendt definiert Ethik und Moral zunächst nüchtern als Sitte und Gewohnheit. Gewissen im strengen Sinn heißt für sie: zu wissen, mit wem man es zu tun hat, wenn man mit sich selbst allein ist. Interessanterweise hält sie gerade „gute“ Menschen für diejenigen, die ein schlechtes Gewissen entwickeln können; notorische Täter verfügen oft über ein robustes „gutes“ Gewissen. Das innere Gespräch mit sich selbst – ein Motiv, das sie bei Sokrates anschließt – wird zur Voraussetzung dafür, dass ein Mensch vor sich bestehen kann.

Das Wollen beschreibt sie als Doppelbewegung: Es entwächst dem Begehren und dem Denken zugleich. Der Wille ist für sie die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen, das Alte hinter sich zu lassen. In Verbindung mit der Gebürtlichkeit der Menschen – ihrer Verschiedenheit und der Möglichkeit, einen Anfang zu setzen – wird der Wille zum Träger von Freiheit, aber auch zum Risiko: Spontane, unreflektierte Willensimpulse können destruktiv sein. Historisch beobachtet sie, dass der Begriff des Willens in der Antike kaum eine Rolle spielte; seine Karriere beginnt mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Innenlebens.

Beim Urteilen orientiert sich Arendt an Kants ästhetischer Urteilskraft. Sie interessiert, wie Menschen zu einem Urteil gelangen, ohne sich auf starre Begriffe oder Dogmen zu stützen. Das Beispiel einer als schön empfundenen Blume zeigt ihr: Ein Urteil entsteht, ohne dass man erst eine Kategorie bildet, in die alle Blumen fallen müssten. Entscheidend ist die Fähigkeit, sich in andere Standpunkte hineinzuversetzen – „repräsentatives Denken“. Politische Urteilskraft bedeutet für sie: die Perspektiven anderer mitzudenken, ohne den eigenen Ort preiszugeben.

Wirkung: von der Totalitarismuskritik zur Zivilgesellschaft

Berühmt wird Arendt zuerst mit dem großen Totalitarismusbuch. Es wird zum Standardtext politischer Bildung, zum Argumentationsarsenal im Kalten Krieg und zur Inspirationsquelle für eine undogmatische Linke, besonders in Frankreich und den USA. Dass sie Nationalsozialismus und Stalinismus – bei aller Differenz – als Varianten eines totalen Herrschaftsmodells analysiert, bringt ihr Zustimmung, aber auch heftige Kritik ein. Orthodoxe Marxisten und dogmatische Kommunisten sehen ihre Systeme düpiert.

Edward Said zählt Arendt, auch wegen ihrer Lektüre Joseph Conrads, in den Kontext imperialismuskritischer Theorie – einer Tradition, die Imperium sowohl von innen als auch von außen in den Blick nimmt. Karl Jaspers lobt „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ als Geschichtsschreibung großen Stils: Forschung und philosophischer Blick verschränken sich so, dass Urteilskraft in der politischen Wirklichkeit erst möglich wird. Arendt gebe keine Rezepte, sondern Einsichten, die der Würde des Menschen dienen sollen.

Die Reportage über Eichmann in Jerusalem löst in den 1960er-Jahren eine regelrechte Kontroverse aus. Ihr Begriff vom „banalen“ Täter wird ihr lange als Verharmlosung ausgelegt. Spätere Quellen, etwa aus Eichmanns eigenen Aufzeichnungen, lassen erkennen, dass sein Antisemitismus tiefer reichte, als Arendt ihn im Verfahren wahrnehmen konnte. Dennoch bleibt ihre Analyse ein Bezugspunkt: Jan Philipp Reemtsma etwa hebt hervor, dass spätestens seit Arendt die simple „Pathologisierung“ von Tätern als Erklärung nicht mehr ausreicht.

Jürgen Habermas rechnet Arendt zu den prägenden Geistern seiner eigenen Theorieentwicklung. Er sieht in ihrer Macht- und Handlungstheorie eine Parallele zu seiner Konzeption kommunikativen Handelns, distanziert sich zugleich von ihrer Nähe zu aristotelischen Kategorien und ihrer Skepsis gegenüber der Französischen Revolution. In seinen Arbeiten – bis hin zu „Faktizität und Geltung“ – setzt er sich an vielen Stellen mit ihr auseinander, übernimmt Elemente, widerspricht in anderen Punkten.

Hauke Brunkhorst zeichnet nach, wie Habermas-Schüler in den 1980er-Jahren Arendts Überlegungen nutzen, um das Demokratiedefizit der älteren kritischen Theorie zu korrigieren. Autoren wie Helmut Dubiel, Ulrich Rödel und Günter Frankenberg greifen Arendts Machtverständnis und das Motiv der Zivilgesellschaft auf. In dem Moment, in dem weltweit über „civil society“ diskutiert wird – im Angesicht neoliberaler Politik im Westen und späterer Transformationsprozesse im Osten –, erlebt Arendt eine neue Konjunktur.

Seyla Benhabib sieht in ihr die politische Theoretikerin eines „posttotalitären“ Augenblicks: Nachdem der klassische Marxismus an Überzeugungskraft verliert, gewinnen Arendts Überlegungen zu Pluralität, Öffentlichkeit und Anfang neue Relevanz. Für Teile der Frauenbewegung wird sie zur Bezugsfigur – nicht, weil sie sich ausdrücklich als Feministin verstanden hätte, sondern weil ihr Weg und ihre intellektuelle Unabhängigkeit ein Modell jenseits der etablierten Rollenmuster bieten.

Gleichzeitig gibt es kritische Gegenstimmen. Walter Laqueur spricht Ende der 1990er-Jahre vom „Arendt-Kult“, besonders in Deutschland. Er bemängelt ihre Einschätzungen der aktuellen Politik, wirft ihr ein distanziertes Verhältnis zum Judentum vor und stößt sich an ihrer Israel-Kritik. Ralf Dahrendorf zählt sie mit Vorbehalten zu den eigenständigen liberal-humanistischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Andere wiederum halten ihr vor, soziale Fragen zu unterschätzen. Arendt selbst beharrt darauf, dass sie sich bewusst auf das Politische konzentriere und Verwaltungsthemen – etwa Wohnungsbau – zwar als wichtig, aber nicht als Kern ihrer Reflexion betrachte. Philosophinnen wie Rahel Jaeggi gehen in jüngerer Zeit den Verbindungslinien und Bruchstellen zwischen ihrem politischen und dem sozialen Denken nach.

Elisabeth Young-Bruehl weist darauf hin, dass Arendts Reflexionen über Vergebung und Neubeginn in Mechanismen wie der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission unerwartete Resonanz gefunden haben: Erstmals wird Verzeihen zu einem öffentlich verhandelten Prinzip staatlichen Handelns. Eine eigene „Schule“ im engeren Sinn bildet sich um Arendt nicht. Ihr Werk lädt eher dazu ein, sich einzelne Linien anzueignen, statt einem geschlossenen System zu folgen. Lange Zeit sind es nur wenige – Habermas, Ernst Vollrath und andere –, die das Gesamtwerk ernst nehmen. In einer postmodernen Situation, in der „Denken ohne Geländer“, Pluralität und Vielstimmigkeit geschätzt werden, wächst das Interesse. Thomas Wild weist darauf hin, dass die akademische Karriere, die Arendt in den USA machen konnte, für eine Frau in Europa zur selben Zeit kaum denkbar gewesen wäre. Amos Elon bringt es auf eine knappe Formel: Das 20. Jahrhundert sei ohne Arendt kaum zu verstehen.

Institutionen, Archive, Nachleben

Ihr persönlicher Nachlass verteilt sich auf mehrere Institutionen. Die umfangreiche Bibliothek mit mehreren tausend Bänden und Dokumenten kommt Mitte der 1970er-Jahre an das Bard College, das Teile davon zugänglich macht. In Dresden arbeitet seit 1993 ein nach ihr benanntes Institut für Totalitarismusforschung, das sich mit Nationalsozialismus und SED-Regime beschäftigt, Tagungen organisiert und Editionen unterstützt.

In Ungarn formiert sich Ende der 1990er-Jahre eine Gesellschaft, die unter dem Namen Arendts verstärkt über Menschenrechte nachdenkt – auch vor dem Hintergrund ihrer Diagnose, dass reine Proklamationen ohne politische Durchsetzung keine Garantie bieten. In Zürich, wo Arendt Ende der 1950er einen Vortrag über Freiheit und Politik gehalten hat, finden in den 1990er-Jahren regelmäßig „Hannah-Arendt-Tage“ statt; in Hannover etablieren sich ähnliche Veranstaltungsreihen. In Oldenburg entsteht ein Zentrum, das mit Editionen, Tagungen und einer eigenen Buchreihe das Werk erschließt. An der New School in New York, wo Arendt zuletzt lehrte, wird ein Hannah Arendt Center eingerichtet. Ein internationaler Newsletter bündelt seit Mitte der 2000er Jahre Aufsätze und bislang unveröffentlichte Texte.

„Ich stehe nirgendwo“ – eine Denkerin im Gegenstrom

Auf einer Konferenz zu ihren Ehren in Toronto Anfang der 1970er-Jahre wird Arendt direkt gefragt, wo sie politisch stehe. Ihre Antwort ist lapidar: Sie stehe nirgends, schwimme in keinem Strom des aktuellen oder irgendeines politischen Denkens, und das keineswegs aus Originalitätssucht, sondern weil sie schlicht nirgends hinein passe. In dieser knappen Selbstbeschreibung steckt viel: Es ist weder Attitüde noch Selbststilisierung, sondern eine nüchterne Feststellung. Wer ihr Werk liest, merkt schnell, dass es sich tatsächlichen Lagern entzieht – sozialistisch war sie nie, liberal im engeren Sinne auch nicht, konservativ schon gar nicht.

Ihr Eigensinn, eher eine Form des intellektuellen Stolzes als bloße Sturheit, macht sie für viele zugleich faszinierend und anstrengend. Sie folgt ihrem inneren Kompass, auch wenn der quer zu Mehrheitsmeinungen verläuft. Schon Anfang der 1930er Jahre, als viele Intellektuelle noch auf eine Eindämmung des Nationalsozialismus hoffen, ist ihr klar, dass Hitler zur Macht kommen wird – und dass dies für jüdisches Leben in Deutschland existenzielle Konsequenzen haben wird. Sie wird durch Verfolgung und Flucht in die Politik gestoßen – und bleibt fortan bei der Frage, wie Freiheit zerstört werden kann, aber auch, wie sie unter widrigen Umständen neu beginnt.

Ihr Bezugshorizont reicht weit zurück: Die griechische Polis bildet für sie einen gedanklichen Grund, der so lange präsent bleibt, wie überhaupt von Politik gesprochen wird. Wenn sie schreibt, die antike Stadt liege wie ein Bild auf dem Grund des Meeres, das immer wieder in unser Blickfeld gerät, dann sind das keine historischen Nostalgien, sondern Versuche, aus alten Erfahrungen Maßstäbe für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen.

Gegen die Arbeitsgesellschaft – und gegen die Pädagogik des Mitleids

In „Vita activa“ seziert Arendt eine moderne Tragödie: Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, die technisch so weit ist, sich von Mühen zu entlasten – und doch kaum noch weiß, wofür sich diese Befreiung lohnen soll. Wer nur noch Arbeit kennt, hat Mühe, andere Tätigkeiten – Denken, Handeln, Gestalten – zu benennen. Arendt hält dieser Verengung entgegen, dass politisches Handeln, Kunst, geistige Tätigkeit als eigenständige Sphären begriffen werden müssen, nicht als Luxus, der nebenbei anfällt.

Ihr Misstrauen gegen eine Politik des Mitleids formuliert sie früh und deutlich. In einem Beitrag in einem jüdischen Blatt Anfang der 1940er Jahre wendet sie sich gegen die Vorstellung, Freiheit sei eine Art Belohnung für ausgestandene Leiden. Freiheit müsse erkämpft werden, sie sei kein moralischer Bonus. Solche Sätze gelten manchen als hart, doch Arendt zielt auf eine strenge Unterscheidung: Leid weckt Anspruch auf Solidarität, nicht automatisch auf politische Macht.

Ihre Formulierung von der „Banalität des Bösen“ macht sie zur Projektionsfläche. Manche lesen darin Kälte gegenüber den Opfern; andere erkennen, dass sie die Täter aus der Sphäre des Dämonischen herunterholt und gerade dadurch anspruchsvoller bewertet. In ihren Texten zur jüdischen Frage und zu Israel schwankt der Ton zwischen Hoffnung, scharfer Kritik und ironischer Distanz. Der jüdische Staat ist für sie eine notwendige Heimstatt – aber kein Ort, der sie vor kritischen Bemerkungen schützt. Gerade diese Kombination aus Loyalität und Unabhängigkeit sorgt bis heute für Kontroversen.

Zwischen Polis und moderner Demokratie

Arendt neigt dazu, moderne Demokratien an der Idee der Polis zu messen. Sie weiß, dass sich antike Stadtstaaten nicht einfach in die Gegenwart übertragen lassen, und doch besteht sie darauf, dass die Erfahrung bürgerlicher Selbstregierung – nicht als Beruf, sondern als Lebensform – einen Maßstab bildet. Professionalisierte Politik, Parteien, Apparate tendieren in ihren Augen dazu, den Bürger zu einem Zuschauer zu machen, der in Wahlakten seine Zustimmung abgibt, aber nicht wirklich handelt.

Ihre Sympathie gilt Strukturen, in denen Menschen unmittelbar beteiligt sind: von den town meetings der amerikanischen Frühzeit bis zu Räten in Revolutionen. Sie sieht, dass solche Formen selten dauerhaft institutionell verankert werden; dennoch hält sie daran fest, dass ohne „Gelegenheitsstrukturen für Partizipation“ keine lebendige Republik existiert.

Stil, Widerspruch, Freundschaft

Wer Arendt liest, begegnet keiner geschlossenen Dogmatik, sondern einer Bewegung. Sie korrigiert sich, ändert Akzente, fügt neue Perspektiven hinzu. Positionen werden nicht museal ausgestellt, sondern in Bewegung gehalten. Ihre Sprache schwankt zwischen poetischen Verdichtungen und knappen, fast axiomatischen Sätzen. Nicht selten fügt sie ein „natürlich“ oder „selbstverständlich“ an, wo andere lange Begründungen vorlegen würden. Der Effekt: Man meint beim Lesen eine Stimme zu hören, nicht ein System zu studieren.

Privat ist sie witzig, spöttisch, gelegentlich gnadenlos. In Briefen aus der Nachkriegszeit mokiert sie sich über große, üppig finanzierte Konferenzapparate, bei denen sich alle auf Kosten anderer „durchfressen“. Sie beschreibt, wie sie mit Kollegen gemeinsam „Spesen absitzt“, und zeigt wenig Ehrfurcht vor prominenten Namen. Alltagsverstand und Humor sind für sie keine Gegensätze zur Theorie: Wenn sie die Sozialwissenschaften kritisiert, weil sie subtile Unterschiede in Floskeln nivellieren, illustriert sie das mit dem Bild vom Schuhabsatz, den man nicht deshalb „Hammer“ nennen könne, weil man damit Nägel in die Wand schlage.

Freundschaften spielen eine zentrale Rolle. Heinrich Blücher ist lebenslang ihr wichtigster Gesprächspartner. Mit Karl Jaspers verbindet sie eine gedankliche Nähe, die weit über akademische Fragen hinausgeht. Mary McCarthy liest ihre englischen Texte gegen und glättet gelegentlich Stilbrüche; Uwe Johnson gewinnt sie schnell für sich, während andere prominente Autoren bei ihr weniger Eindruck hinterlassen. In Erinnerungen wird beschrieben, wie sehr ihre Präsenz einen Raum prägen konnte: die Mischung aus Wärme, Ironie und intellektueller Wachheit.

Nach den Brüchen von 1933 lebt Arendt lange als Staatenlose, bevor sie US-Bürgerin wird. Rückwärts gewandte Nostalgie ist nicht ihre Haltung. Sie entwickelt eine Form von Gelassenheit, die sich nicht mit Indifferenz verwechselt: eine Fähigkeit, Verletzungen nicht zu verdrängen, aber auch nicht zur Fixierung werden zu lassen. Sarkasmus und Distanz verschaffen ihr Luft – nicht, um sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern um ihr umso klarer entgegenzutreten.

Am Ende bleibt ein eigenwilliger Befund: Arendt ist weder Philosophin in klassischer Zunftlogik noch Politologin im akademischen Sinn. Sie ist eine Denkerin des Politischen, die konsequent aus Erfahrungen heraus arbeitet – aus Exil, Verfolgung, Beobachtung von Revolutionen, aus Lektüren und Freundschaften. Dass sie „nirgendwo steht“, ist keine Schwäche, sondern Bedingung eines Denkens, das sich nicht in vorgegebene Raster fügen lässt – und gerade deshalb bis heute irritiert, inspiriert, provoziert.

Warum Arendt heute gelesen werden muss

Dass Hannah Arendt heute, in einer Gegenwart, die sich rasant polarisiert und zugleich mit einer eigentümlichen Müdigkeit auf ihre eigenen politischen Institutionen blickt, so zwingend gelesen werden muss, hat weniger mit historischem Interesse als mit einer erneuten, fast schmerzhaften Gegenwartsschärfe ihrer zentralen Fragen zu tun; denn Arendt beschreibt die Mechanismen politischer Selbstzerstörung nicht als abgeschlossene Kapitel des 20. Jahrhunderts, sondern als Versuchsanordnungen, die jederzeit wieder in Gang gesetzt werden können, wenn Gesellschaften sich verführen lassen – durch einfache Erzählungen, durch neue Mythen der Reinheit, durch das Bedürfnis, sich in homogene Kollektive zu flüchten.

Gerade in dem Augenblick, in dem Nationalismus wieder öffentlich salonfähig wird, in dem Antisemitismus nicht mehr nur an den Rändern brodelt, sondern mitten in westlichen Demokratien mit einer Unverfrorenheit artikuliert wird, die man für historisch überwunden hielt, und in dem sich ein Rassen- und Identitätswahn ausbreitet, der die Komplexität des Menschen zugunsten primitiver Freund-Feind-Schemata abstreift, gewinnt Arendts Denken eine brennende Aktualität. Sie warnt uns davor, dass Totalitarismus nicht zuerst in den Lagern beginnt, sondern im Verlust der Urteilskraft, in der Bereitschaft, sich von der Realität zu verabschieden und sich in geschlossene Weltbilder zurückzuziehen, die keine Korrektur mehr zulassen.

Arendt ist deshalb unverzichtbar, weil sie zeigt, wie aus politischer Gleichgültigkeit eine geistige Leerstelle wird, in die dann Ideologien eindringen, die mit derselben inneren Logik operieren wie jene Bewegungen, die sie in ihrem Totalitarismusbuch seziert hat: Sie operieren mit Feindbildern, erklären Komplexität zur Bedrohung und bieten „Eindeutigkeit“ als Ersatz für Freiheit. Sie erinnern daran, dass die größten Gefahren nicht durch wilde Fanatiker, sondern durch jene entstehen, die — gedankenlos, pflichtbewusst, „normal“ — bereit sind, ihre Verantwortung an eine Bewegung, ein System oder eine abstrakte Idee abzugeben.

Arendt zwingt uns zur Einsicht, dass Demokratie nicht der Zustand ist, in dem wir leben, sondern die Praxis, zu der wir uns immer wieder entschließen müssen; dass politische Freiheit kein Naturzustand ist, sondern das Ergebnis alltäglicher Handlungen, Worte, Urteile; und dass die Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer zu versetzen — ein Kern ihrer politischen Theorie — die vielleicht wichtigste kulturelle Ressource unserer Zeit ist. Wer heute begreifen will, weshalb Demokratien brüchig werden, wie Wahrheit manipuliert werden kann, warum Ideologien plötzlich wieder Attraktivität gewinnen und weshalb sich Menschen in vereinfachende Kollektive zurückziehen, kommt an Arendts Denken nicht vorbei. Sie lehrt uns: Freiheit schrumpft zuerst im Denken, nicht im Gesetz. Und genau deshalb ist sie eine der wichtigsten Stimmen unserer Gegenwart.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".