Ulrich Schödlbauer: Macht ohne Souverän

Deutscher Bundestag Foto: Stefan Groß

Ulrich Schödlbauer: Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, Heidelberg (Manutius), 381 Seiten,

»Macht ohne Souverän«? Das macht neugierig. Ulrich Schödlbauer auf Stephane Hessels Spuren? 2010 »Empört euch!« und 2019 »Macht ohne Souverän«?

Selbstverständlich bedarf Schödlbauer keines Hessel, um die Dilemmata ritualisiert scheinender Demokratien zu beschreiben. Hessel erfand das Rad nicht neu und wähnte wie weiland Rosa Luxemburg nur seine politische Hemisphäre als Adressatenkreis des Aufrufs zum Aufstehen. Auf die Idee, dass ein Aufruf zum Empören von allen des Lesens fähigen Mitgliedern der Grande Nation aufgenommen werden würde, darauf kam Stephane Hessel wohl nicht. Linke Beschränktheit. Hessel rief – und alle kamen? Nein. Macrons Bewegung En Marche kam und die Sozialisten sind atomisiert. Auf Hessel hörten die anderen, inzwischen mit den Gelbwesten sogar ganz andere. Wer oder was wird nun atomisiert?
Hessels linker Schuss, ging er nach rechts los? Oder ist es ganz anders? Unmut kann Antrieb sein, ist keine Lösung. Fragen über Fragen.

Schödlbauer ist wie Hessel ein kritischer Beobachter, ein Sezierer des großen Rituals ›Demokratie‹ genannt. Wo Hessel Erkenntnis nur für sich und seine Denkrichtung annimmt, ist Schödlbauer frei vom Wunsch für eine bestimmte Schublade. Ihm würde es schon genügen, würde die Teilhabe politisch diskriminierungsfrei funktionieren und die Institutionen des Gemeinwesens ihre Aufgaben nach dem Grundgesetz vorleben. Die Res Publica und ihr Citoyen.

»Wie zerklüftet die Aufzeichnungen dieses Buches sind, mögen diejenigen beurteilen, die sich der Mühe unterziehen, den Gedankengängen des Autors zu folgen. Im Großen und Ganzen versuchen sie etwas zu fixieren, was mandie Bahn des Entsetzens nennen könnte.«(S.5).
Schödlbauer seziert schon viele Jahre unseren Politikbetrieb, das langsame aber stetige Entfernen – oder ist es ein Verschieben? – der politischen Verantwortung weg vom Souverän und hin zu …? Ja, wohin eigentlich? Schödlbauer findet: Zur Macht ohne Souverän!

Im westlichen Demokratieverständnis ist der Souverän immer das (Wahl-) Volk. Von ihm werden die politischen Mandate für die Parlamente auf Zeit verliehen. Wie mächtig aber ist ein solcher Souverän, der eine Politik miterleben und -erleiden muss, von der er in Wahlkämpfen nichts vernahm, zu der er sich keine Meinung bilden konnte und für die er infolgedessen kein Mandat vergab? Schödlbauer macht das in seiner Einleitung am »Paukenschlag« der unkontrollierten Masseneinwanderung ab 2015 fest. Ein Paukenschlag, der EU-Europa auf den kontinentalen Umriss zurückwarf, den Grenzsicherungsstreit, den Aufnahmestreit, den Verteilungsstreit, den Neusprech, die doppelte Wahrheit, die gelenkte Liberalität, die Ausgrenzung Andersdenkender zu Dauerthemen machte. Deutschland wurde durch einen Bundespräsidenten in ein Helles und ein Dunkles Land geteilt. Zwischen beiden wird nicht kommuniziert. Macht und Souverän gehen getrennte Wege. Die Entfremdung hält an.

»Verändert eine gewählte Regierung die Grundlagen der Macht, ohne vom Wähler ein Mandat dafür erhalten zu haben, dann ist es an der Zeit, sie zu entfernen.« (S.6). Schödlbauer verweist dabei auf die USA und deren scharfes Schwert der Amtsentfernung per Senatsbeschluss und auf das deutsche konstruktive Misstrauensvotum. Beide Verfahren setzen die Existenz selbstbewusst agierender Parlamentarier voraus. »Der Fall, die schleichende, von den Abgeordneten selbst getragene Entmachtung des Parlaments könne das zu bekämpfende Übel sein, ist von den Verfassungen nicht vorgesehen.« (S.6). Der Autor dürfte hier den Totalausfall von Legislative, Judikative und sogenannter ›Vierter Gewalt‹ vom September 2015 vor Augen haben – eine Situation, die jegliches Grundvertrauen in den eigenen Staat zu erodieren vermochte und auf einer »Bahn des Entsetzens« abgleiten lässt. Wer oder was setzt womit einen Stopp? Denn: »Der unter Druck geratene liberale Staat ist es wert, verteidigt zu werden … gegen die Zauberlehrlinge und Menschenmeister einer Weltgesellschaft, deren postulierte Erfordernisse sie besser zu kennen scheinen als die artikulierten Bedürfnisse von Menschen, in deren Namen sie handeln und für die sie in vollem Ernst die Verantwortung tragen. Die Souveränität des Volkes wurde zu schwer erkauft, um sie eilends einem Weltphantasma zu opfern. Das schließt Verantwortung gegen die wirkliche Weltgemeinschaft nicht aus.« (S.6/7).

Ulrich Schödlbauer teilt seine »zerklüfteten Ansichten« (Zitat U.S.) in sieben Kapitel. Für den Leser hätten es aus der Stoffesfülle ruhig mehr sein können und damit mehr Kapitelüberschriften. Der Übersicht wegen.

1 Demos perdu – 2 Info Wars – 3 Sehen lernen – 4 Flowers to the people – 5 Sprechende Körper – 6 Eukalypse – 7 Teilhabe. Das ist Schödlbauers Reigen um den Souverän, der seine Macht zu verlieren scheint.

In »Demos perdu / Verantwortlich? Wem?« steigt der Autor sofort ins Kanzleramt ein. »Seit Jahren geht eine kleine, aber hartnäckige Minderheit in Deutschland der Frage nach, wie diese Frau Kanzlerin werden konnte und ihre Position so lange zu halten vermochte.« (S. 12) Selbstverständlich kennt Schödlbauer das Wahlrecht und weiß, wie ein Bundeskanzler vom Parlament gewählt wird. Darum geht es ihm nicht. Es geht um die Prozesse, die dazu führen, dass jemand, der offensichtlich keine Linie hat und immer nur in der Situation nach Opportunität entscheidet, inmitten der vierten Kanzlerschaft feststecken kann. Diese Frau hat mit wenigen Entscheidungen Europa sich selbst entfremdet, es grundlegend und dauerhaft zum Ungewissen hin, verändert. Und sie ist immer noch Kanzlerin.
»War ich das? Nein, es ist mir nur so passiert. ›Ups‹ habe ich gesagt. Oder richtiger ›Oooops!‹« (S.12). Die Frau könnte so funktionieren. Damit wäre aber der Machterhalt noch nicht erklärt. Wiederholende Wortmystik gehört dazu: »Auseinandersetzen … sich nicht festnageln lassen … so bin ich, also bleibe ich…« (S.13/17).

»›Das Einwanderungsland Deutschland heißt euch willkommen‹ – so müsste die Formel von Rechts wegen lauten, wäre sie sauber gedacht, und so darf sie nicht heißen, denn alles daran klänge falsch.« (S.52). … »In den ›klassisch‹ genannten Einwanderungsländern, in denen im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte ›bunte‹ Bevölkerungen entstanden, wurden die Rechte der autochthonen Bevölkerung mit Füßen getreten. Das zu wissen gehört unter die Bildungsgüter, die den Begüterten den beruhigenden Eindruck vermitteln, ›irgendwie weiter‹ zu sein. Niemand weiß, wie die Besiedlung jener Länder verlaufen wäre, hätten die Autochthonen das Heft in der Hand behalten und die Regeln der Aufnahme und des Zusammenlebens bestimmt.« (S.53). Schödlbauer tut weh. Und es tut gut. Gelernt wird in der Regel nur unter Schmerzen. Jedenfalls, was das Verhalten von und in Gruppen angeht.

»Was ist das Volk? Wer ist das Volk? Was zeichnet dieses Volk (neben anderen) aus?« (S.58). … »Wer immer zu ›bestimmen‹ unternimmt, wie das Volks sich selbst sieht, darf mit Widerstand rechnen. Jeder ist ›Volk‹, aber keiner das ›Volk‹«. (S.59). Schödlbauer zeichnet die Unschärfe des ›Volkes‹ recht genau. 1989 in der DDR, da gab es eine solch große Mehrheit gegen die Diktatur, dass mit Recht ›Wir sind das Volk!‹ skandiert werden konnte: Fast alle gegen die da oben. In einer Demokratie zerbröselt ›Das Volk‹ in seine oft sehr unterschiedlichen ›Bestandteile‹. ›Dagegen sein‹ können viele. Das ›Dafür‹ oder ›Wofür‹ ist viel weniger einheitlich als es die Wortführer des ›Volkes‹ glauben oder fordern. 1989 verlor sich die Idee des mit einer Stimme sprechenden Volkes im Moment der Freiheit. Zwangsläufig und folgerichtig. Wer was wie will, soll es sagen und sich einbringen. Der folgende Diskussionsprozess wird zeigen, wo die Reise mehrheitlich unter Achtung der Minderheit hingehen wird. Das ist Demokratie. Eine Demokratie, in der der Souverän Macht hat.

»So gesehen, kann es nichts Fataleres geben als die Ermattung der nationalen Parlamente unter dem Zwang von EU-Beschlüssen, die ›nach unten‹ zum Zweck des Abnickens durchgereicht werden. Die Aushöhlung der Volkssouveränität durch Entwertung ihres zentralen Organs wird durch das Europäische Parlament nur gedeckt, nicht abgegolten, … so fühlt sich das Wahlvolk früher oder später um seine Entscheidungsmacht geprellt … die europäischen Europäer müssen aufpassen, dass sie nicht über kurz oder lang als die wahren Anti-Europäer dastehen.« (S.60) – eine Warnung, die im Moment in Brüssel nicht gehört wird. Die Europawahlen im Mai des Jahres werden es nachdrücklich zeigen. So verstehe ich Schödlbauer.

Info Wars: »Wie wenig dieses Europa sich um seine Bürger und seine Prinzipien schert, wenn es sich erst auf dem ideologischen Kriegspfad befindet, ließ sich im Winter 2016/17 bestaunen, als im Kleingedruckten der Geschäftsordnung offenbar gewisse Neuerungen verborgen bleiben sollten, mit denen sich das Europäische Parlament eine ganz spezielle Waffe im Kampf gegen die Mächte der Finsternis in die Hand gedrückt hat. Gemäß Regel 165 verfügt der Parlamentspräsident seither über das Recht, die öffentliche Übertragung von Reden an Stellen, an denen der Redner in Sprache und Verhalten beleidigende, rassistische oder fremdenfeindliche Stereotype bedient, unverzüglich zu unterbinden und die Aufzeichnungen zu löschen.« (S.84). Das Europaparlament hat sich im Punkt Meinungs- und Redefreiheit seines antiken Erbes entledigt. Wenn ein Sitzungsleiter, nichts anderes ist ein Parlamentspräsident, aufgrund eigener Interpretationsvollkommenheit festlegen kann, was sich in freier Rede nicht gehört und diese Redestücke der Vergessenheit anheimfallen lassen kann, dann ist das nicht nur Zensur, sondern es ist Teil eines Informationskrieges, der die Meinungsfreiheit grundsätzlich verletzt. Die in Kritik stehenden Äußerungen können von der Öffentlichkeit nicht bewertet und gegebenenfalls zurückgewiesen werden, weil diese Sachverhalte faktisch nie existent waren. Es fällt schwer, das Europaparlament als eine Krönung des Parlamentarismus zu sehen.

Sehen Lernen: »Keinem Kommentator scheint bislang aufgefallen zu sein, wie sehr das Dauer-Trommelfeuer gegen Trump dem einstigen Trommelfeuer gegen Willy Brandts Ostpolitik gleicht.« (S.147). Die Masse der Brüder und Schwestern hatte zweifaches Glück der westlichen Geburt und Sozialisation. Einmal in freiheitlicher und materieller Hinsicht und zum zweiten im Fehlen von totaler Repression.
Schödlbauer kommt auf die Kehrseite des zweiten Glücksumstandes zu sprechen. Wer nicht unter Dauerrepression dauerberieselt wurde, konnte keine Hochsensibel-Antennen bezüglich Dauerberieselung und stafettenartiger Kampagnen entwickeln. Was die vierte Gewalt der Bundesrepublik Deutschland 2.0 mit Donald Trump anstellt, ist dermaßen widerlich, dass der Mann schon wieder fast sympathisch wird. Jedenfalls im repressionsgeschädigten Osten der Republik und Europas.

Flowers to the people: »Nein, diese EU ist nicht Europa. … Europa, der Kontinent der Verwandlungen, hat seltsame Metamorphosen durchlaufen …« (S.210/211). Schödlbauer schöpft aus dem Europa der Unterschiede, der Gleich- und Ungleichzeitigkeiten und des immer wiederkehrenden Annäherns und Abstoßens. Aus den Prinzipien von Freiwilligkeit und Akzeptanz heraus geschehend, ist dem wenig entgegenzusetzen.

Sprechende Körper: »In Krisensituationen gewinnt, wer anzuschärfen versteht.« … »›Es gibt ein helles Deutschland, … gegenüber dem Dunkeldeutschland..‹« …»Ein demokratisch gewählter Präsident kannte… nur noch Deutsche … um die ›anständigen Deutschen‹, koste es, was es wolle, auf Linie zu bringen.« (S.262). Joachim Gauck hatte die Chance, mit ostdeutscher Herkunft und schier fleischgewordenem Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie ein bedeutender Bundespräsident zu werden. Mit seiner erzieherisch anmutenden Teilung der Deutschen in Gut und Böse betrat er Pfade, die seine östlichen Landsleute 1989 verlassen hatten. Damals gehörte dazu, wer für Frieden und Sozialismus war und nach Gauck gehört heute dazu, wer die Zuwanderungspolitik bejubelt. Kritiker sind im Dunkeln, die sollte man nicht sehen. Schade.

Eukalypse: »Es wundert den Laien, wie prompt wissenschaftliche Apokalypsen vom Stapel gelassen werden, steht erst einmal die entsprechende Rechnerleistung zur Verfügung oder öffnet ein neu zu förderndes Forschungsinstitut seine Pforten.« … »Vordergründig geht es um Einbindung – darum, den Einzelnen nicht vom Haken zu lassen, gezielt individuelle Seelenpflege und politisches Kalkül miteinander zu vernetzen.« … »Es muss ja nicht immer die Kirche sein.« (S.315/316). Die Menschheit wird als Herde betrachtet. Herden brauchen ihre Hirten, der Hirten wegen. Wer da mitmacht, ist selbst schuld. Das schreibt der Autor nicht, doch meint er es sicher so.

Teilhabe: »Es sind keineswegs Ethnien oder Religionsgemeinschaften, es sind reife Gesellschaften, die hier, unter dem selbstgefälligem Tremolo von Euro-Barden nach Art des unnachahmlichen Martin Schulz einem ungewissen Schicksal entgegen schlingern « … »Zur liberalen Mehrheitsgesellschaft gehört jeder, der ihre Überzeugungen, Maßstäbe und Lebensformen teilt« … »Europas liberale Gesellschaften sind nicht durch Einwanderung entstanden, sondern in langsamen, immer wieder von Gewalt überschatteten historischen Entwicklungsreihen,« … »Wie jeder weiß, bringt Staatsbürgerschaft gewisse Rechte und Pflichten mit sich,« … »es geht um Deutschlands Zukunft, leicht vernebelt um ›unser aller Zukunft‹, die nicht durch kurzsichtige und moralisch verwerfliche Fremdenfeindschaft aufs Spiel gesetzt werden darf. Dass sich die Verhältnisse seither änderten, lag und liegt an der überaus heftigen… Reaktion eines Teils der Bürgerschaft und den parallel dazu eingetretenen Verschiebungen im Parteiengefüge.« (s: 347-353).

Ulrich Schödlbauers »Macht ohne Souverän« ist ein fulminanter Abriss des augenscheinlichen Niedergangs der bundesrepublikanischen Demokratie in Merkelscher Zeit. Die Jahre 2005 bis heute sind Jahre zunehmender staatlicher Konfusion, zunehmenden Desinteresses seitens Legislative und Exekutive am Leben in den Niederungen des Bevölkerungsalltags, zunehmenden Primats der Handelnden oder auch nicht Handelnden über die Interessen des Souveräns. Der Souverän sollte sich seiner Macht bewusst werden. Die »parallel dazu eingetretenen Verschiebungen im Parteiengefüge« (U.S. S. 353) stellen unter Beweis: Solange das scharfe Schwert von freien Wahlen nicht eingeschränkt wird, genauso lange muss die Macht darauf achten, den Souverän nicht ganz aus den Augen zu verlieren.

»Macht ohne Souverän« – eine Leseempfehlung.

Weissgerber – Freiheit

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