„Par Condicio“ – Gleichheit auf Sendung: Wie Italien seine Demokratie misst – und warum Deutschland das lernen sollte

Gedankenaustausch, Aussprache, Debatte, Quelle: geralt, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Es gibt Demokratien, die sich auf ihre Institutionen verlassen, und solche, die sie immer wieder prüfen. Italien gehört zur zweiten Sorte. Vielleicht, weil dieses Land die Brüchigkeit politischer Ordnungen am eigenen Leib erfahren hat; vielleicht, weil es ein Gespür dafür besitzt, dass Freiheit ohne Maß nicht Größe, sondern Beliebigkeit bedeutet. In Rom hat man früher als in Berlin verstanden, dass jede Demokratie, will sie sich nicht selbst erschöpfen, einen Rahmen braucht – ein Maß, das sie zügelt, ohne sie zu fesseln.

So entstand eine Idee, unscheinbar in ihrer Formulierung, aber weitreichend in ihrer Wirkung: die „Par Condicio“, die „Gleichheit der Bedingungen“. Sie ist kein bürokratisches Relikt, sondern ein moralischer Imperativ. Sie sagt: Die Stimme der Demokratie muss gehört werden können, unabhängig von Besitz, Lautstärke oder Sendefrequenz.

Öffentlichkeit als Gerechtigkeitsfrage

Die Wurzeln dieser Idee reichen in das Jahr 1956 zurück, als das italienische Parlament das Gesetz Nr. 212 verabschiedete, das den Umgang mit politischer Werbung regelte. Es war ein unscheinbarer juristischer Text, der festlegte, wie Plakate anzubringen und Druckschriften zu verteilen seien. Und doch enthielt er den Keim eines Gedankens, der später das Wesen der Demokratie berühren sollte: Öffentlichkeit ist kein Markt, auf dem der Lauteste siegt. Sie ist ein Raum der Gerechtigkeit, in dem auch die Leisen gehört werden müssen.

Acht Jahre später, 1964, bestätigte das Verfassungsgericht in einem Urteil, dass diese Regelung im Geist der italienischen Verfassung stehe. Es erklärte, Gleichheit sei keine Einschränkung der Freiheit, sondern deren Voraussetzung. Damit war ein demokratisches Grundprinzip formuliert, das bis heute Bestand hat: Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass der Stärkere dominieren darf, sondern dass alle die Chance erhalten müssen, ihre Stimme zu erheben.

Als das Fernsehen zur Bühne der Republik wurde

In den siebziger Jahren hatte sich die politische Bühne verändert. Die junge Republik war laut, widersprüchlich, vital – und sie hatte ein neues Machtinstrument entdeckt: das Fernsehen. Die Bilder der RAI erreichten Millionen Haushalte, und wer dort sprach, war real. Wer dort nicht vorkam, war politisch kaum existent.

Italien reagierte mit einem Gesetz, das bis heute als Ausdruck republikanischer Klugheit gilt. Mit dem Rundfunkgesetz Nr. 103 vom 14. April 1975 wurde der öffentliche Rundfunk unter parlamentarische Aufsicht gestellt. Die RAI sollte fortan allen Stimmen Raum geben – nicht nur den regierenden, sondern auch den oppositionellen. Formate wie Tribuna Politica oder Tribuna Elettorale gewährleisteten, dass die Vielfalt der politischen Kräfte im Fernsehen sichtbar blieb.

Das war mehr als Medienpolitik; es war eine Form der demokratischen Selbstvergewisserung. Denn das Fernsehen wurde zur Agora, zur modernen Volksversammlung. Wer dort auftrat, sprach nicht nur zu Wählerinnen und Wählern, sondern in das Gewissen einer Nation.

Die Macht der Bilder und der Aufstieg Berlusconis

In den achtziger und neunziger Jahren trat eine neue Dimension hinzu. Das Bild wurde politischer als das Wort, und mit dem Bild zog die Suggestion in die Politik ein. Es war die Zeit, in der ein Unternehmer aus Mailand die Macht des Mediums so vollständig begriff, dass er sie selbst zur Grundlage seines politischen Aufstiegs machte. Silvio Berlusconi verband wirtschaftliche und politische Macht zu einer Allianz, wie sie in Europa selten zuvor gesehen worden war.

Plötzlich gehörten die Kanäle, über die das Land sprach, dem Mann, der das Land regieren wollte. Damit wurde offenkundig, was die Demokratie gefährden kann: Wenn Meinungsfreiheit an Besitz gebunden ist, wird sie zur Illusion. Italien sah sich gezwungen, zu handeln – nicht mit moralischen Appellen, sondern mit Gesetzgebung.

Das Gesetz von 2000 – Fairness als Verfassungsauftrag

Im Jahr 2000 verabschiedete das italienische Parlament das Gesetz Nr. 28. Es kodifizierte, was zuvor nur als Prinzip gegolten hatte: den Anspruch, allen politischen Kräften den gleichen Zugang zu den Medien zu gewähren. Dieses Gesetz, schlicht „Legge sulla Par Condicio“ genannt, gilt bis heute als Meilenstein.

Es definiert, was politische Kommunikation ist – jede Sendung, in der politische Meinungen oder Bewertungen geäußert werden. Es verpflichtet alle Sender, öffentlich wie privat, zur Unparteilichkeit. Und es erlaubt Parteien und Bewegungen, kurze, selbstverwaltete Botschaften von ein bis drei Minuten zu produzieren, die in dafür vorgesehenen Sendeplätzen ausgestrahlt werden.

Besonders bemerkenswert ist die Regelung für die heißen Tage des Wahlkampfs. In den letzten fünfzehn Tagen vor einer Wahl dürfen keine Meinungsumfragen mehr veröffentlicht werden. Politikerinnen und Politiker dürfen nicht in Unterhaltungssendungen auftreten, um eine Vermischung von Politik und Show zu verhindern. Die „Par Condicio“ trennt, was in modernen Demokratien oft verwechselt wird: Information und Inszenierung, Argument und Spektakel.

Damit stellte sich Italien bewusst gegen eine Entwicklung, die anderswo längst selbstverständlich war. Während in den Vereinigten Staaten politische Kampagnen von Werbebudgets abhängen und Fernsehsendezeit zur Handelsware geworden ist, erklärte Italien die Öffentlichkeit zur res publica, zur Sache aller.

Kontrolle als demokratisches Versprechen

Damit das Gesetz nicht nur auf dem Papier steht, wurde die Medienaufsichtsbehörde AGCOM geschaffen. Sie überwacht die Einhaltung der „Par Condicio“ und veröffentlicht regelmäßig Berichte über Redezeiten, Themengewichtungen und die Präsenz der Parteien in den großen Nachrichtensendungen. Unterstützt wird sie vom Osservatorio di Pavia, einem Forschungsinstitut, das Redezeiten minutiös auswertet.

Diese Praxis schafft eine neue Form von Transparenz. Woche für Woche wird sichtbar, wer wie oft spricht, wer dominiert, wer verschwindet. Demokratie wird so nicht nur gewählt, sondern vermessen. Diese Form der Kontrolle ist kein Angriff auf die Pressefreiheit; sie ist deren Bedingung. Denn Vertrauen entsteht nicht aus Behauptung, sondern aus Nachprüfbarkeit.

Die digitale Herausforderung

Zwei Jahrzehnte nach ihrer Einführung steht die „Par Condicio“ vor neuen Fragen. Die politische Kommunikation findet längst nicht mehr nur im Fernsehen statt. Sie hat sich in die sozialen Netzwerke verlagert, in Räume, die sich jeder nationalen Ordnung entziehen. Algorithmen bestimmen, welche Botschaften sichtbar werden, und damit, wer gehört wird.

In dieser neuen Welt wirkt das Gesetz von 2000 altmodisch – aber seine Grundidee ist zeitlos. Der Jurist Ottavio Grandinetti hat es treffend formuliert: Die „Par Condicio“ sei ein Relikt der analogen Ära, das uns daran erinnere, dass Gerechtigkeit in der Kommunikation keine technische, sondern eine moralische Kategorie sei. Wenn Öffentlichkeit zum Produkt von Berechnungen wird, braucht sie umso dringlicher eine Ethik der Gleichheit.

Der europäische Gedanke

Auch im europäischen Kontext steht Italien mit seiner Regelung nicht allein. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Les Verts / Europäisches Parlament von 1986 begründete, dass öffentliche Mittel nicht ausschließlich etablierten Parteien zustehen dürfen. Sie müssen auch neuen politischen Kräften offenstehen, sonst verliert der Wettbewerb seine Offenheit. Die „Par Condicio“ ist die mediale Übersetzung dieses Gedankens. Sie macht Gleichheit sichtbar – nicht als rhetorisches Ideal, sondern als alltägliche Praxis.

Der Bundestag und die Lücke der Transparenz

Von Rom aus betrachtet wirkt die deutsche Demokratie bewundernswert stabil, aber merkwürdig still in der Frage der medialen Gerechtigkeit. Zwar sichern ARD, ZDF und Deutschlandradio in ihren Statuten eine ausgewogene Berichterstattung zu, doch eine regelmäßige, öffentlich zugängliche Auswertung darüber, welche politischen Kräfte tatsächlich wie oft in Erscheinung treten, existiert nicht.

In Deutschland vertraut man auf journalistische Sorgfalt und redaktionelle Ausgewogenheit – beides Werte, die zu Recht hochgehalten werden. Doch Vertrauen allein genügt nicht in Zeiten, in denen der Verdacht der Voreingenommenheit schnell wächst und digitale Echokammern Misstrauen verstärken. Transparenz wäre kein Misstrauensvotum gegen die Medien, sondern eine Stärkung ihrer Glaubwürdigkeit.

Ein System, das die Redezeiten, Auftritte und Präsenzquoten der politischen Akteure regelmäßig veröffentlicht, könnte ein Bollwerk gegen populistische Behauptungen sein. Es würde zeigen, dass Gleichgewicht nicht nur postuliert, sondern belegt wird. Der Bundestag könnte, etwa durch eine unabhängige Stelle oder eine wissenschaftliche Begleitkommission, die öffentliche Sichtbarkeit politischer Kräfte erfassen lassen – nicht um sie zu steuern, sondern um sie sichtbar zu machen.

Öffentlichkeit als Gemeingut

Die „Par Condicio“ lehrt: Demokratie ist nicht nur das Recht zu wählen, sondern das Recht, gehört zu werden. Sichtbarkeit ist in der Mediendemokratie das, was früher das Stimmrecht war – die Voraussetzung der Teilhabe. Wenn Redezeit käuflich wird, wenn Aufmerksamkeit zum Privileg der Mächtigen verkommt, verliert Demokratie ihren moralischen Mittelpunkt.

Italien hat aus dieser Einsicht eine juristische Ordnung gemacht. Deutschland könnte daraus eine Kultur machen – eine Kultur der Transparenz, die den öffentlichen Diskurs als Gemeingut begreift. Sie würde nicht nur den Medien nützen, sondern auch der Politik. Denn nur eine Öffentlichkeit, die sich selbst kontrolliert, kann Vertrauen erzeugen.

Die leise Moral der Begrenzung

Vielleicht liegt die eigentliche Weisheit der „Par Condicio“ darin, dass sie Demokratie als ein System der freiwilligen Selbstbeschränkung begreift. Freiheit, so lehrt sie, ist nicht grenzenloser Lärm, sondern die Kunst, Maß zu halten. Die Italiener haben verstanden, dass Gleichheit kein Gegensatz, sondern die Bedingung der Freiheit ist.

Und vielleicht braucht auch Deutschland diese leise Moral der Parität – nicht als Vorschrift, sondern als Bewusstsein. Die Bundestagsdebatten, die Talkshows, die Nachrichten, sie alle bilden das Gedächtnis der Republik. Wer darin vorkommt, schreibt Geschichte. Wer fehlt, verschwindet. Deshalb ist Transparenz kein Luxus, sondern Notwendigkeit.

Italien hat gezeigt, wie man die Demokratie misst, ohne sie zu verraten. Deutschland könnte zeigen, wie man sie schützt, indem man sie sichtbar macht. Denn eine Republik, die ihre Öffentlichkeit nicht nur nutzt, sondern beobachtet, ist eine Republik, die sich ihrer selbst bewusst bleibt.

„Par Condicio“ – Gleichheit als Vernunftform und Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“

Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“ aus „Nathan der Weise“ kann als frühes, literarisches Beispiel für das Prinzip der „Par Condicio“ gelesen werden – in einem überzeitlichen, moralisch-anthropologischen Sinn. Was das italienische Medienrecht zwei Jahrhunderte später institutionell fixierte, hatte Lessing philosophisch bereits vorweggenommen: die Einsicht, dass Gleichheit nicht in der Aufhebung der Unterschiede liegt, sondern in der Anerkennung ihrer gleichen Würde.

In der „Ringparabel“ geht es nicht um den Beweis einer überlegenen Wahrheit, sondern um die gerechte Verteilung von Wahrheit in einer Welt, in der sie sich dem Besitz entzieht. Der Vater, der den einen Ring vervielfacht, schafft keine Verwirrung, sondern eine moralische Prüfung: Er zwingt die Söhne – und mit ihnen die Menschheit – zu zeigen, was sie glauben, nicht zu behaupten, was sie wissen. Wahrheit wird so nicht monopolisiert, sondern praktiziert; sie ist eine Tugend, kein Titel. Der Wert des Glaubens offenbart sich im Handeln, nicht in der Zugehörigkeit.

Genau diese Idee lebt in der „Par Condicio“ fort. Was Lessing als Gleichnis entwarf, verwandelt sich in Rom zur rechtlichen Architektur der Öffentlichkeit. Die Gleichheit der Stimmen wird zur Form der Wahrheitssuche im demokratischen Diskurs. So wie Lessing allen Religionen dasselbe Maß an Aufrichtigkeit zutraut, gewährt das italienische Rundfunkrecht allen politischen Kräften dasselbe Maß an Sichtbarkeit. Der Richter in der „Ringparabel“ spricht, was das Verfassungsgericht später juristisch formulierte: Gleichheit ist keine Einschränkung der Freiheit, sondern ihre Bedingung.

In „Nathan der Weise“, dieser großen Parabel der Aufklärung, wird der Mensch durch Vernunft zur Brüderlichkeit erzogen. In der modernen Demokratie geschieht das durch Öffentlichkeit. Die „Par Condicio“ ist, juristisch betrachtet, ein Paragraph – geistig aber ein Bekenntnis: zur Gerechtigkeit der Rede, zur moralischen Balance der Stimmen. Sie ist der Versuch, das, was Lessing mit dem Gleichnis vom Ring moralisch entwarf, technisch-juristisch zu verwirklichen.

Denn wie sich die drei Ringe in ihrer Echtheit nicht unterscheiden lassen, so sind auch die Meinungen einer freien Gesellschaft zunächst gleich berechtigt. Erst das Verhalten der Träger, ihr Umgang mit Wahrheit und Verantwortung, entscheidet über ihren Wert. Auch in den Medien zeigt sich Wahrheit nicht im Monopol, sondern im Dialog. Eine Demokratie, die das Maß des Sprechens misst, handelt im Geist Lessings: Sie vertraut der Vernunft als Regulativ – nicht der Macht als Besitz.

Darum ist die „Par Condicio“ mehr als ein italienisches Gesetz. Sie ist ein moralisches Symbol, ein säkulares Evangelium der Gleichheit. Sie lehrt, dass Freiheit erst dort wahr wird, wo alle gehört werden können, und dass Wahrheit nicht im Lautesten, sondern im Gleichgewicht der Stimmen wohnt. Vielleicht ist das die schönste Pointe Europas: dass seine älteste Aufklärungsidee – Lessings Gleichmaß der Religionen – in Rom, der Stadt der Gegensätze, zu einem Rundfunkgesetz wurde. Und vielleicht liegt darin die leise Größe des Kontinents: Er lernt aus der Vernunft seiner Dichter, was seine Demokratien zu schützen haben – die „Par Condicio“ als moderne „Ringparabel“ der Öffentlichkeit.

Dank an Conrad Herrmann, der mich auf diese Idee brachte.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2259 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".