Søren Kierkegaard ist der Dichter unter den Philosophen, der Theologe unter den Psychologen, der Abgründige unter den Gläubigen. Wer ihn liest, hört kein System, sondern ein Beben. Es ist, als säße man in einem dänischen Winterzimmer, das Feuer knistert, draußen tobt ein Sturm, und drinnen schreibt einer gegen Gott – und für ihn. Gegen die Menschheit – und aus tiefstem Mitgefühl für sie. Gegen das Ich – und für seine Rettung.
Kierkegaard ist ein Denker der innersten Zustände. Seine Philosophie ist keine Betrachtung der Welt, sondern ein Seelenvorgang. Und wie Nietzsche nach ihm, denkt auch er gegen die Trägheit des Geistes. Aber wo Nietzsche kämpft, hofft Kierkegaard. Wo Nietzsche vernichtet, glaubt Kierkegaard – mit blutigem Herzen.
Angst – die Geburt des Selbst im Schatten der Freiheit
Im Begriff der Angst (1844) nähert sich Kierkegaard einem Affekt, den die Philosophie bis dahin kaum ernst genommen hatte. Angst – nicht im Sinne des bloßen Fürchtens, sondern als metaphysischer Schwebezustand. Angst ist für Kierkegaard „der Schwindel der Freiheit“. Das Ich steht vor Möglichkeiten – vor unendlichen Möglichkeiten. Es schaut in den Abgrund seiner Freiheit – und zittert. Denn die Angst ist die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit zur Möglichkeit.
Diese Formulierung ist der Schlüssel. Kierkegaards Angst ist keine Pathologie, sondern eine ontologische Erfahrung. Sie zeigt: Der Mensch ist frei – und gerade deshalb zittert er. Der Mensch kann – aber er muss nicht. Er steht in der Schwebe zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Wollen und Verweigern.
Und so wird die Angst zur Geburtshilfe des Selbst: Nur wer Angst empfindet, ist ein Ich. Nur wer sich fürchtet, steht am Tor der Freiheit. Kierkegaards Angst ist damit ein heiliger Zustand – gefährlich, aber notwendig. Ohne sie bleibt der Mensch bloßes Ding, Hülle, Reflex.
Das Selbst: Wollen – und Nicht-Wollen – man selbst zu sein
Die ersten Passagen von Die Krankheit zum Tode (1849) sind von einer Präzision, wie sie in der Philosophie selten geworden ist. Kierkegaard beschreibt das Selbst nicht als Substanz, sondern als Verhältnis – ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Eine dialektische Formel: „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“
Das klingt abstrakt – ist aber revolutionär. Das Selbst ist nicht einfach „da“. Es ist ein Prozess. Ein innerer Kampf. Ein Werden, kein Sein. Es muss sich zu sich selbst verhalten – es muss sich wollen. Und hier liegt die Tragik: Der Mensch kann sich selbst nicht entkommen, aber er kann sich selbst ablehnen.
Und genau das ist die Verzweiflung: „die Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen, und die Verzweiflung, man selbst sein zu wollen“.
Zwei Formen, ein Abgrund. Die eine ist die Kapitulation: Man entflieht sich selbst, flieht in das Allgemeine, in das Anonyme, in das „Man“. Die andere ist der Stolz: Man versucht, sich selbst zu errichten wie ein Bauwerk, ohne Gott, ohne Gnade – und zerbricht.
Zwischen diesen Polen – Selbstverleugnung und Selbstvergottung – kreist Kierkegaards Diagnose. Seine These: Das Selbst ist kein autonomes Projekt, sondern eine göttliche Aufgabe. Der Mensch kann sich selbst nur „werden“, indem er sich transzendent gründet – nicht in der Welt, sondern im Absoluten. Nicht im Eigenen, sondern im Anderen.
Die Krankheit zum Tode – und das Heil im Glauben
Verzweiflung ist bei Kierkegaard keine Emotion. Sie ist das „Gegenteil des Lebens“. Eine Krankheit, die nicht tötet – aber tödlicher ist als der Tod. Denn sie betrifft das innerste Zentrum des Menschen: sein Selbstverhältnis. Und weil sie so still ist, so tief, so unsichtbar – ist sie die gefährlichste aller Krankheiten.
Der moderne Mensch, so Kierkegaard, weiß oft nicht, dass er verzweifelt ist. Er lebt gut, funktioniert, erfüllt Erwartungen – und ist innerlich leer. Oder schlimmer noch: zersplittert.
Die einzige Rettung ist die Kapitulation vor dem Absoluten. Der Glaube. Nicht als Dogma – sondern als existentielle Hingabe. Der Glaube ist der Punkt, an dem das Selbst sich selbst nicht mehr retten will, sondern sich dem Ursprung rückübereignet. Nur im Verhältnis zu Gott kann das Selbst vollständig es selber werden.
Kierkegaard als Seelentherapeut der Moderne
In einer Zeit, in der das Selbst zum Spielball von Konsum, Projektion und Image verkommt, in der das Ich sich entweder aufbläht oder entleert, klingt Kierkegaards Botschaft wie eine Stimme aus einer tieferen Schicht: Du bist nicht, was du willst. Du bist, was du werden sollst. Und du wirst es nur, wenn du dich nicht selbst erschaffst – sondern dich empfängst.
Er ist damit einer der ersten großen Existenzialisten – lange vor Heidegger, lange vor Sartre, lange vor der therapeutischen Industrie der Gegenwart.
Søren Kierkegaard: Ein Arzt der Seele, ein Prophet der inneren Entscheidung, ein Mystiker der Verzweiflung. Und ein Philosoph, der nicht das Denken erklärte, sondern das Leben, das daran hängt.