Thomas Manns Reden aus dem Exil bleiben ein Mahnmal für die Verantwortung jedes Einzelnen in Zeiten der Barbarei. Der Literat forderte – wie jüngst noch Margot Friedländer – das Gewissen seines Volkes heraus, um das Unrecht zu erkennen, sich der Verantwortung zu stellen und eindringlich ein „Nie wieder“ zu proklamieren. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Die Zahl derer, die den Holocaust überlebt und Zeitzeugen eines der größten Verbrechen der Menschheitsgesichte wurden, schwindet. Erst am 9. Mai 2025 ist Margot Friedländer, eine Chronistin der Gräueltaten der Nazi-Diktatur, verstorben. Sie war eine der letzten, die Schülerinnen und Schülern ins Gedächtnis schrieb – diese Zeiten nicht zu vergessen, nicht zu verdrängen. „Das, was ich euch bitte zu tun: Seid Menschen!“ – diesen humanistischen Imperativ, ihr Vermächtnis und ihre Botschaft zugleich, richtete sie unermüdlich an die neuen Generationen. Auch der Nobelpreisträger Thomas Mann richtete vor über 80 Jahren mahnende Worte an seine Landsleute.
Thomas Mann – vom Kriegsbefürworter zum eindringlichen Mahner
Thomas Mann ergriff zu Beginn des Ersten Weltkrieges für die Kriegspartei flammende Worte, unterstrich den Patriotismus sowie das Deutsch-Nationale und begrüßte eine konservative Revolution, durch die er sich eine Erneuerung der deutschen Kultur versprach. Doch Mann war bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ernüchtert, beklagte das sinnlose Leid und das Kriegsgebrüll. Die uniformierten Schritte der Soldaten im Gleichschritt waren für ihn nunmehr exemplarisch für jede Aufhebung der Individualität. In Amerika, im Exil, wird er ab 1940 über die BBC monatlich zu den Deutschen sprechen. In seinen knapp 60 Ansprachen, die er im Verlauf des Krieges hielt, klang stets derselbe Appell an das deutsche Gewissen. Für Mann waren die Nazis „Verderber des Volks“, eine „Diktatur des Gesindels“ und Hitler ein „blutiger Komödiant“.
Der Literat und Weltbürger geht ins Exil
Über 40 Jahre verbrachte der Literat, Weltbürger und Sohn einer brasilianischen Mutter in München. Hier entstanden seine Meisterwerke, die seinen Weltruhm begründeten – die Romane „Buddenbrooks“, „Der Zauberberg“ sowie die Novelle „Der Tod in Venedig“ und die ersten beiden Bände der Tetralogie „Joseph und seine Brüder“.
Manns Rückzug ins Exil war eine schmerzhafte Entscheidung, die bereits1933 in ihm gereift war. Schon zu dieser Zeit erspürte er ein gewisses Unbehagen am Ungeist der neuen Machthaber. Für seinen kritischen Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ zog er die Wut der Wagner-Anhänger auf sich. Und schon dämmerte die Abendröte über Deutschland, die in den folgenden Jahren den Himmel verfinstern wird. Wo einst Goethe und Schiller ihre Gedichte schrieben, werden in Buchenwald Zäune um ein Konzentrationslager aufgerichtet. Neben der Keimzelle der deutschen Klassik, die die Freiheit und Schönheit der Antike wiederbeleben wollte, regierten absurder Hass, Unmenschlichkeit, ein grausamer Terror gegen Andersdenkende. Bald wird überall im Deutschen Reich der Rauch des Todes aus den Schlöten der Krematorien die Atmosphäre vergiften und die Menschlichkeit und Humanität ihr Antlitz endgültig verlieren. Statt Leben millionenfacher Massenmord, der schließlich im Holocaust seine bitterböseste Fratze zeigte.
Für Mann wurde der Schritt ins Exil 1938 mit seiner Übersiedlung in die USA endgültig. Und selbst wenn Mann dem europäischen Kontinent – wie viele seiner berühmten Kollegen – den Rücken zukehren musste, brach er während dieser Zeit im Exil keineswegs mit der abendländisch-europäischen Kultur, mit ihren christlichen Werten, dem Humanismus und der Aufklärung. Die Emigration, so scheint es zumindest, band ihn noch tiefer an das kulturelle Erbe, in das er hineingewachsen, in dem er groß geworden und seine Prägung und Reife empfangen hat. Amerika wird ihm noch deutlicher machen, welche Verantwortung gerade er als Deutscher hat. „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen,“ zitierte ihn ein Reporter der New York Times. In einem seiner eindringlichsten Appelle erinnerte Mann an das friedliche, große Deutschland, das einst durch Literatur und Kultur geprägt war: „Einst sammelte ein Herder liebevoll die Volkslieder der Nation. Das war Deutschland in seiner Güte und Größe.“
Die großen Fragen Manns
Zwei große Fragen beschäftigen ihn in seinen Reden existentiell: Zum einen seine Kritik am Naziregime, zum anderen stellte er sich die Frage, wie die deutsche Nation mit ihrer so reichen geistigen Tradition in die Barbarei abrutschen konnte. Als der britische Luftangriff auf Lübeck im März 1942 die Stadt zerstörte, in der Mann aufwuchs, äußerte er in einer seiner Radiosendungen: „Das geht mich an. Es ist meine Vaterstadt. […] Und lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft Schaden genommen haben.“ Doch er wusste, dass die Verantwortung für die Zerstörung nicht bei den Alliierten allein lag, sondern vor allem bei den Deutschen, die diesen Weltenbrand des Todes entfesselt hatten: „Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss. Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner, Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben. Und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen.“ Es war ein beispielloser Moment, in dem Mann das Volk in die Verantwortung nahm, ohne den Schmerz über den Verlust seiner eigenen Heimat zu verschweigen.
Die wichtigste Rede
Thomas Manns bedeutendste Rede aus dem Exil hielt er am 27. September 1942. Darin sprach er zum ersten Mal explizit über die Judenvernichtung und stellte dem deutschen Volk die Fragen: „Wisst ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?“ Mit diesen Fragen forderte er seine Landleute auf, nicht länger die Augen vor den Gräueltaten der barbarischen Diktatur zu verschließen, sondern endlich der Wahrheit ins Auge zu blicken und sich darüber bewusst zu werden, welche Verbrechen im Namen des deutschen Volkes und letztendlich unter seiner Zustimmung begangen wurden. „Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden“, erklärte er und fuhr fort: „Wem ist damit gedient? Wird irgendjemand es besser haben, wenn die Juden vernichtet sind? Welch Idiotie steckt hinter diesem Nazi-Plan? Kein vernunftbegabtes Wesen kann sich in den Gedankengang dieser verrauchten Gehirne versetzen.“ Die Entscheidung, öffentlich über die Vergasung der Juden zu sprechen, war ein mutiger Schritt, der Thomas Mann zum Ziel von Angriffen machte, aber er tat es mit der Überzeugung, dass die Wahrheit über die Verbrechen unvermeidlich ans Licht kommen musste.
„Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Hass, der eines Tages über Euren Köpfen zusammenschlagen muss“, warnte Mann das deutsche Volk. Es war ein klares und furchtloses Statement gegen die Verleugnung und die Ignoranz, die die deutsche Gesellschaft im Angesicht des Holocausts an den Tag legte.
Seine Reden, die oft im Geheimen gehört wurden – in einem Deutschland, das unter den strengen Strafen für das Hören von Feindsendern litt – erreichten nicht nur die Widerstandsgruppen wie die „Weiße Rose“, sondern auch den breiten Widerstand in der Bevölkerung, der still, aber kraftvoll gegen das Regime arbeitete
Die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit
In seiner Rede am 10. Mai 1945, nach dem Ende des Krieges, betonte Mann: „Es ist eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit. Sie ist hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte. Furchtbarer, schwer zu tilgender Schaden ist dem deutschen Namen zugefügt worden, und die Macht ist verspielt. Aber Macht ist nicht alles, sie ist nicht einmal die Hauptsache. Und nie war deutsche Würde eine bloße Sache der Macht. Deutsch war es einmal und mag es wieder sein, der Macht Achtung und Bewunderung abzugewinnen durch menschlichen Beitrag, den freien Geist!“ Er sprach vom moralischen Neuanfang und der Hoffnung, dass Deutschland eines Tages seine Verantwortung anerkennen und sich von den Gräueltaten des Nazi-Regimes befreien würde.
Thomas Manns Reden aus dem Exil bleiben ein Mahnmal für die Verantwortung jedes Einzelnen in Zeiten der Barbarei. Der Literat forderte – wie jüngst noch Margot Friedländer – das Gewissen seines Volkes heraus, um das Unrecht zu erkennen, sich der Verantwortung zu stellen und eindringlich ein „Nie wieder“ zu proklamieren. Manns Stimme der Menschlichkeit wie Friedländers Apell „Seid Menschen“ waren und sind nicht nur an das deutsche Volk, sondern an die Menschheit insgesamt gerichtet. Sie sind heute aktueller denn je, gerade in einer Zeit, wo der Antisemitismus weltweit seine dunklen Fackeln wieder neu entzündet. Für beide bleibt die Maxime aller Existenz, sich für das Humanum einzusetzen. Der eine tat dies in einer Zeit als das Dunkel des Faschismus die Welt verschlang, die andere im 21. Jahrhundert, wo diese Dunkelheit wieder heraufzieht.