Tatjana Kuschtewskaja. Der Ural. Reisen entlang der Grenze von Europa und Asien

Oldtimer, Foto: Stefan Groß

Tatjana Kuschtewskaja. Der Ural. Reisen entlang der Grenze von Europa und Asien. Geschichte und Geschichten. Aus dem Russischen von Steffi Lunau. Berlin (Wostok) 2018, 224 S., 17.- EURO, ISBN 378-3-932916-71-7.

„Der Ural ist eine seltsame Region mit Rätseln und Geheimnissen ohne Ende.“ Mit dieser vielversprechenden Feststellung präsentiert Tatjana Kuschtewskaja, die bereits in ihren zahlreichen Reisebüchern (vgl. u.a. „Transsibirische Eisenbahn“, „Der Baikal“, „Sibirienreise- die Lena“, „Der Jenissei“, „Kamtschatka – Unterwegs in Russlands Fernem Osten“) ein packendes Bild von der Anziehungskraft des asiatischen Teils der Russischen Föderativen Republik übermittelt hat, einen neuen Zugang zu einem riesigen Landstrich. Er ist attraktiv, weil Kuschtewskaja den Ural so beschreibt, dass neugierig gewordene Leser_innen sich am liebsten sofort auf die Reise machen würden. Wie aber gelingt es ihr, eine solche Faszination auszulösen? Sie verbindet bereits in ihrer Einleitung über den Ural und dessen Geschichte einen kurzen historischen Abriß mit Verweisen auf Persönlichkeiten, die Forschungsreisende finanziell unterstützt haben, die die schier unergründlichen und bizarren Landschaften wissenschaftlich erschlossen haben, mit ihren persönlichen Erlebnissen auf Zugreisen, zu Fuß und auf Flüssen. Und sie gelangt dabei zu einer kühnen Behauptung: Du sammelst auf einer Uralreise einzigartige Erfahrungen wie nie zuvor in Deinem Leben.

Also auf zu dieser ungewöhnlichen Reise durch weithin unbekanntes Terrain! Sie beginnt in Jekaterinburg, der Hauptstadt des Urals, geht durch das Gebiet Swerdlowsk, beschreibt Perm, die Kulturhauptstadt des Ural und das Gebiet der Region Perm, erfasst zwei Republiken, Udmurtien und Baschkordistan, widmet sich ausführlich den südlichen Uralgebieten Orenburg und Tscheljabinsk, besucht die Städte Kurgan und Schadrinsk und vollführt dann einen gewaltigen 2000 km langen Sprung in den Norden des Ural. Dort wo die Wasserscheide zwischen der Petschora und dem Ob Europa und Asien trennt, wo sich ein gigantisches Naturschutzgebiet befindet, wo in dem Gebiet der Komi Elche aufgezogen werden, wo sich einzigartige Felsformationen erheben, wo das Volk der Komi-Permjaken um ihr Überleben kämpft.

Worin besteht der besondere Charakter dieses Reise- und Geschichtsbuches über einen riesigen Landstrich am östlichen Rand Europas? Es sind die Beschreibungen von unerwarteten Ereignissen, die bislang in den Annalen kaum erwähnt worden sind. So erfährt der Ural-Reisende, dass Jekaterinburg von 1924 bis 1991 Swerdlow hieß, „zu Ehren des Bolschewiken Jakow Swerdlow“, und die Stadt nunmehr ihren Namen zu Ehren der Heiligen Katharina, der Schutzpatronin der Bergleute, nicht der Zarin Katharina II. erhalten habe. Und diese besondere Anerkennung habe sie auch erhalten, weil eine Kirche mit ihrem Namen in Swerdlowsk von den Bolschewiken zerstört worden sei. Neben solch wichtigen Informationen werden die Reisenden umfassend eingeweiht in die turbulente Entstehungsgeschichte der Millionenstadt Jekaterinburg, erfahren sie vieles, was in westlichen Reiseführern über Russland meist nicht zu finden ist. Es sind Anekdoten über die Geheimnisse um Ruinen und Burgen, Legenden über berühmte Wissenschaftler und Erfinder, um mysteriöse Erscheinungen, wie die angeblich immer wieder in der Nähe des Dorfes Moljobka am Rande des Permer Gebiets erscheinenden Außerirdischen, denen dort sogar ein Denkmal gebaut worden ist. Oder sie werden in die Kungur-Eishöhle am Rande von Perm geschickt, eine Reise, die mit Legenden um berühmte Besucher dieser weltweit bekannten geologisch einzigartigen Höhle (vgl. kungurcave.ru) ausgeschmückt ist. Oder sie werden in den Städtchen Usolje mit dem Stroganow-Palast bekannt gemacht, um an Ort und Stelle in einem Restaurant ein echtes Boeuf Stroganow zu essen, nach dem Original-Rezept, vom Erfinder authentisch überliefert. Doch die Autorin schwelgt nicht nur von kulinarischen Kostbarkeiten und kunstvollen architektonischen Überlieferungen, sie konfrontiert ihre Leser_innen auch immer wieder mit den grausamen Zeugnissen der jüngsten russischen Geschichte. So wie die Dokumentation in der Gedenkstätte zur Geschichte der politischen Repressionen, Perm-36, ein seit 1995 im Originalzustand erhaltenes Lager. Hier verbrachten bekannte Dissidenten wie Wladimir Bukowski, Sergej Kowaljow, Valeri Martschenko und Wasil Stus viele Jahre als „Feinde“ der Sowjetmacht.

Besonders vorteilhaft für die Darstellung der Geschichte und Gegenwart des Ural erweisen sich auch die zahlreichen Reisen der Autorin in ihrer Eigenschaft als Drehbuch-Autorin. Doch sie dokumentiert nicht nur mit filmischen Mitteln, sie vertieft ihre Beschreibungen auch unter Einbeziehung von Gesprächen und Interviews mit der einheimischen Bevölkerung. So trifft sie sich in Ischewsk, der Hauptstadt von Udmurtien, mit dem legendären Erfinder des berüchtigten Schnellfeuergewehrs Kalaschnikow, dem in der Zwischenzeit sogar ein Museum gewidmet worden ist, sie reist mit einer ehemaligen Kollegin der Moskauer Filmhochschule kreuz und quer durch die exotische Landschaft von Udmurtien, in der heidnische Bräuche und die Wirkung der orthodoxen Kirche überall spürbar sind. Und sie verfolgt auch die Spuren deutscher Forschungsreisender, wie die von Alexander von Humboldt, der auf seiner Reise durchs Baltikum, Russland und Sibirien Ende der 1820er Jahren auch in Orenburg war und dort bis in die jüngste Gegenwart in lebendiger Erinnerung sei. Solche oft mit überlieferten Anekdoten ausgeschmückten Buchpassagen bilden zusammen mit den packenden Reportagen über Wildwasserfahrten und Kletterpartien durch echt exotische Gebirge auf den zahlreichen Flüssen im mittleren Ural und Kletterpartien durch exotische Felslandschaften den besonderen Reiz der Publikation. Damit unterscheidet sie sich wohltuend von den „fetzig“ aufgemachten, mit Infos überhäuften travelling books der Spezialverlage. Irritierend erweisen sich allerdings die oft blassen Schwarz-Weiß-Abbildungen. Doch der neugierige und wißbegierige Tourist wird sich sicherlich seine eigenen Schnappschüsse machen wollen. Übersichtlicher könnten auch die notwendigen Infos zu Verkehrsverbindungen, Gaststätten und Hotels, kulturellen Einrichtungen sein. Ebenso fehlt eine detaillierte geographische Landkarte mit allen Eisenbahn- und Straßenverbindungen. Ungeachtet solcher rasch zu korrigierenden Ergänzungen bleibt der lebendig und wissenskundig geschriebene Band mit Geschichten über und der Geschichte vom Ural eine unbedingt zu empfehlende Quelle des Wissens und des Vergnügens über eine mächtige Landschaft, deren Bekanntschaft bislang meist nur professionellen Touristen und Wissenschaftlern vorbehalten war.

 

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