Karl Ove Knausgård. Im Sommer. Mit Aquarellen von Anselm Kiefer

Sonnenuhr, Foto: Stefan Groß

Die Feuilletons und die Tagebuchaufzeichnungen, mit denen der Ich-Erzähler Karl Ove den Juni des Jahres 2016 einleitet, beschäftigen sich mit Rasensprengern und Mixern. Dazwischen geht es um Kastanienbäume, kurze Hosen, rote Johannisbeeren, Fledermäuse, Wölfe, Tränen. Selbst im Juli 2016 ist seine Sehnsucht nach Mücken, Pflaumen, Schmetterlingen und vielen anderen organischen und botanischen Lebewesen nicht gesättigt. Glücklicherweise lenkt den Leser zwischendurch die visuelle Wunderwelt der Aquarelle von Anselm Kiefer ein wenig ab (oder stimuliert ihn!). Sie illustrieren alle achtzig Seiten die Alltagsbeobachtungen, die philosophischen Abschweifungen und überraschenden Einblicke in schwedische Sozialgeschichte, wie auch die zoologischen und biologischen Miniabhandlungen und die oft sehr minutiösen Beobachtungen, die der Erzähler Karl Ove in meist wechselnden Einstellungen präsentiert. Er ist es, der als lernbegieriger Kleingärtner, als Kinderpsychologe, als Hobbybiologe, als Urlaubspsychologe, als Campingplatz-Betreuer oder sogar als Marienkäfer-Bewunderer seine Leser in seine Überlegungen einbezieht. Warum er sich immer wieder dieser Mühe unterzieht, erläutert er so: „Wenn man über sich selbst schreibt, geht es in gewisser Weise um das Gegenteil von Einfühlung, da die Bewegung der Einfühlung vom Äußeren nach Innen führt, während es beim Schreiben über sich selbst um eine Bewegung vom Inneren nach außen geht. Gleichzeitig haben beide Prozesse dasselbe Ziel, Vertraulichkeit und durch sie Verständnis.“ (S. 160)
Aufgrund der so beschriebenen Zielrichtung beim Schreiben über sich selbst, werde der Blick von außen eingeschlossen und es entstehe eine eigentümliche Objektivität, „etwas, das zugleich dem Inneren und dem Äußeren entspricht, und diese Objektivität ermöglichte, sich in seinem Ich zu bewegen, als wäre es das eines anderen, denn für diese Bewegung ist Einfühlung erforderlich oder das, was man heutzutage Empathie nennt.“ (S. 161) Wesentlicher Träger dieser Bewegungen von innen nach außen sei ein Strang von Erinnerungen, die „unsere Erzählung über uns (bilden)“. Sie würden die Grundlage für unsere Identität schaffen. Eine Behauptung, die in ihrer Anschaulichkeit sicherlich seine Leser/innen überzeugen kann.
In den folgenden Passagen konzentriert sich Knausgård auf die Aufgaben der Psychoanalyse, die sich vor allem mit den alten, oft verdrängten Erinnerungen bei ihren Patienten beschäftige. Er hingegen, so Karl Ove, bevorzuge eine unmittelbare Behandlung, bei der der Druck der Außenwelt im Falle einer psychotischen Störung untersucht werden müsse. Beispiele dafür holt er sich aus Erzählungen seiner engsten Bekannten und Verwandten, oder aus der Weltliteratur. Solche narrativen Muster erweisen sich für Leser, die sich von der Fülle unterschiedlicher therapeutischer Muster anregen lassen, als lehrreich und oft vergnüglich. Oft jedoch fehlen die Begründungszusammenhänge. Vielmehr werden hier literarische Modelle in Alltagssituationen eingepasst, ohne dass ein unmittelbarer logischer Konnex besteht. Die meist folgende Situationsgeschichte (wie z.B. Fahrradtour mit einem seiner Kinder, Beschäftigung mit dem Konsum von Fernsehsendungen – oder Smartphone-Belustigungen etc.) hat oft den Charakter eines spontan erzählten Einschubs in die eben vorgetragene Alltagsepisode. Ein narratives Verfahren, das dem aufmerksamen Leser immer die Möglichkeit einräumt, dem Phänomen einen flüchtigen Sinn von etwas zu verleihen, das er in seinen Imaginationen wahrgenommen hat.
Worin besteht die erzählerische Anziehungskraft der Sommergeschichten von Knausgård? Sie ist von einer solchen Faszination, dass dem Leser das Gefühl verliehen wird, seine vielschichtige gedankliche Auseinandersetzung mit der erlebten Realität erhalte eine gewisse Legitimität durch den Erzähler. Auf diese Weise verleiht er – aufgrund seiner ständigen wissenschaftspragmatischen Einschübe – dem Leser die Genugtuung, die darin besteht, dass dieser auch komplizierte kognitive Prozesse erfassen kann. Mehr noch: er identifiziert sich mit dem Erzähler, der ihm bestätigt, dass er sich selbst diese Erkenntnisse mit großer Mühe angeeignet habe. Noch überzeugender ist die Motivationsebene in dem Erzählwerk, das verschiedene Gattungen enthält. Auf ihr handelt eine männliche Person, ein emanzipierter, engagierter Ehemann, der sich nicht zu schade ist, für alle wichtigen Dinge im Haushalt und im Umfeld von Schule und freiberuflicher Tätigkeit die Verantwortung zu übernehmen. Augenscheinlich zeichnet sich hier ein neuer Typus von männlichem Prototyp ab, wie er sich möglicherweise aufgrund einer Rollenverschiebung in der schwedischen Gesellschaft seit vielen Jahren herausgebildet hat. Kennzeichnend für diesen sozialemanzipatorischen Entwicklungsstrang ist auch die sichtbar gewordene pädagogische Vermittlung von zwischenmenschlichen, entwicklungspsychologischen und spezifischen naturhaften Prozessen. Ein besonders beredtes Beispiel dafür ist die Schlusspassage des wenige Seiten umfassenden Textes „Haut“. Die Haut rufe, so Karl Ove, ambivalente Gefühle hervor, wenn sie unvermittelt berührt werde. Gleichzeitig aber möchte sie der Haut anderer, Sympathie auslösender Menschen nahe sein. Dann werde „die Sehnsucht wie eine Art Hund und der Wille wie eine Kette, an der ich ihn festhalte.“ (S. 452)
Der letzte Band von Knausgårds Zyklus über die Jahreszeiten trägt das durchgehende Merkmal eines Zwiegesprächs, das der Autor mit seiner jüngsten Tochter führt. Dabei widmet er sich auf besondere Weise der gedanklichen Aufarbeitung von Erinnerungen an seine Kindheit, die er immer wieder mit Kindheitserlebnissen aus dem Mund von Verwandten und Bekannten vergleicht. Es ist eine Suche nach Wahrheit, die sich verschiedener Arten eines Verstehens bedient, das sich auf ein sehr breites Spektrum erstreckt: sprachliche Äußerungen, Traditionen, Handlungen, Kunstwerke, Tierpraktiken, soziale Praktiken, Geschichten, Institutionen. Dieser narrative Prozess, meist eingebettet in ein schlichtes Erzählen, wird mit großer Lust und viel Einfühlvermögen vorangetrieben, ohne dass eine Ermüdungserscheinung eintritt, weder beim Autor-Erzähler noch beim Publikum. Im Gegenteil, die unermüdliche Suche nach der Wahrheit verheißt eine Methode, die die Neugier und das Vergnügen einer wachsenden Leserschaft anstachelt!

Karl Ove Knausgård. Im Sommer. Mit Aquarellen von Anselm Kiefer. Aus dem Norwegischen von Paul Serf. München (Luchterhand) 2018, 490 S., 24.- EURO, ISBN 978-3-630-87513-2.