Was heißt Liebe?

Trotz aller soziologischen Aufklärung gilt dem landläufigen Verständnis Liebe weiterhin als Gefühl, und das nicht ganz zu Unrecht, schließlich empfindet, fühlt man Liebe: Man sehnt sich nach dem (personalen oder sonstigen) Liebesobjekt, will ihm nahe sein, oder, sofern es sich um eine Tätigkeit handelt, sie immer wieder vollziehen.[1] Diese Sehnsucht ist eine anthropologische Grundkonstante: Der Mensch weiß um seine Endlichkeit, „Unvollkommenheit“, und sehnt sich nach Dauer, Vollendung, Vollkommenheit. Sie scheinen in den Glücksmomenten erfüllter Liebe auf, sei es in der ekstatischen Versenkung in Gott, im gelungenen Spiel, in der gemeinsamen Begeisterung für die Nation, im Fußballweltmeistertaumel. Ihre vollkommenste Ausprägung findet die Liebe seit der Romantik im Liebespaar, bei dem Sehnsucht auf Sehnsucht trifft und mit der Geliebten verschmelzen will. Diese Verschmelzung wird insbesondere im gegenseitigen erotischen, leidenschaftlichen Begehren erlebt: Gefühle werden authentisch über den Körper kommuniziert. Die Liebenden beobachten ihre Körper auf Anzeichen von Liebe, auf sehnsüchtiges Verlangen, auf Leidenschaft. Gefühle (Emotionen) sind nichts Dauerhaftes. Versteht man Liebe als Gefühl, so tritt sie nur episodisch auf und dauert nicht lange – jedenfalls kein gemeinsames Leben lang. Liebe als Passion, als Leidenschaft wurde denn auch jahrhundertelang als schnell vergängliches Phänomen angesehen. Eine so wichtige Sache wie die Ehe auf Liebe zu gründen, kam erst den Romantikern in den Sinn. Die Personen sind bei ihnen als entwicklungsfähig gedacht, sie wachsen mit der Liebe, die deshalb dauern kann (während zuvor die Person als konstant und deshalb die Liebe als unbeständig galt). Das gemeinsame Wachsen ist aber kein Gefühl. Wenn man der Liebe Dauerhaftigkeit unterstellt und sie auch im Alltag gelebt werden soll, so kann Liebe nicht nur ein Gefühl sein.
Als Gefühl wird auch heute vor allem die eher kurzzeitige Verliebtheit (Passion, Leidenschaft) angesehen. Verliebtheit erfüllt alle Kriterien einer Emotion.[2] Man empfindet als „Ganzes“, als „körperlich-geistige Einheit“, eine oft quälende Sehnsucht nach der anderen. „Kognitiv“ weiß man um seine Verliebtheit und die auslösende Person, von der man sich bezaubert fühlt. Körperlich erlebt man ein Prickeln, Kribbeln, die berühmten Schmetterlinge im Bauch, hat Herzklopfen, feuchte Hände, weit geöffnete Pupillen. Man wirft bewundernde Blicke auf das geliebte Objekt, zeigt in Gestik und Mimik Unruhe, bei noch nicht erklärter Liebe Unsicherheiten im Verhalten. Alle sonstigen Motive treten hinter das Bestreben zurück, der Geliebten, unter deren Abwesenheit man leidet, in irgendeiner Weise nahe zu sein, und zwar dauerhaft: „Alle Lust will Ewigkeit“. Verliebtheit, die Sehnsucht, drängt nach Dauer, und die Erfüllung scheint durch das möglichst häufige Miteinander möglich.
Verliebtheit schwankt in ihrer Stärke, ist kein gleichbleibender Dauerzustand: Heftigen leidenschaftlichen Attacken folgt eine Abschwächung, und die großen Gefühle der Verliebtheitsphase nehmen mit der Zeit ab. Verliebtheit kann kurz, instabil, wenig harmonisch sein. Nach landläufiger Auffassung verschwindet sie schließlich, die Beziehung zur Geliebten bricht ab, oder Verliebtheit verwandelt sich durch Bewährungsproben in „wahre“ Liebe, die sich immer wieder in gemeinsamen Situationen und als „gemeinsames Wachsen“ bewähren muß. Was wird bei „wahrer“, „echter“, „reifer“ Liebe aber aus dem Gefühl?
Gefühle können nicht im eigentlichen Sinne wahr oder falsch, echt oder unecht sein. Sie werden gefühlt, sind da oder nicht da. Wenn die Liebe schnell schwindet, spricht man von unechter Liebe, bloßer Verliebtheit. Unecht ist aber nicht das Gefühl. Es dauerte nur nicht lange, während Liebe Dauerhaftigkeit verlangt. Geht es dabei aber um ein dauerhaftes Gefühl? Muß man dauernd Liebe fühlen?
Gefühle sind sprachlich vermittelt. Die Frage der Echtheit taucht auf, weil Liebe auf Kommunikation, mediale und sonstige soziale Vorgaben aufbaut, sprachlich geprägt ist (Tiere lieben nicht). Liebe ist bekanntlich sehr gesprächig, da das Gefühl nicht direkt, sondern nur als kommuniziertes Gefühl vermittelt werden kann. Kommunikation ist im Gegensatz zu (analogen) Gefühlen binär, durch Unterscheidungen gegliedert und kann alles, auch die Gefühle, nach echt oder unecht qualifizieren. Bei einem „gefühlten Gefühl“ taucht eine solche Frage nicht auf, denn es ist unmittelbar gewiß. In der heftigen Verliebtheit stellt die Sehnsucht für die Liebende so ein unbezweifelbares Faktum dar. Sind die Gefühle lau, wird weniger gefühlt als reflektiert oder geredet, stellt sich erst die Frage nach echt oder unecht. Steht sie aber erst einmal im Raum, bleibt immer ein Zweifel. Denn jede Frage fordert eine Antwort, und jede, notwendig kommunikative Antwort kann wieder echt oder unecht sein, aber nie ein Gefühl. Bezüglich Liebe als Gefühl gilt in der Tat: „Über Liebe kann man nicht schreiben. Man liebt oder läßt es bleiben.“ (Robert Gernhardt)
Liebe als Gefühl ist „nur“ Verliebtheit, traditionell Verliebtheit aber ein kurzzeitiges Phänomen. Die bürgerliche Ehe tötete die Leidenschaft denn auch ab: „Die Leidenschaft flieht, die Liebe muß bleiben.“ Die adeligen Familienbeziehungen fußten hingegen von vorneherein nicht auf Liebe, sondern politisch-wirtschaftlichen Überlegungen: Leidenschaft war für die Mätressen reserviert, für die Ehefrau die wankelmütigen leidenschaftlichen Gefühle völlig unangebracht – was im übrigen auch lange bürgerliche Praxis war.
Heute funktionieren diese Modelle, die Leidenschaft und Liebe zeitlich oder räumlich trennten, nicht mehr. Leidenschaft und Sexualität außerhalb der Beziehung – die räumliche Aufteilung – sind Trennungsgründe. Und zeitlich geht mit dem sexuellen Ausschließlichkeitsanspruch die Erwartung einher, daß auch das Gefühl von Liebe erhalten bleibt, obwohl man es nicht kontrollieren kann, oft selbst nicht mehr weiß, ob man es hat – was kein Wunder ist, wenn die Leidenschaft abnimmt, sie aber gerade das Liebesgefühl ist. Wer nur auf Liebe als Gefühl setzt, wird zwangsläufig mit der Zeit – sei es nach fünf, nach zehn oder auch erst zwanzig Jahren – enttäuscht. Trotzdem bleiben die meisten Paare zusammen. Warum? Nach dem „Investitionsmodell“ wägt man die Zufriedenheit, Alternativen, Investitionen ab, aber meistens dürfte es einfach fraglose Gewohnheit sein (in schlechten Beziehungen die Gewohnheit der täglichen Machtkämpfe). Sollte man das noch als Liebe bezeichnen? Was meint man, wenn man von „echter“ Liebe redet?
Liebe muß kommuniziert werden, sonst findet ein Paar nicht zusammen. Wird Liebe kommuniziert, erwartet man ein bestimmtes Verhalten, das man ohne Liebe nicht an den Tag legen würde. Gegenseitig kommunizierte Liebe ermöglicht ein „an sich“ unwahrscheinliches Verhalten, macht eine höchstpersönliche Kommunikation unter Einschluß des Körpers wahrscheinlich. Die Kommunikation von Liebe gibt ein Skript, eine Vorschrift, wie man sich zu verhalten hat, was beidseitig erwartet wird und welche Gefühle gefühlt werden sollen.
Bei Verliebten ist Leidenschaft ein zentrales Element. Was meint man aber mit „ich liebe dich“ in längeren Beziehungen? In guten Beziehungen besteht gegenseitig eine positive Grundeinstellung: Man ist der anderen Person wohlgesinnt, will mit ihr zusammensein, will Nähe, Geborgenheit, empfindet Sympathie, Zuneigung, Wohlwollen, Vertrauen, Respekt, Zusammengehörigkeit, sorgt sich um die andere, leistet ihr Hilfe, nimmt Anteil an ihrem Leben, versteht sie. Eine gute Beziehung berücksichtigt und bejaht die andere in ihrer „ganzen“ Existenz: Jede wird – das ist die heutige Funktion der Liebesbeziehung – als „Ganzes“ und in ihrer Weltsicht bestätigt. Die gegenseitige Bestätigung als „Ganzes“ erlaubt es, in einer unpersönlichen Welt, in der die Person in einzelne Rollen „zerfällt“, Selbstbewußtsein und Selbstidentität aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Beziehung unterstellt dabei eine gemeinsame Welt, schafft eine Wir-Welt mit einer eigenen Geschichte und grenzt sich mit der Unterscheidung, dem „Beziehungscode“ Wir/Rest der Welt von ihrer unpersönlichen Umgebung ab. Die Beziehung besteht solange, wie die gemeinsame Wir-Welt das Handeln bestimmt. Die Gemeinsamkeiten können dabei durchaus fiktiv sein – es genügt, daß beide an sie glauben.
Die Übereinstimmung ist nie vollständig. Die andere wird ja nicht als Doppel, sondern als „Ergänzung“, als „Vervollständigung“ geliebt (Simmel: Die Liebe „entzündet sich nur an der Individualität…“). Die individuellen Unterschiede und Interessen führen zu mehr oder weniger großen Konflikten (Simmel pessimistisch: „…und zerbricht an der Unüberwindlichkeit der Individualität“) und werden besonders beobachtet. Man fragt sich, ob die andere eigene Interessen oder Gewohnheiten in der Beziehung zurückstellt und Rücksichten auf die Befindlichkeiten der anderen nimmt. Die Außenabgrenzung Wir/Rest der Welt wird durch die Binnenbeobachtung Eigeninteressen/Rücksichten ergänzt. Im Unterschied zu unpersönlichen Beziehungen wird erwartet, daß mein Erleben einer Situation und meine Gefühle das Handeln der Geliebten mitbestimmen – und ihr Erleben und ihre Gefühle mein Handeln. Kurz: Liebe bedeutet eine positive Grundeinstellung zur anderen, eine gemeinsame Weltsicht, Zurückstellen eigener Interessen.
Sie kennzeichnen aber auch Freundschaften. Längere Beziehung, in denen Vertrauen, Fürsorge, Toleranz an Bedeutung gewinnen, gleichen sich Freundschaften an. Zugleich bringt der im romantischen Ideal schon angelegte und sich heute durchsetzende Gleichberechtigungsanspruch ein Liebe und Freundschaft fremdes Element hinzu, entwickelt sich die Liebesbeziehung verstärkt zur Partnerschaft.
Partnerschaft stützt sich auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Kooperation, Verständigung, Verhandlungen, Interessendurchsetzung, ist ein rationales Tausch- und Zweckverhältnis. Liebe und Freundschaft sind hingegen Selbstzweck. In ihnen wird beidseitig freiwillig und gerne, ohne genaue Aufrechnung gegeben und auf die Befindlichkeit der anderen Rücksicht genommen. Gabe und Gegengabe sind Geschenke. Liebe und Freundschaft bieten mehr als eine zum gerechten Ausgleich verpflichtende Partnerschaft, die alles diskutiert und aushandelt. Insbesondere die Liebesbeziehung muß aber heute – eine soziale Vorgabe – dieses liebesfremde Element, ein partnerschaftliches Verhältnis, integrieren, darf den Gleichberechtigungsanspruch nicht zu deutlich unterlaufen.
In Freundschaften ist das kaum ein Thema: Sieht sich ein Freund stark benachteiligt, löst er die Freundschaft auf. Bei Liebesbeziehungen zögert man länger: Liebe ist wichtiger, intensiver, totalitärer, ambivalenter, konfliktreicher. Nur deshalb kann Liebe, im Unterschied zur Freundschaft, als Emotion bezeichnet werden: Alles ist gefühlsbeladen. Das zeigt sich vor allem bei negativen Gefühlen, bei Ärger, Wut, Eifersucht, Überdruß, Abneigung, Haß. „Liebe“ ruft andere Affekte hervor oder steigert sie. Sie ist in solchen Fällen kein eigenständiges Gefühl, sondern Katalysator für andere Gefühle. Bleibt die positive Einstellung zur anderen auch über solche negativen Phasen und Phasen der Gleichgültigkeit hinaus erhalten und führt zu einem für beide mehr oder weniger befriedigenden Kommunikationsstil, so geht man vom Weiterbestehen der Liebe aus.
Der entscheidende Unterschied von Liebe zur Freundschaft liegt im Einbezug von körperlicher Intimität und Sexualität. Verliebtheit strebt gerade sie an, ist mit leidenschaftlicher Sehnsucht, mit dem Gefühl der Liebe verknüpft. Was wird bei dauerhafter Liebe aber mit der Leidenschaft? Da sich kein von Verliebtheit unterschiedenes Liebesgefühl ausmachen läßt, bleibt nur die Abgrenzung über die Intensität: Auch „wahre“, „reife“, „reine“ Liebe ist – mehr oder weniger große – Sehnsucht. Liebe als Gefühl ist nichts anderes als Verliebtheit, die sich bei längeren Beziehungen „normalisiert“.
Was aber bedeutet Normalisierung? Begehren oder Leidenschaft als akutes Gefühl ist immer nur zeitweise da, flammt auf und ab, ist mal stärker, mal schwächer. Liebe als Gefühl besteht solange, als die Sehnsucht aufflammt, episodisch Gefühle auftreten. Wie groß die Abstände dann auch sein mögen, und ob es nun ekstatisch oder wie auch immer gedämpft (als Gefühl von Vertrautheit, Nähe und Geborgenheit) auftritt: Das Sehnsuchtsgefühl zeigt den Weiterbestand der Liebe als Gefühl an. Man bezeichnet etwas als gute Liebesbeziehung, wenn die Partner freundschaftlich miteinander umgehen und eine mehr oder weniger leidenschaftliche Intimität pflegen. Langfristige, „reife“, „wahre“ Liebe kann „an sich“ ohne große Gefühle auskommen. Die ganze Liebespraxis und nicht ein einzelnes Gefühl entscheidet über den Verlauf einer Beziehung und über das Zusammenbleiben. Dauerhafte Liebe wird gelebt und erprobt, und ob man dabei etwas fühlt, ist „an sich“ mehr oder weniger belanglos.
Liebe und Freundschaft bedeuten eine positive Grundeinstellung zur anderen. Eine positive dauernde Einstellung ist eine Stimmung oder eine Gefühlseinstellung, kein akutes Gefühl, keine Emotion. Hinzu kommen eine gemeinsame Weltsicht, die Zurückstellung eigener Interessen, als liebefremdes Element aber auch ein partnerschaftliches Verhalten. Und dann, das ist, wenn man so will, das ideologische Moment des heutigen Liebeskonzepts, sieht es das Fortdauern eines Liebesgefühls vor, so daß zumindest ein Liebesgefühl als vorhanden behauptet werden muß (das gilt auch für andere Arten der Liebe wie die noch stärker ideologisierte Mutterliebe, hat doch heute jede Mutter schon Schuldgefühle, wenn sie ihre nervenden Kinder nervig findet). Das Liebesgefühl ist jedoch nichts anderes als Verliebtheit. Sie tritt in guten Beziehungen immer wieder episodisch auf. Die meiste Zeit läuft die Beziehungspraxis ohne Gefühle ab. Kein Wunder, daß dann, wenn man Liebe als Gefühl ansieht, leicht die Frage aufkommt, ob man noch liebt.
Das Gefühl der Liebe, die Verliebtheit, die Leidenschaft, ist Teil des heutigen Konzepts der Liebe – und das sein Problem: Man will Leidenschaft (lohnt das Leben ohne sie?) und Dauer. Die abnehmende Leidenschaft als das „an sich“ entbehrlichste Element im Alltag längerer Beziehungen droht sie zu sprengen. Damit man dauerhaft mit einer anderen alles teilen will, bedarf es der Sehnsucht, der Leidenschaft, der Verliebtheit, die mit der Dauer gerade abnimmt. Nach der Verliebtheitsphase brechen die individuellen Unterschiede auf – und das ist kein individuell steuerbares Problem (sonst gäbe es keine Scheidungen). Statt die Eigendynamik der Liebesbeziehung zu beachten und die Beziehungsprobleme als strukturell im Liebeskonzept selbst, den sozialen Vorgaben, angelegt zu verstehen, werden sie jedoch als individuelle Unzulänglichkeiten, schlechte Beziehungen und Trennungen als Schuld der einzelnen angesehen – denen dann psychologisch geprägte, also auf individuelle Veränderungen zielende Beziehungsarbeit helfen soll. Das althergebrachte monogame Zusammenleben dient als Fixpunkt, obwohl es das Problem des zugleich „an sich“ entbehrlichen und unentbehrlichen Liebesgefühls verstärkt. Es bedarf aber neuer Liebesstrukturen, um es zu entschärfen.[3]
Der größte Fehler des heute immer noch vorherrschenden Beziehungsmodells besteht im Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung. Im alltäglichen Zusammenwohnen wird die einzigartige Geliebte zu einem ganz normalen, oft nervigen Menschen und kommt es unvermeidbar zu den bekannten alltäglichen Konflikten. Eine Liebesbeziehung ist zu wertvoll, um sie durch Zusammenleben unnötig zu gefährden. Man prüfe die Notwendigkeit getrennter Wohnungen durch die einfache Frage: Mit welchem langfristig zusammenlebenden Paar würde ich gerne tauschen?
Da in langfristigen Beziehungen die Leidenschaft hochwahrscheinlich abnimmt, die Wahrscheinlichkeit, daß man sich in jemanden anderen verliebt, entsprechend zunimmt, sollte man sich außerdem mit Mehrfachbeziehungen anfreunden. Der Personentausch, die serielle Monogamie, löst ja nicht die strukturellen Probleme des heutigen Liebeskonzepts, führt hochwahrscheinlich nur zu Wiederholungen – zu denselben Problemen und Enttäuschungen.
Wenn sich dann doch die Frage stellt, ob man mit jemandem zusammenbleiben soll, so beantwortet man am sie besten, indem man Emotionen (insbesondere Wut, Eifersucht, Rachegelüste) ausblendet und statt sie über die Kriterien des „Investitionsmodells“ entscheiden zu lassen, diese bewußt, „rational“ durchgeht, also die Zufriedenheit mit der Beziehung, die möglichen Alternativen und die Höhe der bisherigen (emotionalen und finanziellen) Investitionen abwägt. Und statt sich undifferenziert zu fragen, ob man noch liebt oder geliebt wird, sollte man konkretisieren, was man mit Liebe gerade meinen könnte. „Ich liebe dich“ kann heißen: Ich will dich küssen, will mit dir schlafen, finde dich schön, bin gern mit dir zusammen, fühle mich bei dir geborgen, kann gut mit dir reden, streiten, gemeinsame Sachen tun, habe mich an dich gewöhnt, erfreue mich an deinem Essen, deinem Putzen, deiner Gartenarbeit, brauche jemanden für das Projekt Familie, brauche eine Haushaltskraft, finanzielle Versorgung. Die kitschigen „Liebe ist …“ Sprüche und Cartoons deuten „an sich“ in die richtige Richtung: Sie sind kitschig, weil man sie gerade nicht ernst nimmt, die Figuren Liebe als Gefühl anstatt die Vielfalt der Bedeutungen von Liebe symbolisieren. Das im Liebesalltag „an sich“ entbehrliche Liebesgefühl ist aber nur in Verliebtheitsphasen gemeint.


[1]Zur philosophischen, soziologischen und psychologischen Diskussion von Liebe und Verliebtheit vgl. Gebert, S., Sinn – Liebe – Tod, Kehl 2003, Kap. II, 39-81 und die dort angeführte Literatur, insbesondere Hahn, K./Burkart, G., Hrsg., Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts, Opladen 1998, Luhmann, N., Liebe als Passion, Frankfurt 1982, außerdem Demmerling, C./Landweer, H., Philosophie der Gefühle – Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 127-165.
[2]Zu Gefühlen und ihrer Abgrenzung (Empfindungen, Emotionen, Gefühlseinstellungen, Stimmungen) vgl. Gebert, S., Philosophie vor dem Nichts, Kehl 2010, 124-129.
[3]Zum Folgenden vgl. Gebert, S., Mehrfachbeziehungen als Ideal – Für eine neue Liebeskultur, Tabula Rasa 85, 03/2013.

Über Gebert Sigbert 9 Artikel
Sigbert Gebert, Dr. phil., Dipl.-Volksw., geboren 1959, studierte Philosophie, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft in Freiburg (Brsg.) und Basel. Lebt als Privatgelehrter in Freiburg und Zürich. Veröffentlichungen u.a. „Sinn – Liebe – Tod“ (2003), „Die Grundprobleme der ökologischen Herausforderung“ (2005), „Philosophie vor dem Nichts“ (2010).

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