„Wenn es weniger Leidenschaft gäbe, wäre die Welt ein sicherer Ort“, aber…. – J.M. Coetzee – Die Schulzeit Jesu

Jesus am Kreuz, Foto: Stefan Groß

Eines vorweg: Ein Buch für Liebhaber schöngeistiger Literatur, anmutiger Sätze und Phrasen, einer stringenten Handlung sowie agierenden und reagierenden Protagnisten in sich ergänzenden Dialogen, ist der Text des Literaturnobelpreisträgers ganz und gar nicht. Vielmehr mag der Eindruck entstehen, dass Coetzee jede Menge philosophische Gedankengänge, die ihn persönlich beschäftigen und umtreiben, kreisen lässt. Dies tut er wie immer in gewohnt nüchternem Schreistil und auf höchst intellektuellem Niveau.

 

Es fällt schwer, den Weltenbewegungen des J.M. Coetzee zu folgen, vor allem dann, wenn man den Vorgänger nicht gelesen hat. Denn „Die Schulzeit Jeus“ setzt dort auf, wo „Die Kindheit Jesu“ endete. In letzterem kam ein kleiner Junge, der wohl als der im Titel genannte Heilsbringer identifiziert werden kann, obwohl der Name Jesu an keiner Stelle des Buches fällt, gemeinsam mit anderen „Flüchtlingen“ auf einem Schiff in einem neuen Land an. Als erstes werden alle von ihren Erinnerungen freigewaschen und erhalten neue Namen, neue Identitäten. Simón kommt als dessen Begleiter, Beschützer und Ersatzvater die Aufgabe zu, das Kind seiner Mutter zuzuführen, die es auf unerklärliche Weise verlor oder nie hatte. Und wenn man schon bei Allegorien ist, so dürfte jener vielleicht die Rolle des biblischen Joseph innehaben. Eine geeignete Kandidatin scheint die jungfräuliche, von der Außenwelt bis dato behütete und abgeschirmte Inés zu sein. Doch ist sie wirklich die richtige Wahl? Sehr viele Sympathiepunkte hat ihr der Autor jedenfalls nicht mit auf den Weg gegeben. Auch David, wie sich der kleine Bursche fortan nennen soll, bekommt keinen Gunst-Bonus von Coetzee. Hochintelligent, aber nervtötend altklug, beugt sich weder dem staatlichen Schulsystem, noch seinen erwachsenen Betreuern. Lieber bringt er sich mit einer Kinderausgabe des Don Quichote selbst das Lesen bei. Letztendlich müssen die drei fliehen.

 

Und hier setzt das neue Buch ein. Inés, Simón und David stranden in Estrella, wo man endlich die für David geeignete Schulform findet: eine Tanzakademie, die sich der Schulung der Seele durch Musik und Tanz widmet. Hier lernen die Kinder nicht nur auf traditionelle Weise Zahlen zu summieren, sondern diese „zu tanzen“. Die Gründer der Schule, Juan Sebastián Arroyo und seine alabasterschöne, junge Frau Ana Magdalena, gründen ihre Bildungsphilosophie auf der Annahme, dass wissenschaftliches Denken und ästhetischer Ausdruck mystisch mit dem Universum verbunden sind, das einer ähnlichen metrischen Ordnung zu folgen scheint. Hochbegabte Kinder wie der kleine Davíd sind diesem Ursprung zweifelsohne viel näher, so dass die Methode, Zahlen, Ordnung und Rhythmus durch Tanzen zu erfahren, für sie selbstverständlich ist. Und tatsächlich: David mag es. Er gedeiht gut in dieser Schule. Er ist der begabteste der kleinen Tänzer.

Doch dann passiert ein furchtbares Verbrechen, begangen vom mysteriösen Dmitri, der im gleichen Gebäude als Museumswärter arbeitet. Obgleich seines unästhetischen Äußeren und seiner emotionalen Ausbrüche wird er jedoch von den kleinen „Tanzeleven“ geliebt.

 

Coetzee spielt auch in diesem Buch wieder mit menschlichen Gegensätzen und Grundeigenschaften: Rationalität versus Leidenschaft, Selbstgenügsamkeit versus Anspruchsdenken, Frage versus Antwort und bringt durch die Person des Dmitri noch ein weiteres Paar hinzu: Gewissen versus Schuld sowie dessen angemessene Bestrafung. Immer wieder versucht er zu erkunden, wer wir sind und ob einem Namen nicht zu große Bedeutung beigemessen wird. Der Autor spielt mit mathematischen Sentenzen (allem Anzeichen nach tanzen die Kinder die Primzahlen) oder er untersucht diverse Bildungsformen.

Dabei verwebt er seinen Text mit der biblischen Geschichte, der griechischen Mythologie und scheut sich nicht, Anleihen bei großen Persönlichkeiten wie Sokrates, Plato, Cervantes oder aber auch Dostojewski und seinen Brüdern Karamasow zu nehmen: die zwei Figuren Dmitri und Aljosha sind beredtes Zeugnis in diesem Buch. Selbst der Familienname von Ana Magdalena und ihrem Ehemann – Arroyo – , erfährt eine gewisse Bedeutung: übersetzt ins Deutsche heißt er „Bach“. Vielleicht stellt Coetzee sogar Johann Sebastian Bachs Musik in einen großen historischen, philosophischen und ästhetischen Kontext.

 

Dieses Buch wird mit Sicherheit die Leserschaft spalten. „Die Schulzeit Jesu“ kann kaum als eine realistische Geschichte an sich verstanden werden. Dafür kommt sie noch allegorischer daher als bereits das erste Buch. Hinzu gesellen sich einige wenige, ziemlich steife und schrullige Dialoge, nicht unbedingt sympathische und recht oberflächlich gezeichnete Protagonisten, eine nur skizzenhaft zu Papier gebrachte Welt und zumeist enervierende Gespräche rund um die Handlung. Der Roman liest sich am ehesten als suchende Reflexion über das Leben. Er wirft viele philosophische Fragen auf, ohne sich darum zu bemühen, sie auch zu beantworten. Aber jedes Kapitel öffnet eine neue Schublade für Gedanken und Fragen, die die fast überflüssige Handlung vorantreiben.

 

Persönlich bin ich leider nicht recht warm mit Coetzees Text geworden, obwohl ich schon einige Werke aus seiner Feder konsumiert habe. Dieses Buch ist mir einfach einen Tick zu analytisch, zu trocken und mitunter arg surrealistisch. Aber vielleicht bin ich nur zu sehr Ameise, um eine Allegorie aus dem Roman aufzugreifen, die jenen die Rolle der primitiven Arithmetik zuweist, und muss noch lernen, dem Universum die edlen Zahlen zu entlocken.

Auf die Longlist für den Man Booker Prize hat es das Buch jedenfalls schon mal geschafft.

 

J.M. Coetzee
Die Schulzeit Jesu

Originaltitel: The Schooldays of Jesus“
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

  1. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (22. Februar 2018)
    317 Seiten, Gebunden
    ISBN-10: 3103973098
    ISBN-13: 978-3103973099
    Preis: 22,00 EURO

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.