Grenzwertige Konflikte – Die Unverrückbarkeit von Grenzen bleibt allzu oft eine Wunschvorstellung

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When statesmen gravely say, „We must be realistic,“
the chances are they’re weak and, therefore, pacifistic.
But when they speak of principles, look out—perhaps
their generals are already poring over maps.
(W. H. Auden)

Der britisch-amerikanische Dichter W. H. Auden (1907-1973), ein Kosmopolit, der in Wien gestorben ist, hat in seinem umfangreichen Werk immer wieder die politischen und militärischen Konflikte des vorigen Jahrhunderts verarbeitet. In vielen Gedichten und Essays geht es ihm um internationale Machtverhältnisse und die entsprechende politische Rhetorik. Das obige Zitat aus einer 1966 veröffentlichten Gedichtsammlung, spricht die Hintergründigkeit politischer Positionen in den internationalen Beziehungen an und eine Rhetorik, die deren gefährliche Tendenzen verschleiert. Im Klartext sagt er, dass politische Führer mit dem Ruf nach Realismus ihre militärische Schwäche verbergen, wegen der sie pazifistisch sind. Auf der anderen Seite vermutet er bereits militärische Planungen, wenn Politiker hehre Prinzipien beschwören. Das dürfte uns allen gerade jetzt sehr bekannt vorkommen. Begriffe wie wertebasierte Ordnung, völkerrechtswidrig, Souveränität, Unverletzlichkeit der Grenzen, sind weitgehend zu Argumenten geworden, die vor allem gegen andere verwendet werden oder andere als Feinde abstempeln. Gern übersehen wird dabei, dass Grenzverschiebungen in Europa eine lange und blutige Geschichte haben. Vom römischen Limes über die Eroberungen Karls des Großen, des Deutschritterordens und Preußens immer weiter nach Osten, über den Anschluss Österreichs und die Erweiterungen Nazi-Deutschlands bis zum Verlust von Ostpreußen, Schlesien und Pommern 1945 ging es immer wieder um Territorien und Grenzverschiebungen. Mit den Ostgebieten verlor Deutschland rund 24 Prozent seines Staatsgebiets, 12 Millionen Menschen verloren durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat. In der Bonner Republik spielten die Vertriebenenverbände noch lange eine politische Rolle, der endgültige Verzicht auf die verlorenen Gebiete wurde erst 1990 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag formal abgeschlossen.

Die allzu oft willkürlich mit dem Lineal gezogenen Grenzen der Kolonialmächte in Afrika und Asien richten bis heute Unheil an. Das jüngste Beispiel ist der Konflikt an der thai-kambodschanischen Grenze, der schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwelt. Er geht auf Abweichungen in der Demarkierung dieser Grenze zurück, die von den französischen Kolonialherren Indochinas 1907 mit dem Königreich Siam vereinbart worden war. Es geht vor allem um einen nur 4,6 Quadratkilometer großen Grenzstreifen, der 1962 vom Internationalen Gerichtshof Kambodscha zugesprochen wurde. Der Streit ist für Thailand vor allem durch den Preah Vihear-Tempel nationalistisch aufgeladen und wird zurzeit von Premierminister Anutin Charnvirakul mit martialischen Sprüchen weiter angeheizt.

Werden Gebietsabtretungen den Ukrainekrieg beenden?

Der derzeit größte Grenzkonflikt tobt seit Februar 2022 in der Ukraine und ist selbstverständlich völkerrechtswidrig, wie alle Kriege der letzten 80 Jahre. Ob er so unprovoziert war wie westliche Medien und Politiker seitdem unermüdlich wiederholen, wird unterschiedlich interpretiert. Um im Bild der obigen Verse von W. H. Auden zu bleiben: Von Pazifismus ist weder bei den direkten Kriegsparteien Ukraine und Russland noch bei den NATO-Mitgliedern die Rede. Offenbar fühlen sich alle militärisch ausreichend stark, die Europäer inzwischen auch, sogar ohne den amerikanischen Schutzschirm, wollen aber weiter aufrüsten. Die Ukraine, als Schwergewicht der einstmals sowjetischen Waffenindustrie und mit Ausbildungs- und weiteren Hilfen des Westens seit der Krim-Annexion 2014, hat lange geglaubt, dass sie Russland zurückschlagen könnte. Die russische Führung dachte, wie viele Beobachter weltweit, dass die Ukraine leicht zu besiegen sei und hatte offenbar nicht mit dem ukrainischen Widerstandswillen und dem Ausmaß an westlicher Hilfe gerechnet. Der Krieg dauert jetzt fast vier Jahre und viele hoffen, dass der Druck von Präsident Trump wenigstens zu einem Waffenstillstand beiträgt und einen späteren Friedensvertrag ermöglicht. Der von der Ukraine angestrebte NATO-Beitritt, für Russland von Anfang an inakzeptabel, ist inzwischen vom Tisch. Neben Sicherheitsgarantien bleiben als Haupthindernis die künftigen Grenzen.

Keine eindeutige historische Grenze zu Russland

Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, war sie plötzlich weit größer als jemals erwartet, einschließlich der 1954 vom Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, Nikita Chruschtschow, an die damalige Sowjetrepublik Ukraine übertragene Krim. Die Bodenschätze des Donbass waren im 19. Jahrhundert von britischen, belgischen und französischen Unternehmern erschlossen worden und zogen vor allem russische Arbeitskräfte in das daraus entstehende Zentrum der russischen Schwerindustrie. Wie weit die Verteilung zwischen Russisch und Ukrainisch auf den verschiedenen Sprachenkarten politisch beeinflusst worden ist, bleibt unklar, aber das Russische dominierte im Donbass, auch unter den aus der West-Ukraine zugewanderten Arbeitern. Das Vokabular überlappt sich zu 60-70 Prozent, bei Aussprache und Grammatik gibt es deutliche Unterschiede. Viele Ukrainer, die russischsprachig aufgewachsen sind, einschließlich Präsident Selensky, lernten das Ukrainische erst als Erwachsene. Für Russland war die neue Sprachenpolitik seit 2019, die das Russische in Verwaltung, Bildungswesen und Medien ausschalten sollte, äußerst kontrovers. Das war einer der Gründe für Moskaus Intervention zugunsten der russischsprachigen Mehrheit im Osten und gleichzeitig Anlass für Kiew, diese in Donezk und Luhansk als Separatisten zu bekämpfen. Im andauernden Ukrainekrieg geht es auch um die typischen Auslöser wie Territorium, ethnisch-linguistische Minderheiten und Rohstoffe, aber nach Jahrzehnten einer russisch-ukrainischen Symbiose hat ihn auch der wachsende ukrainische Nationalismus möglich gemacht. Er entstand schon im 19. Jahrhundert und richtete sich sowohl gegen Österreich und Russland als auch Polen, das 1919 den östlichen Teil Galiziens militärisch besetzt hatte. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), 1929 in Wien gegründet, kämpfte für eine unabhängige Ukraine. 1939 und 1941 beteiligte sich die OUN mit der deutschen Wehrmacht an den Überfällen auf Polen und die Sowjetunion, unter anderem mit der eigenen Waffen-SS-Division Galizien.
Die Ostukraine war schon 1919 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen worden und gehörte der UDSSR als Gründungsmitglied bis zur Unabhängigkeit 1991 an. Im Donbass traf der ukrainische Nationalismus auf eine kommunistisch orientierte regionale Identität mit dem Mythos des Industriearbeiters als Avantgarde des Fortschritts und der Loyalität zur Moskauer Parteiführung. Nach 1991 setzte sich in der Ukraine, wie in den anderen postsowjetischen Staaten ein neues Narrativ durch, das Land wurde nun zunehmend als Opfer des Sowjetsystems beschrieben. Das volatile ukrainische Parteiensystem wurde lange von der prorussischen Partei der Regionen dominiert, deren Machtzentrum im Donbass lag. Unter ihrem Vorsitzenden, Viktor Janukowitsch, der selbst aus dem Donbass kam, wurde sie bei den Parlamentswahlen 2012 mit 30 Prozent stärkste Partei. Janukowitsch, Präsident seit 2010, floh nach dem Euromaidan-Aufstand 2014 nach Russland, die Partei der Regionen zerfiel. Nach der Gründung 2018 begann dann der kometenhafte Aufstieg der jetzigen Regierungspartei Diener des Volkes (Sluha Narodu), benannt nach der gleichnamigen Satire-Serie mit Wolodymyr Selenskyj. Sie gewann 2019 mit 43,16 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit im Parlament, ist pro-westlich und anti-russisch und hat durch die Integration auch extrem nationalistischer Gruppierungen zu den Spannungen beigetragen.

Wird es endlich Frieden geben?

Mit der Konsolidierung der EU, den neuen Reisemöglichkeiten im Schengenraum und der Freizügigkeit von Arbeitnehmern über die alten Grenzen hinweg war in Europa das Gefühl gewachsen, dass die alten Nationalgrenzen zwar weiter bestehen, aber kaum noch eine Rolle spielen. Damit wuchs auch die Illusion, dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verändert werden dürfen, obwohl genau das immer wieder geschah, bei der Auflösung Jugoslawiens, in Georgien, Armenien-Aserbaidschan, Äthiopien-Eritrea, Irak-Kuwait, Sudan, Israel-Syrien und vielen anderen Brennpunkten, oder ausnahmsweise einmal friedlich bei der Trennung der Slowakei von Tschechien. Die russische Invasion der Ukraine war dann trotz einer langen Vorgeschichte und vieler Warnzeichen eine Überraschung mit anhaltenden Folgen, in Deutschland der Ausrufung einer Zeitenwende und der neuen Rüstungsspirale trotz Wirtschaftsflaute und knappen Kassen. Ob ein Durchbruch zum Waffenstillstand und Wege zu einem nachhaltigen Frieden bald möglich werden, bleibt bisher noch mehr Hoffnung als Gewissheit. Das anfangs zitierte Gedicht von W. H. Auden mag zynisch klingen, scheint aber bei der augenblicklichen Kritik an pazifistischen Positionen und der politisch wie medial verbreiteten martialischen Stimmung in Deutschland fast gespenstisch real.