Immer noch werden die traditionellen Fernsehnachrichten von mehr als der Hälfte der Deutschen regelmäßig gesehen und täglich zeigen sie die Ruinenlandschaften im Gazastreifen und in der Ukraine. Nur die ältesten Deutschen erinnern sich noch daran, wie die Städte 1945 auch bei uns ausgesehen haben, Dresden, Hamburg, Köln, Essen, Dortmund, Hannover und so viele andere, in denen nur wenige Gebäude den Bombenhagel überstanden hatten. Das ist achtzig Jahre her und kann durch alte Filme und Fotos von den Jüngeren kaum nachempfunden werden. Aber auch nach drei Jahren Krieg in der Ukraine und zwei Jahren in Gaza scheinen die täglichen Fernsehbilder merkwürdig irreal, fast wie in einem der „lebensechten“ Kriegs- und Katastrophenfilme oder in einem interaktiven Computerspiel, in dem man selbst schießen kann. Unmittelbare Ängste für die eigene Sicherheit lösen sie offenbar so wenig aus wie die vielen weiter entfernten Kriege in Afrika, Lateinamerika oder Asien, am wenigsten bei der jungen Generation. Nach dem Aussetzen des Wehrdienstes seit 2011 und mit den weltweiten Reisemöglichkeiten für viele der Generation Z sind Kriegsgefahr und Verteidigungsfall weitgehend vom persönlichen Bildschirm verschwunden. Der Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 hat daran wenig geändert. Die von Altkanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende fand weitgehend auf der politischen Ebene statt und breitet sich allmählich nach der Erschließung neuer Finanzquellen durch „Sondervermögen“ auf die Bereiche Beschaffung von Rüstungsgütern und Überlegungen zum personellen Aufwuchs der Bundeswehr aus. Die von der Politik und Sicherheitsexperten aller Art beschworene „Bedrohungslage“, dass Russland irgendwann in den nächsten Jahren NATO-Gebiet und eventuell auch Deutschland angreifen „könnte“, erregt bei der Bevölkerung und vor allem bei der wehrfähigen Jugend wenig akute Besorgnis. Die Rekrutierung von Freiwilligen bleibt allen Anstrengungen zum Trotz unzureichend und die Aufwuchs-Planungen von 180.000 auf 280.000 plus 200.000 Reservisten dürften mit Freiwilligen kaum realisierbar werden.
Ist Wehrpflicht die einzige Lösung?
Inzwischen dreht sich die deutsche Debatte nicht mehr um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die als alternativlos gilt, sondern nur noch um ihre Ausgestaltung. Merkwürdigerweise befürworten das in den Umfragen mehr Ältere als Jüngere, aber es gibt auch Väter, die im Ernstfall lieber selbst kämpfen würden, als ihre Söhne in einen Krieg ziehen zu lassen. Strittig bleibt, ob nur Männer Wehrdienst leisten sollen oder auch Frauen. Bundepräsident Steinmeier hat einen Dienst an der Gesellschaft für alle vorgeschlagen, ob bei der Bundewehr oder in sozialen Organisationen. Die Frage der Wehrgerechtigkeit bleibt strittig, das vorgeschlagene Losverfahren wird besonders kontrovers diskutiert. Parallel wird aber bereits das „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro genutzt, um die Beschaffung von Waffen und militärischer Ausrüstung zu beschleunigen. Längst stillgelegte Kasernen sollen wiederhergestellt werden, die seit 2011 ebenfalls geschrumpfte Verwaltung der Bundewehr hat allein mit der Beschaffung mehr als genug zu tun. Die endgültige Entscheidung der Bundesregierung zum Wehrdienst steht noch aus, die Koalition sucht einen Kompromiss, scheint sich allerdings in der Einschätzung der akuten Bedrohung durch Russland weitgehend einig zu sein. Der eigentlich große Unterschied zwischen „Russland könnte uns angreifen“ und „Russland greift uns an“ schrumpft erstaunlich schnell zusammen, weil Experten und viele Politiker ständig die „Bedrohungslage“ beschwören.
Wehrdienst weltweit
Von den 195 Staaten der Welt haben nur 60 eine Wehrpflicht, meistens nur für Männer, obwohl es in zahlreichen Armeen auch immer mehr Frauen gibt. Die mit Abstand größte Armee, die amerikanische, hat 1973, zwei Jahre vor dem Ende des Vietnamkriegs, die Wehrpflicht ausgesetzt. Für einen möglichen Notfall werden aber weiterhin Männer beim „Selective Service“ registriert. Mit ihrer Berufsarmee haben die Vereinigten Staaten seitdem an mehr als 30 Kriegen teilgenommen sowie an deutlich mehr kleineren Kampfeinsätzen und gewaltsamen Interventionen weltweit. An Freiwilligen hat es nicht gemangelt, weil neben einer geregelten Laufbahn deutlich mehr als der Führerschein als Extra angeboten wird. Neben erheblichen finanziellen Hilfen und Sonderzulagen, Wohngeld, Kindergeld und einer Pension nach 20 Dienstjahren waren auch Stipendien für ein Studium oder Vorteile bei der Einbürgerung attraktiv. Zudem haben nach dem Ausscheiden die vielfach höheren Verdienstmöglichkeiten bei den Private Military Companies (PMCs), den florierenden Söldnertruppen, den Armeedienst noch attraktiver gemacht. Erfahrenen Kämpfern winken dort bis zu viermal höhere Gehälter als in der Armee. In diesem Jahr wird der Gesamtumsatz der PMCs auf mehr als 250 Milliarden Dollar steigen, die Branche rechnet mit jährlichen Wachstumsraten zwischen 4,5 und 5,5 Prozent.
Russland hat eine Wehrpflicht für alle Männer zwischen 18 und 30, hat in der Ukraine aber auch Söldnertruppen eingesetzt, die Gruppe Wagner, und dazu Freiwillige aus den Gefängnissen, denen im Überlebensfall die Reststrafe erlassen wird. Auf der ukrainischen Seite haben von Anfang an Freiwillige aus dem Ausland mitgekämpft, auch Deutsche. Im Nebel des Krieges (Clausewitz) bleibt unklar, wie weit britische und amerikanische Ausbilder direkt in Kampfhandlungen verwickelt werden. Nach jüngsten Informationen sind auch Tausende kolumbianische Söldner in der Ukraine aktiv, auf der russischen Seite entsandte nordkoreanische Armeesoldaten.
Europa hat ungefähr zur Hälfte den Wehrdienst beibehalten, überwiegend in den kleineren Ländern, während die größeren ihn weitgehend ausgesetzt haben. Starke Armeen unterhalten Frankreich und Großbritannien, beide ausschließlich mit Berufssoldaten. Sie fühlen sich mit ihrem nuklearen Arsenal offenbar sicherer als Deutschland ohne den amerikanischen Atomschirm.
Kriegshandwerk im Umbruch
Die Kriege der letzten Jahrzehnte und besonders der Ukrainekrieg haben deutlich gemacht, dass die technische Weiterentwicklung traditioneller Waffensysteme und die rasante Entwicklung neuartiger Waffen herkömmliche Vorstellungen von Sieg und Niederlage stark relativieren. Die Lufthoheit wird schwieriger, Panzer werden immer leichter durch schultergestützte Kleinwaffen oder Drohnen ausgeschaltet, Artilleriestellungen immer leichter zum Ziel von präzise gelenkten Raketen, die Reichweite der Waffensysteme steigt weit über die Ländergrenzen hinaus. Soldaten werden zu Hunderttausenden getötet oder verwundet, schneller kann es nur in einem Nuklearkrieg werden. Besonders die Entwicklung des Drohnenkriegs hat auf beiden Seiten zu überraschenden Improvisationen geführt, sowohl zum eigenen Schutz als auch zu ganz neuartigen Angriffsmöglichkeiten. Im Takt mit den Fortschritten der Waffentechnik verringern sich dabei die Überlebenschancen der Soldaten an der Front wie in militärischen Anlagen weit dahinter, für neue Rekruten nach kurzer Ausbildung noch einmal deutlich schneller.
Das bestehende Konzept der Bundeswehr ist nicht mehr zeitgemäß
Mit Hundertausenden wehrfähiger Ukrainer im westlichen Ausland und den verstörenden Videos, wie im Land verbliebene Männer zwangsrekrutiert werden, kann man sich in Deutschland kaum noch vorstellen, wie die Bundeswehr mit unwilligen Wehrpflichtigen zu einer abschreckenden Größe aufwachsen soll. Zudem sind die neuen Waffensysteme, die taktischen und strategischen Erfordernisse der künftigen Kriegsführung und die dazu notwendige Ausbildung der Soldaten mit einem allgemeinen Wehrpflichtmodell nicht mehr machbar. Wie vor allem die amerikanischen Erfahrungen zeigen, sind militärische Profis, Berufssoldaten mit längerer Ausbildung und möglichst Kampferfahrung unabdingbar. Solche Profis werden seit langem auch von den privaten Söldnertruppen der Private Military Companies erfolgreich rekrutiert, ausgebildet und eingesetzt. In Afghanistan haben über viele Jahre mehr Söldner gekämpft als reguläre Armeesoldaten. „Academi“, der PMC-Marktführer in den USA, bietet für besonders gefährliche Einsätze bis zu 2000 Dollar pro Tag und findet dafür weltweit Freiwillige. Julius Caesar wird der Ausspruch zugeschrieben, dass es leicht sei, Männer zu finden, die für Geld töten, aber weniger die bereit sind, für Geld zu sterben. Das trifft sicher auf die Truppen der PMCs zu, denn die Profis verkaufen Ihr Leben mit Sicherheit teurer als wenig motivierte Wehrpflichtige.
In Deutschland sind PMCs im Personen- und Objektschutz aktiv. Die Firma Asgaard in Hamm, mit Büros in Bagdad und Maputo, bietet neben Personenschutz, Objektschutz und Sicherheitsberatung auch Aus- und Weiterbildung an. Die Pretoria-Service Management GmbH in Bayern hat ein breites Angebot an Objekt- und Personenschutz, Sicherheitstechnik und speziellen Sicherheitslösungen. Schnelles Schießen zur Selbstverteidigung gehört dabei natürlich zum Handwerk.
In der Wehrpflichtdebatte wird bisher kaum im europäischen oder internationalen Vergleich diskutiert. Vergleichszahlen zur Einschätzung der Kampfkraft liefert eine amerikanische Firma aus Utah. Demnach belegen die USA, Russland, China, Indien und Südkorea die ersten Plätze, auf Platz 6 und 7 folgen Großbritannien und Frankreich, Italien auf Platz 10 und Deutschland nach Pakistan und Indonesien auf Platz 14. Interessant ist in diesem Vergleich auch, dass die als viel kampfkräftiger als die Bundeswehr geltende britische Armee mit zusammen 136.000 Soldaten in allen drei Waffengattungen in diesem Jahr mit einem Etat von 70 Milliarden Euro auskommt. Die Umstellung auf eine Berufsarmee 1963 wurde im Gegensatz zur Wehrpflicht mit höherer Effizienz und deutlicher Kostenersparnis begründet. Deshalb könnte der Aufbau einer professionellen Truppe aus entsprechend bezahlten Berufssoldaten auch für Deutschland die sinnvollere Lösung sein und erheblich zur erwünschten Verteidigungsfähigkeit beitragen. Das wäre im Übrigen umso sinnvoller, je größer die Bedrohung tatsächlich ist.
Auch für eine verantwortungsvolle Verausgabung der Rüstungsmilliarden ist ein tragfähiges Konzept für die Zukunft der Bundeswehr unabdingbar. Denn inzwischen sind deutsche Rüstungsaktien permanent im Aufschwung und die Rüstungskonzerne vernetzen sich mit Mittelständlern und Startups. Dabei droht die Gefahr, dass es ihnen mehr um einen Anteil am Sondervermögen geht als um die Sorge um Deutschlands Sicherheit.
