Zarathustra übersteht Parsifal, Das Dunkel des gelebten Augenblicks oder Die Geburt verschiedener Tragödien

„Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder, – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden!“
Diese Worte schrieb Friedrich Nietzsche im 279. Aphorismus seines Buches „Die fröhliche Wissenschaft“. Wenige Tage nach Erscheinen des Werks ist der Freund – genauer genommen: der ehemalige Freund – in dieser so treffend formulierten Lebensskizze tot. In diesen wenigen, aber ungeheuer prägnanten und aussagekräftig Worten hält der Philosoph einen Abschnitt seines Lebens fest, der zu den intensivsten und wohl glücklichsten seines Lebens gehören sollte. Zehn Jahre war er der „Sohn“ des „Niebelungenschöpfers“ Richard Wagner und seiner Familie ein wichtiges, wenn nicht gar der wichtigste Bestandteil neben ihrer selbst – eine Seelen- und Gedankenverschwisterung.
„Lust und Schmerz, Sieg und Niederlage, Leben und Tod – nicht nacheinander, sondern in eins. Wenn Wagner der Komponist dieses Doppelakkordes ist – Friedrich Nietzsche wird sein Denker werden, denn in dieser Zerreißung ist er sich selbst begegnet.“, weiß Kerstin Decker. Die Freundschaft der zwei großen Seelenverführer, die bei einem Treffen am Abend des 8. November 1868 in Leipzig begann und sich im Frühjahr 1869 und den darauffolgenden Jahren im Schweizer Tribschen – Wagners Domizil bis 1872 – fortsetzte und intensivierte, ist in der deutschen Geistesgeschichte wahrscheinlich nur mit der Goethes und Schillers vergleichbar. „Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte abseits von Ihnen liegen geblieben sein“, teilt der junge Friedrich Nietzsche dem mehr als dreißig Jahre Älteren mit, der in den Wagners eine neue Familie gefunden hat, ja, die ihm Heimat ist, um sich fünfzehn Jahre später zu korrigieren: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt…“. Was lag hier vor? Was war passiert? Kerstin Decker, die bereits über Heinrich Heine, Paula Modersohn-Becker, Else Lasker-Schüler und Lou Andreas-Salomé hervorragend recherchierte, geht den Dissonanzen auf die Spur.
Nun ist sicherlich nicht wenig geschrieben worden „über den Bund des Musikers, der auch Philosoph war, mit dem Philosophen, der auch ein Musiker war“. Kerstin Decker begründet ihre Schrift folgendermaßen: „Nuancierungen sind Grundsatzentscheidungen“. Aufgebaut wie eine Wagnerische Oper (die Kapitel werden mit Vorspiel sowie Erster bis Dritter Aufzug überschrieben) dringt die Autorin tief ins Innere ihrer Protagonisten vor. Sie pflanzt sich in das Gehirn, die Seele dieser beiden Genialen ein und erzählt dem Leser aus deren Blickwinkel, deren Perspektive. Denn „kein Mensch“, so Decker, „existiert in der Faktizität seines äußeren Lebens.“ Sie baut „Gedankenschiffe“ und umsegelt ganz im Sinne ihrer Protagonisten deren geistige Welt. Gerade das macht die vorliegende Abhandlung so unnachahmlich. Ein weiterer, sehr angenehmer und hervorhebenswerter Punkt dürfte das Herunterstoßen der vermeintlichen Heroen von ihren Sockeln sein. Decker „gestattet“ ihren Hauptpersonen schon bei ihrer ersten Begegnung ihre Vergangenheit mitzubringen, „ja, ganze unzerhauene gordische Lebensknoten, statt nur ihre großen, inzwischen vielleicht zu großen Namen.“ Gedanken und Gefühlen der Personen, die nicht auf tatsächliche Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sie sich behutsam an, wägt ab, variiert. Nie zwingt sie ihre Interpretation auf, sondern erzeugt eine Art literarischen Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren kann. Entstanden ist eine sehr intime, einfühlsame, auch wenn keineswegs leicht zu lesende und aufzufassende, aber dadurch herausfordernde und unglaublich bereichernde Biografie auf höchstem Niveau. Geschichtliche, philosophische und biografische Vorkenntnisse zu Wagner und Nietzsche sind keineswegs von Nachteil, könnte man sich sonst allzu schnell im Strudel der überschlagenden Ereignisse und philosophischen Denkweisen verlieren oder verheddern.
So endet letztendlich das sich durch Tiefe und Substanz auszeichnende Buch mit dem kürzesten gemeinsamen Nachruf auf Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, den der Jüngere im letzten Herbst seines bewussten Lebens verfasst: „Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder zusammenbringen…“ Kerstin Decker trägt daran gleichfalls einen Anteil.

Kerstin Decker
Nietzsche und Wagner
Geschichte einer Hassliebe
Propyläen Verlag, Berlin (Oktober 2012)
416 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3549074247
ISBN-13: 978-3549074244
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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