Christentum, säkulare Vernunft und Interkulturalität. Was die Welt zusammenbringt

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

mir wurde vom Veranstalter des Symposions aufgetragen, den grundlegenden Zusammenhang von Religion, Kultur und Wahrheit im Rückgriff auf die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI zu erläutern. Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber zumeist von Josef Ratzinger sprechen, auch wenn das mit Bezug auf seine Ämter in der Kirche nicht immer ganz korrekt ist.
„Wieder neu zusammenbringen, was nicht mehr fraglos zusammenhält“, das scheint mir am ehesten die Intention aller politischen Reden Josef Ratzingers zu treffen. Ich werde zur Verdeutlichung des Gemeinten zunächst einige grundlegende Aspekte von Ratzingers Gesprächsbeitrag zum Dialog mit Jürgen Habermas in Erinnerung rufen und erst danach auf die Regensburger Rede zu sprechen kommen. Mir scheint, daß die Tragweite dieser Rede durch die publizistische und auch kirchenpolitische Kontroverse um das Verhältnis von Religion und Gewalt im Islam verkürzt worden ist. Diesen zweifellos wichtigen Aspekt der Rede wird Frau Dr. Daga Portillo in ihrem Korreferat erläutern und über das vom Papst Gesagte hinaus vertiefen. Ich lese die politischen Reden Josef Ratzingers auch als Beitrag zur Diskussion um Sinn und Aufgabe des Politischen heute. Auch darum komme ich zu Beginn auf den Dialog mit Jürgen Habermas zu sprechen als eine noch eher allgemeine Hinführung zu dem, was den Papst in seiner Regensburger Rede bewegt und was seine Beurteilung der Weltlage unterscheidet von den in Europa und den USA allzu selbstverständlich geteilten Ansichten des politischen Liberalismus auf der einen und allen Spielarten des politischen und religiösen Fundamentalismus auf der anderen Seite. Es wird sich, so hoffe ich, im Rückblick zeigen, daß die Regensburger Rede die Fortsetzung und konkrete Entfaltung der Problemlage ist, die in Ratzingers Dialogbeitrag grundgelegt ist. Soviel einleitend zu Weg und Umweg meines Versuchs, die Aktualität und die Beziehung der im Titel genannten Begriffe Christentum, säkulare Vernunft und Interkulturalität zu erläutern.

Mein erster Punkt gehört noch eher in die Kategorie „Umweg“ und beinhaltet einige mir wichtig scheinende Vorüberlegungen. Er lautet:

„Multikulturalität als Interkulturalität: notwendige Klärungen“ (I.)

Ich beginne mit einem Zitat aus einer Berliner Rede von Josef Ratzinger, die er am 28. November 2004 in der Bayerischen Landesvertretung, auf heimischem Boden sozusagen, gehalten hat, im selben Jahr, in welchem am 19. Januar in der Münchner Katholischen Akademie der Dialog mit Jürgen Habermas stattgefunden hat. Das Zitat lautet so:
„Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, daß eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück.“ (154)[1]
Mit wenigen Worten ist hier in synchroner wie diachroner Perspektive die Lage des heutigen Europa skizziert. Es ist im Zwiespalt mit seiner abendländischen Herkunft und den gegenwärtigen Kulturen der Welt auf einen Sonderweg geraten, der ihm zum Verhängnis werden kann. Diese latente Selbstgefährdung Europas ist allerdings nur für den sichtbar, der sich in die Perspektive der anderen Kulturen versetzt. Ihr Einfluß auf Europa und ihre Präsenz inmitten von Europa nimmt kontinuierlich zu und damit auch die Entfremdung zwischen Europa und den anderen großen Kulturen der Welt. Ratzingers These ist nun, daß nicht die Verteidigung und der weltweite Export absoluter Profanität die Zukunft Europas sichern kann, sondern allein die Rückkehr auf einen gemeinsamen Weg. Die weltweite Hegemonie westlicher Rationalität beruht zwar auf der wissenschaftlich – technologischen Überlegenheit des Westens. Aber sie ist auch darauf beschränkt und wird die anderen Kulturen in ihrem Kern nicht verändern können, wohl aber schwächen und möglicherwiese auch zerstören. Solange diese Kulturen noch lebendig sind, kann das Faktum der Multikulturalität als ein Anstoß für Europa begriffen werden, das Spektrum der Vernunft und des Vernünftigen zu weiten und nicht auf den Bereich säkularer Rationalität zu verkürzen.
Nun steht zu vermuten, daß die These von der „Multikulturalität“ als Weckruf aus absoluter Profanität und Gottesferne nicht von jedermann geteilt wird, insbesondere nicht im politischen Berlin. Um nicht aneinander vorbei zu reden, sollte aber geklärt sein, was sinnvollerweise unter „Multikulturalität“ zu verstehen ist. Wie Josef Ratzinger den Begriff versteht, zeigt sich daran, daß er an Stelle von „Multikulturalität“ ebensogut von „Interkulturalität“ sprechen kann. Denn das „Multi“ in der Verbindung mit „kulturalität“ steht ja nicht einfachhin nur für die Vielheit von Kulturen; Es verweist mit der Vielheit auch auf die Differenzen, die zwischen den verschiedenen Kulturen bestehen. „Multikulturalität“ bedeutet „Interkulturalität“ und bezeichnet im eigentlichen Sinn das Verhältnis der Kulturen zueinander, den Zwischenraum der Kulturen, und nur sekundär den Binnenraum einer einzelnen Kultur. Warum das so ist, kann man sich leicht klarmachen. Eine Kultur kann nicht in derselben Weise aus unterschiedlichen Kulturen bestehen, wie die Gesamtheit aller Kulturen aus verschiedenen Kulturen besteht. Diese Gesamtheit ist nicht selbst eine Kultur, auch wenn die wechselseitige Anerkennung verschiedener Kulturen bereits selbst eine Kulturleistung ist. Multikulturalität setzt die Identität von Kulturen voraus, die bereit und fähig sind, in den Dialog mit anderen Kulturen einzutreten. Dabei hat die Begegnung zwischen den Kulturen oftmals eine Kultur verändert und zur Entstehung einer neuen Kultur geführt.
Die europäische Kultur ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel dafür. Ihre Identität ist durch eine Symbiose von griechischer Philosophie, christlichem Glauben und römischem Recht geprägt. Es ist zweifellos richtig: Heute ist Europa der Lebensraum für eine Vielzahl von Menschen aus anderen Kulturen. Als bloßer Lebensraum jedoch wäre Europa nur ein geographischer Begriff für einen Siedlungsraum von unterschiedlichen Kulturen. Die in Brüssel aber auch hier in Berlin des Öfteren zu hörende Rede von der Multikulturalität Europas scheint genau das zu meinen: die Reduktion Europas auf seine Außengrenzen unter Verzicht auf eine substantielle kulturelle Identität. An ihrer Stelle soll eine europäische Rechtsordnung genügen, welche den in Europa lebenden Bürgern aus unterschiedlichen Kulturen die Sicherung des inneren Friedens und die wirtschaftliche Entwicklung garantiert. Es ist diese geschichtsvergessene und allein auf Zukunft gerichtete Sicht, die weithin das Denken der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas bestimmt.
Josef Ratzinger und Jürgen Habermas glauben nicht, daß die Zukunft Europas allein durch eine Stärkung der europäischen Institutionen zu sichern ist. Es stimmt zwar und ist auch gut so, daß die demokratischen Staaten Europas im Rahmen verfassungsrechtlicher Grundordnungen ihren Bürgern die Freiheit lassen, nach eigenen Vorstellungen zu leben. Kirchliche Ordnung und staatliche Macht sind im säkularen Staat getrennt. Der Staat verhält sich gegenüber den religiösen Überzeugungen seiner Bürger neutral, was aber nicht heißt gleichgültig. Im Gegenteil, der Staat muß ein Interesse daran haben, daß seine Bürger ungehindert nach ihren Überzeugungen leben können, solange diese nicht in Konflikt geraten mit der Grundordnung des Staates, die das friedliche Zusammenleben aller Bürger garantiert.
Ich sagte bereits, daß Josef Ratzinger und Jürgen Habermas gleichermaßen skeptisch sind gegenüber einer technokratischen Sicht Europas, die uns glauben machen will, daß Freiheit, Gleichheit und Solidarität als Grundprinzipien demokratischer Gesellschaften nur eines rechtlichen Rahmens bedürfen und sich dann gewissermaßen von allein erhalten. Die Naivität und Gefährlichkeit einer solchen Auffassung wird aus unterschiedlichen Perspektiven mit guten Gründen kritisiert. Ratzingers Bedenken sind hier grundsätzlicher und in einem umfassenderen Bezugsrahmen formuliert als etwa die Kritik vonseiten des politischen Liberalismus, wie er von John Rawls vertreten worden ist. Allerdings sollte zu denken geben, daß auch John Rawls seine Version des politischen Liberalismus aus keinem anderen Grund entwickelt hat, weil er Zweifel daran hatte, ob sich die Anerkennung des gesellschaftlichen Pluralismus in den westlichen Demokratien auf Dauer ohne zusätzliche Verständigung über ein von allen geteiltes Vernunftinteresse sichern läßt. Sein Vorschlag, die aus Gründen der Friedenssicherung notwendige Trennung von Recht und Moral und den politischen Vorrang der Idee des Rechts vor der Idee des Guten durch einen „übergreifenden Konsens“ zu überbrücken, hat jedoch durch die Unbestimmtheit der Kriterien „Vernünftigkeit“ und „Universalität“ Schwierigkeiten eigener Art. Zudem ist die Idee eines vernünftigen, von allen grundlegenden Differenzen abstrahierenden Konsenses in ihrer Reichweite auf Demokratien beschränkt, die nach Wegen suchen, den Modus vivendi des weltanschaulichen Pluralismus zu stabilisieren. Nicht ohne Grund ist darum gegen die Idee des „übergreifenden Konsenses“ eingewandt worden, daß die friedensgefährdenden gesellschaftlichen Konflikte ihre Wurzel gerade in den umfassenden Überzeugungen haben, die nicht in den umgreifenden Konsens eingehen dürfen. Was wäre dann die Alternative?

Die Weitung des Blicks im Bedenken der Interkulturalität (II.)

Um die Frage nach der Bedeutung umfassender Überzeugungen von der Wahrheit, vom Guten und Gerechten, geht es auch im Dialog zwischen Habermas und Ratzinger. Angesichts der Gefahr einer „entgleisenden Moderne“ plädiert Habermas anders als Rawls gerade nicht für die Ausklammerung, sondern für eine Übersetzung auch und gerade der religiösen Überzeugungen in „eine öffentlich zugängliche Sprache“. (H 36)[2] „Eine liberale politische Kultur“ müsse, so Habermas abschließend, „sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, daß sie sich an den Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentliche Sprache zu übersetzen.“ (H 36) Das geht nun eindeutig über das hinaus, was der klassische Liberalismus für möglich und notwendig hält.
Die faktische Transformation des politischen Liberalismus beim späten Habermas, die schon in seiner Friedenspreis-Rede nach dem 11. September 2001 zu erkennen war, darf wohl als unverdächtiger Indikator für den Ernst einer Krise gelten, die sich für Josef Ratzinger allerdings nicht auf das Verhältnis zwischen religiösen und säkularen Bürgern im demokratischen Staat beschränkt. Für ihn reicht die Herausforderung weiter. Die von Habermas geforderte Öffnung für die Überzeugungen religiöser Bürger genügt nicht angesichts der „Ausbildung einer Weltgesellschaft“ und angesichts der immer weiter anwachsenden „Macht des Machens und Zerstörens“. (13) Sie genügt deshalb nicht, weil grundlegende „ethische Gewißheiten weithin zerbrochen“ (14) sind und die Welt zunehmend der Macht der instrumentellen Vernunft und der neuen Macht des religiösen Terrors (16ff.) ausgeliefert ist. Der Verlust grundlegender Gewißheiten im Bereich des Rechts (Stichwort „Naturrecht“) zeigt sich auf beunruhigende Weise in dem Faktum, daß es „innerhalb der kulturellen Räume“, sei es im Westen, im islamischen Kulturraum und darüber hinaus im Bereich der anderen Weltkulturen, „keine Einheitlichkeit“ mehr gibt. Im kulturellen Vergleich gilt auch für die „beiden großen Kulturen des Westens“ – die des christlichen Glaubens wie die der säkularen Rationalität – trotz ihrer weltumspannenden Präsenz eine „faktische Nichtuniversalität“ (23). Dieser Widerspruch zwischen weltweiter Verbreitung und faktischer Nichtuniversalität betrifft die säkulare Rationalität allerdings in besonderer Weise. Aus der Perspektive der Multikulturalität erscheint die säkulare Rationalität als ein „Sonderweg“, den keine der religiösen Kulturen, einschließlich der christlichen Kultur, aus Überzeugung mitgehen kann. Der säkularen positivistischen Rationalität fehlt der Bezug auf die „Grundfragen des Menschseins“ und in dieser fundamentalen Hinsicht jegliche Evidenz. Ein so elementar Mangel ist nicht durch „Übersetzung“ in die Sprache religiöser Kulturen zu überwinden, sondern allein durch eine Korrektur.
Eine solche Korrektur hält Josef Ratzinger für dringend geboten. Die Gefährdung des Friedens in der Welt geht nicht bloß auf das Konto der Pathologien im Bereich der Religion, sondern ebenso auf das Konto der Pathologien im Bereich der Vernunft. Auch wenn er dies im Gespräch mit Habermas nicht ausdrücklich sagt, darf man doch auf dem Hintergrund seiner Ausführungen einen Zusammenhang zwischen islamistischer Gewalt und westlicher Hybris unterstellen, – einen Circulus vitiosus, der aus der kolonialen Entfremdung der islamischen Kultur sein zerstörerisches Potential bezieht. Dieser Teufelskreis kann nur durchbrochen werden in dem Maße, wie die westliche Vernunft die Begrenztheit säkularer Rationalität anzuerkennen bereit ist. Eine realistischeChance für einen solchen Durchbruch sieht Ratzinger schon angelegt in der nicht mehr umkehrbaren Situation der „Multikulturaltät und ihre(r) Folgen“ (22f.). Es kommt jetzt für die säkulare Vernunft darauf an, „Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen (zu) lernen.“ (24) Eine solche Weitung der Vernunft steht nicht im Widerspruch zum Wesen der Vernunft. Josef Pieper hat einmal diese in der Vernunft selbst gegebene Hörbereitschaft und damit die Möglichkeit eines christlichen Philosophierens gegen Martin Heidegger und Karl Jaspers durch Vergleich analoger Erkenntnisquellen verteidigt, der sich leicht in die Sprache von Josef Ratzinger übersetzen läßt. So wenig Hören und Sehen einander ausschließen (Pieper), sowenig steht eine hörbereite Vernunft im Widerspruch zum Augenlicht einer fragenden Vernunft (Ratzinger). Und wie verschiedene Kulturen auf Grund fundamentaler Gemeinsamkeiten zum gegenseitigen Vorteil durch eine „polyphone Korrelation“ (25) verbunden sein können, so auch die beiden westlichen Kulturen des christlichen Glaubens und der säkularen Vernunft. „Wahre Korrelationalität“ verlangt von beiden, sich „der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube (zu) öffnen, so daß ein universaler Prozeß der Reinigung wachsen kann“, worin „die von allen Menschen irgendwie geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können.“ (25) Ratzinger schließt seinen Dialogbeitrag mit der Hoffnung, daß so „wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält.“ (25) Was aber dieser neu zu entdeckenden Korrelationalität bei näherer Betrachtung im Weg steht, darum soll es im nächsten Punkt gehen. Und damit sind wir dann endlich bei der Regensburger Rede angelangt .Sie verbindet eine kritische Sicht mit einer positiven Sicht der Dinge oder anders gesagt: sie verbindet notwendige Kritik mit begründeter Hoffnung. Ich beginne mit der Kritik.

Säkulare Vernunft und christliche Religion: Denken am Scheideweg (III.)

Der Gedanke einer überlebensnotwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube ist auch die Mitte der Regensburger Rede. Die Dringlichkeit einer lebendigen Symbiose von Glaube und Vernunft, die Ratzinger im Dialog mit Habermas in allgemeiner Weise zum Thema gemacht hat, wird in der Regensburger Rede konkretisiert. Schon der Aufbau der Rede zeigt, daß dieses Thema nach zwei Seiten hin kritisch behandelt wird: mit Bezug auf den Islam und mit Bezug auf das Christentum. Von beiden Seiten her ist diese lebens- und überlebenswichtige Symbiose bedroht: durch den Gottesbegriff in der islamischen Welt und durch den Vernunftbegriff in der christlichen Welt. Die unliebsamen Konsequenzen für das Zusammenleben der Kulturen zeigen sich zwar besonders deutlich am Bedrohungspotential einer in sich geschlossenen Religion. Insofern war die Fokussierung der öffentlichen Debatte auf die angebliche oder wirkliche Vernunftfeindlichkeit des Islam zwar verständlich, aber doch einseitig. Wer noch unbefangen zuhören und lesen kann, sollte eigentlich bemerkt haben, daß es in dieser Rede zum ganz überwiegenden Teil nicht um den Islam, sondern um die Erblast eines geschlossenen Vernunftbegriffs geht, die nicht minder folgenreich und gefährlich ist. Wie zentral dem Papst dieser Punkt ist, geht schon daraus hervor, daß er mitten in die historische Darstellung von „drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms“ (185), zwischen die zweite und die dritte Welle, ein systematischen Exkurs über die neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft einfügt, worin er deren pathologische Entstellung und Gefährlichkeit mit wünschenswerter Deutlichkeit analysiert (187 f.).
Doch ist die Entfaltung des Bedrohungsszenariums für ihn kein Selbstzweck, sondern nur der Hintergrund für eine positive Botschaft. Es braucht gewissermaßen ein Bühnenbild, dessen Düsternis als Kontrastfolie hilfreich ist, um beim Hörer (und Leser) der Rede die Sehnsucht nach Helle und die Freude am Licht zu wecken. Als Theologe und Papst ist Josef Ratzinger kein Unglücksprophet. Es gibt für ihn Grund zur Hoffnung, weil es in jedem Menschen die Sehnsucht nach Wahrheit gibt, und es gibt Hoffnung, solange der christliche Glaube diese Sehnsucht nährt. Das zeigt schon der Hinweis zu Beginn seiner Rede auf den Sinn der Universität. Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, den Zusammenhang von Sehnsucht nach Wahrheit und Erkenntnis von Wahrheit zu bewahren und wo nötig zu erneuern. Die universitäre Interdisziplinarität ist so auch ein Modell von Interkulturalität. Spezialisierungen in unterschiedlichen Fächerkulturen stehen hier nicht im Gegensatz zum Ganzen der Vernunft, – jedenfalls sollte es so sein, damit die Universität ihrer Aufgabe weiterhin gerecht werden kann. „Nach der Vernunft des Glaubens“ zu fragen, gehört „notwendig zum Ganzen der Universitas scientarum“. (180) Um dieses Ganze der Vernunft nicht aus dem Blick zu verlieren, darf es keine Frage- und Denkverbote geben. Dies gilt für die „Vernunft des Glaubens“ nicht weniger wie für die Vernunft der „säkularen Vernunft“. Ist ein Gottesbegriff vernunftgemäß, der uns dazu verpflichtet, Gott jenseits der Vernunft zu denken, also Gott gerade nicht zu denken, sondern blind zu gehorchen? (Den Bezug auf die Islamkritik lasse ich hier weg, weil wir das Nötige dazu im Korreferat von Frau Dr. Daga gesagt wird.) Ist ein Vernunftbegriff vernunftgemäß, der die wissenschaftliche Gewißheit naturwissenschaftlicher Erklärungen zum alleinigen Maßstab auch des Wissens um die „menschlichen Dinge“ macht und der zum Ausschluß der Gottesfrage führt? Aber nicht nur das: Ist die Vernunft überhaupt noch Vernunft, wenn philosophische Vernunftkritik dazu führt, dem Menschen nicht bloß das Jenseits, sondern auch das Diesseits zu entziehen? Kant habe, so wäre mit Hellmuth Plessner zu ergänzen, Luthers Lehre vom „verborgenen Jenseits“ durch eine Lehre vom „verborgenen Diesseits“ ergänzt und so endgültig alle Fenster verschlossen, die einen Blick über uns hinaus ins Freie eröffnen. Die unvermeidliche Folge solcher „Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft“ ist die Verlegung der „eigentlich menschlichen Fragen (…) nach unserem Woher und Wohin“ „ins (bloß) Subjektive“ (188). Politisch gewendet bedeutet das, daß „Ethos und Religion“ mit der Wahrheit „auch ihre gemeinschaftsbildende Kraft“ verlieren und der „Beliebigkeit“ verfallen. Die Konsequenzen nicht bloß für Europa, sondern für die Menschheit insgesamt liegen für den Papst auf der Hand: „Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft verengt wird.“ (188) Ich füge hier ein Zitat ein, worin Ratzinger am Schluß seines Hamburger Vortrags über „Glaube zwischen Vernunft und Gefühl“ (1998) die notwendige Öffnung der Vernunft mit bildhafter Anschaulichkeit beschwört:
„Das Wesentliche ist eben dies: Der Mensch muß aufsteigen lernen, er muß weit werden. Er muss am Fenster stehen. Er muß Ausschau halten. Und dann kann das Licht Gottes ihn anrühren, er kann ihn erkennen und von ihm her den wahren Über-Blick gewinnen. Die Fixierung auf die Erde darf nicht so ausschließlich werden, daß wir des Aufstiegs, der aufrechten Haltung unfähig werden. Die großen Menschen, die im geduldigen Aufsteigen und in den erlittenen Reinigungen ihres Lebens Sehende und darum Wegweiser der Jahrhunderte geworden sind, gehen uns auch heute an. Sie zeigen uns, wie auch in der Nacht Licht zu finden ist und wie wir den aus den Abgründen der menschlichen Existenz aufsteigenden Drohungen begegnen und der Zukunft als Hoffende entgegengehen können.“ (383)
Wie schon erwähnt, beendete Josef Ratzinger den Dialog mit Habermas durch den Hinweis, daß beide westlichen Kulturen, der christliche Glaube wie die westliche Rationalität, sich für die „Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen“ (25) müssen. Auch der christliche Glaube? Diese sehr grundsätzliche aber unbestimmte Forderung erfährt in der Regensburger Rede die nötige Konkretisierung und zwar im Hinblick auf die christliche Theologie. Man konnte sich schon fragen, weshalb Ratzinger am Ende des Gesprächs mit Habermas auch vom christlichen Glauben verlangt, daß er sich öffnen soll. Was für ein Glaube oder wessen Glaube ist denn da gemeint? Die Regensburger Rede bietet auch hier eine wichtige Verständnishilfe durch die Konkretisierung dieses an den christlichen Glauben gerichteten Postulats. Nicht bloß im Islam, schon in der christlichen Theologie des Mittelalters ist eine Spur angelegt, die das christliche Gottesverständnis aus seiner Verbindung mit der Weite der Vernunft herausführt, und so der Verengung durch Aufklärung und/ oder der Beliebigkeit im kulturellen Wandel ausliefert hat. Die schon genannten „drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms“ (185) sind ein Beleg dafür. Gemeinsam ist allen dreien die Verwerfung der Synthese von Griechischem und Christlichem, zuerst mit dem Anliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts verknüpft, dann weitergeführt in der liberalen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, und schließlich in unserer Zeit wirksam durch die Forderung, „angesichts der Begegnung mit der Vielheit der Kulturen“ hinter „die Synthese mit dem Griechentum“ als „erste Inkulturation des Christlichen (…) zurückzugehen auf die einfache Botschaft des Neuen Testaments, um sie in ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren.“ (188)
Diese latente Abkehr vom Logos im Inneren der christlichen Kultur unter dem Deckmantel der Enthellenisierung ist gemeint, wenn Ratzinger von einer notwendigen Öffnung auch des christlichen Glaubens spricht. Dieser Glaube steht seit dem Mittelalter an einem „Scheideweg im Verständnis Gottes“ (182), dessen volle Tragweite erst dann zutage tritt, wenn der säkularen westlichen Rationalität das Korrektiv abhanden gekommen ist. Ein solches unverzichtbares Korrektiv ist der christliche Gottesglaube. Seine Mitte ist der Logos als Wesen Gottes und als Urbild der Schöpfung. Und damit bin ich bei meinem letzten Punkt, dem positiven Aspekt der Regensburger Rede, beide der Frage, warum dennoch Grund zur Hoffnung besteht.

Christentum, Wahrheit und Interkulturalität. Was die Welt zusammenbringt (IV.).

In seiner Kritik an den Versuchen der Enthellenisierung weist der Papst darauf hin, daß die theologische Rede vom Logos als dem Wesen Gottes keineswegs bloß eine nachträgliche Hellenisierung der biblischen Botschaft ist, sondern den Kern dieser Botschaft ausmacht. Es besteht ein „tiefer Einklang zwischen biblischem Glauben und griechischem Denken (182), weshalb ihre Begegnung für ihn „kein Zufall“ (82) war. Wer diesen Zusammenhang zerreißen will und herabsetzt zu einer uns heute nichts mehr angehenden „ersten Inkulturation“, ignoriert nicht bloß den im Prozeß Selbstoffenbarung Gottes mitgegebenen Vernunftanspruch; er mißversteht auch den inneren Antrieb der griechischen Philosophie, der ebenso auf die Überschreitung kultureller und religiöser Grenzen und Verkürzungen des Logos gerichtet war. Der Ausdruck „Philo-sophia“, was ja soviel heißt wie „liebende Suche nach der Weisheit“, gibt Zeugnis von dieser Sehnsucht nach der ganzen Wahrheit, wie auch der gleichfalls philosophische Terminus „Theo-logia“ das wahre Denken über Gott von den zufälligen Bedingtheiten und Grenzen allzu menschlichen Gottdenkens befreien soll. Deshalb ist es irreführend, von „erster Inkulturation“ des Christentums zu sprechen, an deren Stelle heute weitere Inkulturationen treten sollten. Die philosophische Suche nach Wahrheit war auf die biblische Entfaltung des Logos angelegt und ihre Begegnung nicht nur ein „religionsgeschichtlich, sondern weltgeschichtlich entscheidender Vorgang“. (185) Die Weitung der Vernunft und die Freiheit von kultureller Enge beruhen darauf und sind nicht bloß die Grundlage der europäischen Kultur, sondern eröffnen auch die Möglichkeit für einen heute so dringend notwendigen interkulturellen Dialog.
Was im Kontext der Regensburger Rede an notwendiger Begründung fehlt, fasse ich jetzt im Rückgriff auf andere Texte Josef Ratzingers unter zwei Leitfragen zusammen als

Versuch einer Konklusion: Hoffnung und Auftrag

I.Was berechtigt uns zu der Hoffnung, daß solche „Begegnung der Kulturen“ auch weiterhin möglich ist?
Aus Ratzingers Antwort auf diese Frage hebe ich fünf Aspekte hervor, auch als Thesen für eine spätere Diskussion:
(1) Es gibt Grund zur Hoffnung, „weil der Mensch in allen Verschiedenheiten seiner Geschichte und seiner Gemeinschaftsbildungen ein einziger ist, ein und dasselbe Wesen. Dieses eine Wesen Mensch wird aber in der Tiefe seiner Existenz von der Wahrheit selber berührt.“ (268)
(2)Die „universale Tendenz großer Kulturen“ hat ihr Fundament in der ‚Universalität des menschlichen Geistes, dessen Grundbedürfnisse in den verschiedenen Kulturen identisch sind.‘“ (396)
(3)„Die Gemeinsamkeiten des Christentums mit den alten Kulturen der Menschheit sind größer als die Gemeinsamkeiten mit der relativistisch-rationalistischen Welt.“ (280)
(4)„Der neuzeitlichen Menschheit ist eingeredet worden, daß die Moralen der Menschheit einander radikal widersprechen wie die Religionen auch. (…) Die Wirklichkeit ist, daß die Grundintuition über den moralischen Charakter des Seins selbst und über den notwendigen Zusammenklang des menschlichen Wesens mit der Botschaft der Natur allen großen Kulturen gemeinsam ist.“ (152)
(5) „Nicht der Relativismus wird bestätigt, sondern die Einheit des Menschseins und sein gemeinsames Angerührtsein von einer Wahrheit, die größer ist als wir.“ (280)
II. Wieso ist das Christentum in besonderer Weise beauftragt und befähigt, der Verständigung unter den Kulturen zu dienen?
Hier sind es vier Aspekte, die sich an die vorherigen anschließen lassen.
(1) Im Herrschaftsbereich technischer Rationalität verbindet allein das Christentum die Kulturen im gemeinsamen Wissen um „die Verwiesenheit des Menschen auf Gott“, im Wissen „um Sünde, Buße und Vergebung, im Wissen „um die sittlichen Grundordnungen, wie sie im Dekalog Gestalt gefunden haben.“ (280)
(2) Die „erste Aufgabe“ heute gerade für Christen ist es, „die schlafende Vernunft zu wecken. Die Antwort des Glaubens ist nicht ob der Schärfe der Vernunft unverständlich geworden, sondern ob ihrer Müdigkeit.“ (304 f.) „Der Glaube ist ein Auftrag an die Vernunft, sie selbst zu sein. Was er ihr verbietet, ist allein die Unvernunft, die sich weigert, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.“ (319)
(3)„Die gläubigen Christen sollten sich als eine (…) schöpferische Minderheit verstehen (Toynbee) und dazu beitragen, daß Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient.“ (154)
Was aber ist dieses Beste, welches als Erbe und Auftrag dem Christentum anvertraut ist?
(4)„In principio erat verbum“. „Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für eine Priorität der Vernunft und des Vernünftigen.“ (360) Der „Primat des Logos und (der) Primat der Liebe“ bedingen sich wechselseitig; weil „Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen in eins gehen.“ (362)

[1] Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Benedikt XVI., Die Ökologie des Menschen. Die großen reden des Papstes, München 2012.
[2] Ziffern mit H beziehen sich auf: Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005.

Berthold Wald (geb. 1952): Studium der Philosophie, Germanistik und Katholischen Theologie in Freiburg/Brsg. und Münster; Promotion und Habilitation in Philosophie an der Universität Münster.
Seit 2002 Ordentlicher Professor für Systematische Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn. Veröffentlichungen zum Personbegriff, zu Grundlegungsfragen im Bereich von Ethik und Rechtsphilosophie und zum Werk von Josef Pieper.

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Berthold Wald (geb. 1952): Studium der Philosophie, Germanistik und Katholischen Theologie in Freiburg/Brsg. und Münster; Promotion und Habilitation in Philosophie an der Universität Münster.Seit 2002 Ordentlicher Professor für Systematische Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn. Veröffentlichungen zum Personbegriff, zu Grundlegungsfragen im Bereich von Ethik und Rechtsphilosophie und zum Werk von Josef Pieper.

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