Besuch in der „Perle des Zschopautals“Das Zuchthaus Waldheim damals und heute

Von Coburg aus braucht man drei Stunden auf der Autobahn! Da es seit fast 25 Jahren keine zeitraubenden Grenzkontrollen mehr gibt, mit denen der blühende „Sozialismus“ vor den schädlichen Einflüssen der einreisenden „Kapitalisten“ geschützt werden sollte, erreicht man in einer Stunde das Erfurter Kreuz und in einer weiteren das bei Hermsdorf. Hinter Gera verlässt man Thüringen, die Städtenamen Zwickau, Glauchau, Chemnitz zeigen an, dass man durch Sachsen fährt. Bei Hohenstein-Ernstthal erinnert man sich daran, dass hier der Volksschriftsteller Karl May (1842-1912) als armer Leute Kind geboren wurde, der vier Jahre seines Lebens, von 1870 bis 1874, im Zuchthaus Waldheim verbracht hat. Dann kommt schon die Ausfahrt Hainichen, auch Waldheim und Mittweida, der Geburtsort meines Freundes Erich Loest (1926-2013), stehen auf dem Schild, und jetzt beginnt mein Herz schneller zu schlagen, denn im Zuchthaus habe ich, als Student aus Mainz, die Jahre 1962/64 verbracht, bevor ich am 25. August 1964 freigekauft wurde.
Hat man die Autobahn verlassen, fährt man noch 16 Kilometer über die Dörfer, deren Namen man von Gesprächen im Zuchthaus kennt, die man aber nie betreten hat. Von Süden kommend erreicht man eine Anhöhe und sieht hin- unter in dieses liebliche Tal, wo die 1198 erstmals erwähnte Kleinstadt an der Zschopau liegt, einem Nebenfluss der Freiberger Mulde. An dieser Stelle muss im Sommer 1850 das Pferdegespann angehalten haben, das von der Festung Königstein im Erzgebirge abgefahren war, um den wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilten Dresdner Musikdirektor August Röckel (1814-1876) im Zuchthaus abzuliefern. In seinen Erinnerungen „Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim“ (1863) schrieb der politische Häftling, der einer der führenden Männer des Dresdner Mai-Aufstandes von 1849 gegen König Friedrich August (1797-1854) gewesen war und der nun von zwei Unteroffizieren und einem Gerichtsdiener durch die Nacht nach Waldheim gefahren wurde: „Wir hatten endlich einen Hügel erstiegen, vor dem sich ein wunderbar schönes Flusstal ausbreitete, in dessen Mitte, von Höhen umschlossen, ein Städtchen lag…Fünf Minuten später hielt der Wagen vor dem Tor des Zuchthauses. Der Gerichtsdiener schellte; das Tor wurde geöffnet und schloss sich wieder hinter mir – auf mehr denn elf Jahre.“
Wenn man als Besucher des Jahres 2014 von der Anhöhe hinab fährt in die Stadt, hat man das ehemalige Zuchthaus vor sich, die Anstaltskirche, von der „Volkspolizei“ seit 1969 als Turnhalle benutzt, und die 1719 gepflanzte Linde liegen im Blickfeld. Unter diesem Baum habe ich am 21. August 1964 gestanden, als wir freigekauften Häftlinge von der „Staatssicherheit“ nach Berlin-Hohenschönhausen überführt wurden. Jetzt aber, ein halbes Jahrhundert später, klingle ich an der Pforte, werde eingelassen und freundlich begrüßt und dann zwei Stunden durch die Anstalt geführt, die mir heute, mit meinen Erfahrungen im „sozialistischen Strafvollzug“ 1962/64 , wie ein „Luxushotel“ vorkommt.
Vor 50 Jahren wurden wir täglich um 4.00 Uhr von einer schrillen Klingel geweckt, um 5.30 Uhr war Arbeitsbeginn. Bevor das Frühstück eingenommen wurde, musste „gekübelt“ werden, denn es gab weder eine Toilette mit Wasserspülung noch überhaupt fließendes Wasser. Um 5.15 Uhr traten wir vor der „Bremen“, wie das Neue Zellenhaus (1886 errichtet) hieß, an und wurden noch einmal durchgezählt. Gearbeitet wurde bis 15.30 Uhr, dann folgten Waschen, Umkleiden, Freistunde: Wir marschierten in Fünferreihen bei striktem Redeverbot über den Zuchthaushof. Wenn wir um 15.30 Uhr auf Zelle kamen, war die Kaltverpflegung schon ausgegeben, und die SED-Zeitung „Neues Deutschland“ lag zur politischen Weiterbildung vor der Zellentür. Dann hatte man drei Stunden “Feierabend“, man konnte lesen, miteinander reden, durchs Gitterfenster schauen, ab 19.00 Uhr war, auch im Sommer, Nachtruhe! So ging das jahraus und jahrein. Wenn ich aus meinem Zellenfenster sah, blickte ich auf einen Turm mit der Wetterfahne, die trug die Jahreszahl 1779. Da war Goethe, der Waldheim 1790 und 1813 besuchte, 30 Jahre alt und das Zuchthaus schon 63.
Heute dagegen hat jedes Bundesland seine eigene Strafvollzugsordnung, die den Gefangenen Freiheiten zugesteht, von denen wir im SED-Staat nur träumen konnten. In der Einzelzelle, die für uns Besucher in der „Bremen“ aufgeschlossen wurde, gab es Radio und Fernseher, jede Menge Bücher und Lebensmittel. Wenn der Gefangene allein sein möchte, kann er seine Zelle von innen verschließen, nur die Justizbeamten können sie dann von außen öffnen. Auf dem Flur gibt es einen Telefonapparat, von dem aus bis zu sieben Nummern, die vorher angegeben werden müssen, angewählt werden können. In einer Küche kann der Gefangene, wenn er mag, sich selbst Mahlzeiten zubereiten oder Kuchen backen. Es ist ihm erlaubt, seine Zivilkleidung zu tragen, und auch die Besuchszeit ist viel großzügiger geregelt als zu unserer Zeit. Wir lebten damals im DDR-Zuchthaus und sollten mit allen Mitteln „umerzogen“ werden!
Während wir vor 50 Jahren 1700 Gefangene waren und zu viert auf einer Zelle von 9,2 Quadratmetern (das stand so an der Zellentür!) hausten, sind es jetzt nur noch 360 Gefangene, also weniger als ein Viertel, die von 195 Bediensteten betreut werden, darunter auch zwölf Sozialpädagogen, zehn Psychologen und eine Anstaltsärztin. Die „Freistunde“ in militärischer Formation ist abgeschafft, die Gefangenen schlendern durch Grünanlagen, sitzen auf Bänken oder spielen Schach mit kindsgroßen Figuren. Es gibt auch eine Seniorenabteilung für lebenslängliche Häftlinge, die nicht mehr arbeiten können oder wollen. So ist 2013 der älteste Gefangene 85 Jahre alt geworden.
Im „Museum zur Geschichte des sächsischen Strafvollzugs“, das im Torgebäude unterbracht ist und 1997 eröffnet wurde, kann man sich darüber informieren, wie human der Strafvollzug im Lauf der Geschichte geworden ist. Dabei wollte uns die „Volkspolizei“ vor einem halben Jahrhundert schon einreden, wir lebten im „humanen Strafvollzug“ des Sozialismus, auch wenn geprügelt, gehungert und harte Arreststrafen ausgesprochen wurden. Gegenüber August Röckels Erfahrungen, wie er sie in seinem Buch schildert, stimmte das vielleicht. Schließlich wurden wir nicht mehr, wie noch 1850, bei der Einlieferung „zum Willkomm ausgepeitscht“. Aber die sozialistischen Gefängniswärter verfügten über andere Methoden der „Erziehung“, und so wurden in den DDR-Zuchthäusern von Bützow-Dreibergen über Brandenburg-Görden bis Torgau und Hoheneck Jahr für Jahr Hunderte von „Staatsfeinden“ erzeugt. Und das war gut so!

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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