„Das Leben ist eine Wuseltasche mit mehr Falten als der Blättermagen des größten Ochsen.“

„Die ganze Kunst lebt von Übertreibung, wie alle Lebewesen vom Sauerstoff leben!“ Übertreibung steht für den Überschuss an Kraft und Leidenschaft eines Künstlers. Damit stellt selbiger zugleich die Seele der Menschheit dar. Einen eindrucksvollen Beleg von der Richtigkeit dieser Aussage bietet der auf deutsch schreibende mongolische Autor Galsan Tschinag mit seinem neuesten Roman. Schon allein der Titel seines jüngsten Werkes klingt alles andere als herkömmlich. Aber auch der Inhalt weist Zuspitzungen und Superlativen auf. Indirekt könnte man die Handlung gar als Hyperbel bezeichnen, obwohl der Großteil durchaus im Glaubwürdigen angesiedelt ist. Allerdings bleibt für hiesige Verhältnisse aller Wahrscheinlichkeit einiges schwer nachvollziehbar. Doch schon bei ein wenig Vertrautheit mit der Lebensweise des zentral- bzw. südostasiatischen Raums erscheint der Großteil der Handlung ganz und gar nicht übersteigert.
Schon der Einstieg in den Plot gestaltet sich alles andere als gewöhnlich. Da steht eine junge, „blütenzarte, zerbrechliche Frau, (…) deren ganze Erscheinung an ein hauchdünnes, schneeweißes Porzellanstück denken ließ, das eher zum Glasschrank in der guten Stube angeberischer Städter gehörte und als Alltagsgeschirr ganz und gar ungeeignet war“, völlig hilflos mit einem herzerweichend blökenden Hammel im Treppenhaus eines Hochhauses der mongolischen Hauptstadt. Als Retter in der Not erweist sich ein alter Mann, „mit schütterem, grauen Haar und zerfurcht schwitzigem Gesicht, das alle Erschöpfung der Welt auszustrahlen schien.“ Während die junge Frau Hilfe zu holen verspricht, nimmt er sich der „gepeinigten Kreatur mit den harngelben Augen“ an und bugsiert den Hammel in seine kleine Paterre-Wohnung. Als er dort stundenlang weiterblökt, schlachtet, zerlegt und portioniert ihn kurzerhand säuberlich und verspeist ihn nach Rückkehr der Dame genüsslich mit jener. Danach erzählt man sich gegenseitig seine Lebens- und Leidensgeschichten, die mancherlei Überraschungen bereithalten. Letztendlich kumulieren die Freuden und Kümmernisse der zwei, auf den ersten Blick so ungleichen, bei näherem Kennenlernen doch ziemlich ähnlichen, hoffenden und wartenden, gequälten Seelen in einem versöhnenden Finale Grande.
Das hört sich nach einem sauber gestrickten Plot an, der vielleicht recht gut ins Genre Parodie und Slapstick passen würde. Doch damit würde man dem Werk des mongolischen Autors keinesfalls gerecht werden. Denn wie er das Schicksal von Nüüdül und Dsajaa darstellt, ist erstaunlich, lesenswert und literarisch überaus bereichernd. In blumigen, zuweilen recht interessant-kreativen Wortgestaden erzählt Galsan Tschinag anhand der Schicksale seiner beiden Protagonisten zugleich die zuweilen recht erschreckende Entwicklung seines Heimatlandes. Er berichtet von Korruption und Gewalt, von der Kluft zwischen arm und reich, vom Höhenhimmel, der Steppenerde, viel Windsturm, Nomaden und Traditionen versus Stadt, Moderne und seelenloser Spaßgesellschaft. Glück und Nichtglück stehen genauso im Wechselspiel wie Schicksal und Höllenparadies. Das Buch liest sich zuweilen wie ein feinmaschiger Tagtraum, in dem man Bildern begegnet, „die lebensecht wirken und einander rasch ablösen“, zuweilen jedoch einen ungeheuren Windsturm über die gequälten Seelenlandschaften der beiden Hauptdarsteller brausen lassen. Zudem gelingt es Tschinag beim Verknüpfen der Schicksalsfäden mittels literarischer Stilmittel eine unglaubliche Intensität an beinahe realen Gerüchen und Düften zu erzeugen.
Fazit: „Schon der erste Satz packt und nötigt die Augen schon zum nächsten, der sie samt anderen Sinnen auf den wiederum nächsten zieht. So ergeht es ihm mit jedem weiteren Satz, und schnell ist er von einem Sog erfasst, der seinen Geist immer tiefer hineinführt in eine andere, lichterlohe Welt und ihm immer neue, immer köstlichere Nahrung vorsetzt.“ So wie Nüüdül das Lesen eines Buches mit dem Titel „Die Erde ist eine Weinende, am Ende ihrer Kräfte“ empfindet, gestaltet sich gleichermaßen auch DIE Neuentdeckung des Herbstes 2013 des mongolischen Autors. Ein ungewöhnliches, ein außergewöhnliches Buch, ein „Zauberlicht der Wortkunst“ aus einem Land, das durch seine geografischen wie politischen Gegensätze geprägt ist. Ganz nach dem Motto: „Das Leben ist eine Wuseltasche mit mehr Falten als der Blättermagen des größten Ochsen.“ Doch: „Lebt euren Träumen nach, holt sie ein und macht sie zu euren Dienern!“ Aber: „Euer Hauptberuf sei der Mensch!“
Ein unterhaltsam-nachdenkliches Buch voll Lebensweisheit und Wärme.

Galsan Tschinag
Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind
Unionsverlag (August 2013)
400 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3293004652
ISBN-13: 978-3293004658
Preis: 22,95 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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