Der Denkmalstreit von Döbeln Ein Rentner korrigiert die Geschichte

Die einstige Kreisstadt Döbeln liegt südöstlich von Leipzig an der Autobahn nach Dresden. Hier wurde 1934 der DDR-Schriftsteller Rainer Kirsch geboren, und 1969 veröffentlichte der DDR-Dramatiker Helmut Baierl (1926-2005) sein Theaterstück „Johanna von Döbeln“, das den Schwierigkeiten des sozialistischen Alltags im VEB „Rotes Banner“ gewidmet war. Und da gibt es noch ein Gymnasium, das 1869, als es noch das Königreich Sachsen gab, aber noch kein deutsches Kaiserreich, gegründet wurde. Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947, wurde die Schule nach dem in Kamenz/0berlausitz geborenen Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) benannt, dem Verfasser des Dramas „Nathan der Weise“ (1779). Da lag die nationalsozialistische Phase 1933/45 der Stadt schon in der Vergangenheit und die realsozialistische, es war noch Besatzungszeit, hatte noch nicht begonnen.
Wenn man heute in der Schulchronik blättert, dann erfährt man, dass am 21. Mai 1938 die beiden letzten jüdischen Schüler, das Geschwisterpaar Karl (16) und Ruth (14) Glasberg, vom weiteren Unterricht ausgeschlossen wurden, und das nur deshalb, weil sie Juden waren; der ältere Bruder Max (18) hatte die Schule bereits 1936 verlassen. Beide Brüder wurden 1940 und 1943 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Auschwitz umgebracht, die Schwester konnte nach Schweden entkommen. Acht Jahre nach Kriegsende, unter dem Datum 13. Mai 1953, kann man in der Schulchronik lesen, dass vier Schüler, die der „Jungen Gemeinde“ angehörten, der Schule verwiesen wurden. Die Verfolgung junger Christen, die sich öffentlich zu ihrem Glauben bekannten, setzte schon 1949 mit der DDR-Gründung ein und dauerte bis zum Mauerfall 1989. Damals wurden Hunderte von Schülern vom Unterricht ausgeschlossen und nicht zum Abitur zugelassen, die Wortführer, darunter auch einige Jugendpfarrer, wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Man erinnert sich noch an den Leipziger Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler (1915-2003), der 1957 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Hätte Wilfried Bretschneider weitere Beweise für DDR-Unrecht finden wollen, so hätte er nur ins 1716 gegründete Zuchthaus Waldheim, das nur zwölf Kilometer von Döbeln entfernt liegt, zu fahren brauchen, wo von 1947 bis 1989 Tausende politischer Gefangener eingesperrt waren, die bei demokratischer Rechtsprechung niemals verurteilt worden wären!
Zwischen der Verfolgung aus rassischen und der aus ideologischen Gründen besteht ein gradueller, aber kein prinzipieller Unterschied! Es ging immer um die Verfolgung und Ausschaltung von Minderheiten, die unerwünscht waren und deshalb mit allen Mitteln bekämpft wurden. Um nach dem Sturz der SED-Diktatur demokratisches Geschichtsbewusstsein zu dokumentieren, ließ die Schulleitung 1994, zum 125. Jahrestag der Schulgründung, am Eingang des Gymnasiums eine halbhohe, nach innen gewölbte Mauer errichten, die die Inschrift trag: „Zum Gedenken an die Lehrer und Schüler, die Opfer von Krieg, Unrecht und Willkür wurden. 1933-1989“. Das aber gefiel dem Rentner Wilfried Bretschneider, heute 69 Jahre alt, aus dem Dorf Queckhain bei Leisnig überhaupt nicht, als er in der „Döbelner Allgemeinen Zeitung“ davon las. Er stand vor dem Denkmal , sah die Inschrift und empörte sich. Die Deutsche Demokratische Republik nämlich, in der er 40 Jahre gelebt hatte, war für ihn keineswegs ein Staat, in dem „Unrecht und Willkür“ geherrscht hätten. Also schrieb er, in seinem Ehrgefühl verletzt, Protestbriefe und Eingaben an die Schulleitung, den Traditions- und Förderverein des Gymnasiums, die Stadtverwaltung und die Lokalpresse, worauf er aber niemals eine Antwort enthielt. Der nächste Schritt war, dass er wetterfeste Plakate entwarf, mit denen er sich bei Sonnenschein, Regen und Schnee in die Döbelner Innenstadt stellte. Mit der Überschrift „Ihr lieben Döbelner, so nicht!“ wollte er seine sächsischen Landsleute zur Empörung aufrufen, die aber ausblieb! Das freilich konnte Wilfried Bretschneider nicht entmutigen, jetzt schritt er mit dem Filzstift zur Tat, er strich am Denkmal vor dem Lessing-Gymnasium die Jahreszahl „1989“ durch und schrieb dahinter „bis heute“, denn er ist überzeugt, dass das wiedervereinigte Deutschland ein Unrechtsstaat ist.
Das hatte Folgen: Dreimal ließen Schulleitung und Förderverein die alte Inschrift erneuern, dann wollte sie das Geld dafür nicht mehr aufbringen und zeigte Wilfried Bretschneider an. Für strafbar, nicht einmal für geschichtsverfälschend wollte der streitbare Rentner, der als Autoschlosser vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, seine Aktion mit dem Filzstift aber keineswegs eingeschätzt wissen. Strafbar, so argumentierte er, wäre doch eher „diese Gleichsetzung…und nicht deren Korrektur“. Die Richterin am Amtsgericht Döbeln in der Rosa-Luxemburg-Straße 16 sah das freilich ganz anders und verurteilte ihn „wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung“ zu einer Geldstrafe von 1000 Euro, wozu noch die Kosten für die Säuberung des Denkmals und für ein psychiatrisches Gutachten kamen, so dass er im März 2010 an die Justizkasse Döbeln hätte 3424.32 Euro überweisen müssen. Da er diese Summe mit seiner niedrigen Rente nie hätte aufbringen können, andernfalls hätte eine Haftstrafe gedroht, wurde für ihn eine öffentliche Sammlung veranstaltet, die von der einstigen SED-Zeitung „Neues Deutschland“ in Berlin arrangiert wurde. Jetzt erst, nachdem das alte Kampf- und Parteiblatt eingegriffen hatte, wurde eine überregionale Kampagne daraus, die damit endete, dass der Förderverein des Gymnasiums vor wenigen Tagen beschloss, die Jahreszahlen „1933-1989“ überhaupt wegzulassen. Bei weiterer Kritik am Denkmal könnte man in der Enthistorisierung der Schulgeschichte noch einen Schritt weitergehen und auch noch die Begriffe „Krieg, Unrecht und Willkür“ streichen, sodass dann nur noch irgendwelcher Opfer gedacht würde.

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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