Heute schon Leichtgeschrieben? oder: Immer fällt mir, wenn ich an Goethe denke, China ein!

„Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff.“ (J. M. Coetzee: Schande)

„Als Konrad Lang zurück kam stand alles in Flammen außer dem Holz im Kamin“ (Martin Suter: Small World)

„Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.“ (James Joyce: Ulysses)

Der erste Satz eines Buches ist der Türöffner. Er bittet den Leser hinein, der sich dann umschauend entscheidet, ob er auch die anderen Räume noch sehen möchte. Er gibt den Ton vor, „er lässt ihn anklingen, ja in einem ersten Satz klingt alles an, was der Roman in seinem Lauf vor uns entfaltet, eine Ahnung der Dinge, die da kommen werden, eine Art Vorausecho der ganzen Geschichte (…) der erste Satz ist wie eine Stimmgabel, wenn sie angeschlagen wird, schwingt darin die ganze Sinfonie…“, weiß auch der „Dämon des Feuilletons“, Literaturkritiker Schwamm, in John von Düffels Roman. Manchmal allerdings reichen auch nur drei Wörter: „Nennt mich Ismael“ aus Herman Melvilles „Moby Dick“ beispielsweise oder: „Ilsebill salzte nach“ aus dem „Butt“ von Günter Grass.
„Goethe ruft an.“ So beginnt der deutsche Autor sein jüngstes Werk. Eigentlich heißt Goethe gar nicht Goethe. Und Schwamm, der ausschaut wie Sir Peter Ustinov, auch nicht Schwamm. Assistentin Eckermann wiederum hat nicht im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Privatsekretär des Herrn Geheimrates und Hedwig Courts-Maler ist gleichfalls schon lange tot. Doch halt: Die sitzt gemeinsam mit Schwamm und dem Ehepaar Rottenmeier höchst lebendig und erotisch aufgeladen unter dem weißen Sonnensegel im Garten eines noblen Wellnesshotels in der Lausitz und grübelt darüber nach, was einen guten von einem schlechten ersten Satz unterscheidet. Nur wo ist der Meister, der strahlende Zauberer, der alljährlich zu diesem exklusiven Event lädt?
Sein oben besagter Romaneinstiegsanruf galt Düffels Ich-Erzähler, einem erfolglosen Zweifler, der bereits seit Jahren „an etwas Größerem“ sitzt und in etwa das genaue literarische Pendant zum großen Prinzipal darstellt. Denn Goethe muss kurzfristig nach China, bevor sie ihn dort plagiatieren. Daher bittet er seinen Freund, für ihn einzuspringen und die Herrschaften in der Lausitz in einem gut bezahlten, fünftägigen Sommerkurs im Leichtschreiben zu unterweisen. Keine große Sache, verspricht ihm Goethe, „wenig Arbeit, viel Freizeit, ein Ferienjob, mehr Ferien als Job, dafür lege er die Hand ins Feuer.“ Sozusagen „Wassergespräche nach Kaminfeuerart“. Doch Düffels Erzähler ist halt nicht Goethe und zu allem Übel hat er auch noch das Allerheiligste unauffindbar verlegt: Die Mappe des großen Dichters und Denkers mit seiner Geheimformel für flüssiges Leicht-, ja Leuchtschreiben. Hoffnungslos überfordert nimmt das Fiasko in Johann Wolfgangs „Leichtschreiben-Farm“ seinen Lauf.
Mit „Goethe ruft an“ ist John von Düffel erneut ein wunderbar leichter, beinahe überbordend komischer Roman mit großem Charme und gleichzeitig tiefgehenden Selbstreflektionen seiner Helden gelungen, der keineswegs als Leichtspeise vernascht werden sollte. Mit Wortwitz und Wortkunst überzeugt der Autor auf durchgängig hohem literarischem Niveau den Leser von den Schwierigkeiten auf der Jagd nach dem Geheimnis des Erfolges. Zum immer vorhandenen treibenden Spannungsbogen flicht er immer wieder überraschende Richtungswechsel ein. Die zahlreichen humorvollen Passagen des Buches täuschen dennoch nicht über den äußerst scharfsinnigen Blick in das Innere seiner Protagonisten hinweg. Düffel taucht – im Gegensatz zu seinen Kursteilnehmern einschließlich deren Behelfsleiters – beinahe schwereleicht in den Fluss des Schreibens ein, um „sich von ihm tragen und treiben zu lassen“. Es erzeugt eine Sphäre, in der alles fließt: die Sprache, der Gedanke, das Wort. Ein Buch übers Leicht-, Entfernungs- und Tiefschreiben auf der einen Seite und den menschlichen Ehrgeiz auf der anderen („Alle wollen wir etwas sein, das wir nicht sind, (…) wir sind Teil einer gigantischen Begabungsverzerrung, Begabungsverbiegung“).

Fazit: John von Düffel hat mit „Goethe ruft an“ ein feingeistiges und äußerst humorvolles Buch vorgelegt, das ihm nicht nur wegen seines fulminanten ersten Satzes den Titel eines großartigen Schriftstellers einbringt. Denn wie stellt einer seiner Protagonisten so zutreffend fest: „Man muss eben schon blitzen und donnern können, bevor man sich ans Gewittern wagt…“ Düffel jedenfalls macht Göttervater Zeus alle Ehre. Ein wunderbares, zuweilen recht poetisches Lesevergnügen, dass vielleicht gar das Zeug dazu hat, die ein oder andere Schreibblockade zu brechen, sich von allem zuweilen erdrückenden Großen frei zu machen und auszurufen: „Immer fällt mir, wenn ich an Goethe denke….“ Halt! Falsch! Noch einmal: „Immer fällt mir, wenn ich an China denke, die Lausitz ein!“

John von Düffel
Goethe ruft an
Deutscher Taschenbuch Verlag (Mai 2013)
320 Seiten, Tachenbuch
ISBN-10: 3423142189
ISBN-13: 978-3423142182
Preis: 9,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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