Toleranz bei G. E. Lessing – Ein Problemfall

SALVE, Sei gegrüßt: Foto: Stefan Groß

Kurzfassung:

 

Lessings Nathan der Weise nimmt in der Geschichte des Toleranzbegriffs einen herausgehobenen Platz ein. Die in dem Drama enthaltene Botschaft der viel gerühmten Ringparabel bildet einen festen Bestandteil der deutschen Aufklärung und erfreut sich bis heute einer breiten Rezeption.

Vor dem Hintergrund der Beschreibung des zeitgeschichtlichen Entstehungs-zusammenhangs werden die inhaltlichen Grundzüge des Werkes mit der Ringparabel als Zentrum dargelegt. Auf diesem Fundament wird das Lessingsche Toleranzideal einer kritischen Betrachtung unterzogen.

 

Gliederung:

 

  1. Entstehungsgeschichte des Werkes
  2. Inhalt des gesamten Dramas
  3. Ringparabel als Mitte der dramatischen Dichtung
  4. Lessings Religionsverständnis
  5. Vernunft und Sittlichkeit
  6. Menschsein und Wirklichkeit
  7. Wahrheitsanspruch und Respekt

 

Text:

 

  1. Entstehungsgeschichte des Werkes

 

Wer klären möchte, was Toleranz ist, und deshalb die Geschichte der Interpretation dieses Begriffes betrachtet, wird unweigerlich auf Gotthold Ephraim Lessing (1729 ̶ 1781) stoßen.

Der Schriftsteller und Kritiker entwickelte in seinem 1779 erschienenen Drama Nathan der Weise (1) eine Toleranzbotschaft, die zum Kernbestand der deutschen Aufklärung zählt und bis in unsere Zeit Bewunderung erregt, obgleich der von Martin Luther (1483 ̶ 1546) im Jahre 1541 eingeführte Begriff Toleranz (2) im Stück selbst nicht auftaucht. Zeitgeschichtlich stellt das Werk, auf das ich mich hier in der Frage der Toleranz bei Lessing wegen seiner wirkungsgeschichtlichen Bedeutsamkeit beschränke, eine Auseinandersetzung mit der protestantischen Orthodoxie auf der Ebene des Theaters dar. Lessing, Bibliothekar in der Herzog August Bibliothek im braunschweigischen Wolfenbüttel, hatte zuvor Partien aus der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (3) herausgegeben. Deren Verfasser, der Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus (1694 ̶ 1768) hatte die Bibel und die dogmatischen Grundsätze des Christentums einer rationalistischen Kritik unterzogen. Lessings publizistischer Wagemut rief damals heftige Kritik hervor, insbesondere des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717 − 1786) und löste den berühmten theologisch-politischen „Fragmen-tenstreit“ aus. Nach einem Machtwort des Herzogs Karl I. wechselte Lessing auf die Bühne, um dort mit dem Nathan seine aufklärerischen Gedanken gegen das Goeze-Lager zu verbreiten − mithin ein aus der Not geborenes Unterfangen, dem eine gewisse Spannung zwischen der ausgeprägt logischen Argumentation und subtilen Reflexion des Weisen auf der einen und der Bühneneignung auf der anderen Seite innewohnt.

 

  1. Inhalt des gesamten Dramas

 

Die inhaltlichen Grundzüge des 1783 in Berlin uraufgeführten dramatischen Gedichtes sind rasch erzählt. In Jerusalem treffen die drei Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam zur Zeit der Kreuzzüge aufeinander. Nathan, ein reicher Jude, muss die Ermordung seiner Frau und der sieben Söhne durch Christen verkraften. Seine anfänglichen Rachegelüste zügelt er, indem er auf die Stimme der Vernunft hört. Er nimmt Recha, ein christlich getauftes Waisenkind aus einer deutsch-arabischen Mischehe, als Tochter an und erzieht sie im Geiste der Aufklärung. Ein junger Tempelherr, der Recha bei einem Brand in Nathans Haus vor dem Feuertod rettet, verliebt sich später in sie. Eigentlich will der muslimische Sultan Saladin diesen hinrichten lassen. Da der junge Mann, Mitglied eines christlichen Ritterordens, ihn aber beim Anblick an seinen toten Bruder Assad erinnert, lässt er Gnade walten. Nathan macht den Tempelherrn, der von einem Juden keinen Dank für seine Rettungstat annehmen will, mit vorurteilsfreien Gedanken vertraut. Inzwischen stellt der Sultan, ein Moslem, dem Juden die heikle Frage nach der wahren Religion, welche dieser mit der weithin bekannten Ringparabel beantwortet. Tief bewegt begehrt Saladin die Freundschaft Nathans. Der Liebe des Tempelherrn steht Nathan zurückhaltend gegenüber, da er eine verwandtschaftliche Bindung zwischen Recha und dem jungen Mann vermutet. Diese Ahnung bestätigt sich im Verlauf des Geschehens durch einen frommen Klosterbruder, der eigentlich im Auftrag des Patriarchen von Jerusalem Nathan ausspionieren soll. So kommt es zu einem guten Ende: Die Beteiligten erkennen, dass sie − bis auf Nathan ̶ durch Familienbande vereint sind; der Tempelherr hat sich als Neffe, Sohn des Bruders Saladins und seiner Schwester Sittah, erwiesen. Beglückt umarmen sie einander.

 

  1. Ringparabel als Mitte der dramatischen Dichtung

 

Das, was die Personen trennt, verschwindet in den Gesten „allerseitiger Umarmungen“. Darauf sind die einzelnen Handlungsstränge des Dramas und das umsichtige, der Humanität verpflichtete Wirken des weisen Nathan angelegt. Die Essenz des Ganzen gipfelt in der Toleranzidee der Ringparabel, die nicht von ungefähr exakt in der Mitte des Werkes angesiedelt, also als Herzstück der Dichtung zu betrachten ist − um die in ihr märchenhaft zur Sprache gebrachte Botschaft aufgeklärter Vernunft bewegt sich das gesamte dramatische Gedicht.

Lessing übernahm die Geschichte von den drei Ringen aus dem Decamerone (4) des Renaissancedichters Giovanni Boccaccio (1313−1375), jenem Novellenzyklus, der sich in der Gliederung an der Divina Commedia (5) Dantes (1265 −1321) ausrichtet ̶ den hundert Geschichten entsprechen die hundert Gesänge der Göttlichen Komödie. Im Brief an den Bruder Karl vom 11. August 1778 verweist Lessing auf die Quelle seines Gleichnisses. (6) Während Boccaccio die Frage nach dem echten Ring gänzlich offen lässt, gelangt Lessing zu einer raffinierten Antwort.

Interessant ist, dass sich das Motiv der drei Ringe auch in den Gesta Romanorum findet, und zwar gleich zweimal. Diese anonyme mittelalterliche Sammlung von Geschichten, Sagen und Legenden (13./14. Jahrhundert) ist in lateinischer Sprache verfasst und reicht bis in die römische Kaiserzeit zurück. In beiden Erzählungen von den drei Ringen kommt es zu einem klaren Ergebnis: Die Fähigkeit, Kranke zu heilen, besitzt nur ein einziger Ring. (7)

Nun zur Fassung bei Lessing: Ein Ring, erzählt Nathan, „von unschätzbarem Wert“, der „die geheime Kraft“ besaß, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“, wird in einer langen Tradition stets vom Vater eines Fürstenhauses demjenigen seiner Söhne hinterlassen, „der ihm der liebste sei“. Doch einmal geschieht es, dass ein Vater sich nicht entscheiden kann, wem er den besonderen Ring vererben soll; denn er liebte seine drei Söhne gleichermaßen. So lässt er zwei Duplikate herstellen, die dem Original derart gleichen, dass die Ringe nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Sterbende gibt jedem Sohn „ins besondre“ einen Ring. Wie zu erwarten, kommt es bald zum Streit darüber, wer den rechten Ring besitzt und die Fürstenrolle einnehmen darf. Ein kluger Richter gibt den Streithähnen den Rat: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf!“

Nathan hatte zwischenzeitlich dem auf Antwort drängenden Sultan bedeutet, dass die Ringe für Christentum, Judentum und Islam stünden. So wie der echte Ring „nicht erweislich“ sei, verhalte es sich auch mit der wahren Religion.

 

  1. Lessings Religionsverständnis

 

Wie ist nun Lessings Haltung gegenüber den Weltreligionen zu beurteilen? Rhetorisch fragt Nathan Saladin, ob sich denn die Religionen nicht ausnahmslos „auf Geschichte“ gründeten. Die Einführung der Kategorie der Geschichtlichkeit in die bis heute ungelöste Frage des friedlichen Umgangs der Religionen untereinander ist gewiss ein Verdienst Lessings. Denn die historischen Entstehungsbedingungen und Ausprägungen religiöser Weltanschauungen dürfen nicht unberücksichtigt bleiben, will man zu einem fundierten Urteil über die Weltreligionen gelangen.

Es bleibt aber zu fragen, ob sich religiöse Systeme darin erschöpfen, geschichtlich bedingt zu sein. Von außen betrachtet, mag das so sein. Genau hier liegt meines Erachtens die Krux des Lessingschen Religionsbegriffs und der auf ihm fußenden Botschaft der Toleranz. Der Autor des Nathan lässt das jeweilige Selbstverständnis der Religionen außer acht, indem er behauptet, mitmenschliche Liebe sei der Kern von Judentum, Christentum und Islam. Die Ineinssetzung von Humanität und Glauben raubt der Religion die Dimension des Transzendenten, das dem Menschen entzogen ist, von dem her sittliches Verhalten allererst bestimmbar wird und dem sich der Gläubige verpflichtet weiß.

Es handelt sich bei den drei Weltreligionen, von innen gesehen, um sogenannte Offenbarungsreligionen, d.h. aus ihrer Sicht steht nicht der Mensch im Mittelpunkt, sondern Gott. Es handelt sich nicht um anthropozentrische, sondern um theozentrische Gebilde. Jahwe, der christliche Gott und Allah teilen sich über Mittler auf je eigene Weise den Menschen mit und enthüllen ihren Willen. Hierin nebensächliches Beiwerk zu sehen, verbietet intellektuelle Redlichkeit. Es ist durchaus ein Unterschied, ob beispielsweise Gott trinitarisch, wie im Christentum, oder gerade in Abgrenzung davon strikt monotheistisch als Einziger gedacht wird, wie im Islam. Und ob Gott im neutestamentlichen Sinne von seinem Wesen her Liebe ist, die sich in der Inkarnation und im Kreuzestod äußert, oder nach jüdischem Glauben Menschen über Gesetze leitet, ist mitnichten das Gleiche. Solche theologischen Besonderheiten können verschie-denartige Verhaltensweisen mit sich bringen.

Will nun ein Anhänger einer bestimmten Religion einen Andersgläubigen verstehen, darf er sich nicht nur auf die historischen Fakten, die das Kontingente, Geschichtlich-Endliche der fremden Glaubenshaltung anzeigen, beziehen, sondern muss darüber hinaus das Gottesbild und seine Implikationen berücksichtigen. Erst dann vermag er zu entscheiden, ob und inwieweit er ihn tolerieren kann.

Wäre, wie Lessing meint, Humanität das Wesen jeder Religion, würden sich die Glaubenssysteme in ihrem Kern nicht unterscheiden. Im Toleranzskript begegnen sich aber nicht Menschen einer einheitlichen Gruppe. Toleranz unter Gleichen stellt keine moralische Leistung dar. Die Frage der Toleranz − gleichgültig, ob im religiösen oder nichtreligiösen Sinne ̶ stellt sich erst, wenn der andere in seinem identitätsstiftenden Anderssein begegnet und verstanden wird. Dann kann begründet entschieden werden, ob und bis zu welcher Grenze Akzeptanz angebracht ist. Eine grenzenlose Toleranz im Sinne einer Menschheitsverbrüderung verstellt den Blick für die Unvermeidbarkeit von Streit und für die Notwendigkeit, der toleranten Einstellung Schranken zu setzen. Toleranz ohne Begrenzung würde sich selbst ad absurdum führen. Deshalb forderte der Philosoph Herbert Marcuse (1898 −1979), Toleranz müsse „ein parteiliches Ziel, ein subversiver, befreiender Begriff“, eine „ebensolche Praxis“ und „intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo“ werden. (8)

In diesem Sinne wandte sich auch die Theologin und Sozialkritikerin Dorothee Sölle (1929 ̶ 2003) gegen eine „skeptische Toleranz“, die „wesentlich passiv, zulassend und duldend“ sei. Diese sei Ausdruck „heruntergekommener, minimalisierter Toleranz“ und bleibe folgenlos. Sie forderte eine „echte kämpferische Toleranz“. (9)

Auf den Zusammenhang von Toleranz und Bereitschaft zur Grenzziehung hat in unserer Zeit der Philosoph und Politikwissenschaftler Rainer Forst (geboren 1964) in seiner Habilitationsschrift Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (10) überzeugend aufmerksam gemacht.

 

  1. Vernunft und Sittlichkeit

 

Vor dem geistigen Auge Lessings entsteht eine Vernunftreligion, in der Glaube und Ethos letztlich ein und dasselbe sind. Die auf Sittlichkeit reduzierte Religiosität nährt sich der Aufklärung zufolge aus dem, was vernünftig ist. Die aufklärerische Emphase, mit der die Vernunft auf den Thron gehoben wird, kann nur aus der geistesgeschichtlichen Abgrenzung von vorhergehender allseitiger Bevormundung durch kirchliche und weltliche Autoritäten verstanden werden. Es ist der Überschwang derer, die sich und anderen, mit den 1783 veröffentlichten Worten des Philosophen Immanuel Kant (1724 ̶ 1804) gesprochen, Wege aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ weisen, beseelt vom Drang, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. (11) Der allen Menschen zugemutete Vernunftgebrauch und jedweder Anspruch, im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein, schließen nach Ansicht der Aufklärer einander aus.

Vernunft ist aber, das muss eingewendet werden, ein abstraktes und schillerndes Phänomen. Sie ist keineswegs zwingend mit sittlichem Verhalten und Humanität verbunden. Was als vernünftig gelten soll, kann unterschiedlich bestimmt werden. Selbst Amoralität lässt sich rational rechtfertigen.

So stellt Donatus Prinz von Hohenzollern (geboren 1961), Mitglied des Verbandes der Historiker Deutschlands, den Zusammenhang von Vernunft und Verbrechen, von Rationalität und Nationalsozialismus heraus. In seiner unter dem Pseudonym Markus von Hänsel-Hohenhausen veröffentlichten Studie Hitler und die Aufklärung. Der philosophische Ort des Dritten Reiches (12) legt er dar, dass „eine Ethik, die vom räsonierenden Individuum abhängt, die Autonomie des Individuums nicht begrenzen (kann), das nicht nur berechtigt ist zu tun, was vernünftig ist, sondern auch dazu verpflichtet“. Hieraus, schreibt der Verfasser weiter, „leiteten die Schergen des Dritten Reiches ihren Anspruch ab, richtig, d.h. ethisch zu handeln“. Der promovierte Theologe spricht von einem „Subjektivismus der Aufklärung“, einer „Diktatur der unbegrenzten Vernunft, die jedes Verbrechen zu rechtfertigen im Stande ist“, und kritisiert „die aufklärerische Selbstermächtigung des Menschen“. In der Logik der Nationalsozialisten gelte: „Nichts widerstreitet der Vernunft des Subjekts, auch nicht die Ethik, die der Zweckmäßigkeit des Verstandes untertan ist.“

So wird deutlich, dass eine auf Vernunft basierende Religion, die Lessing vorschwebte, ein höchst fragiles Gebilde darstellt.

 

  1. Menschsein und Wirklichkeit

 

Die Intention Lessings, den Schlüssel zur Versöhnung zwischen den Religionen zu liefern, ist zunächst gewiss begrüßenswert. Bis in die Gegenwart hinein belegen die scharfen religiösen Konflikte in der Welt, wie explosiv das Gemisch aus Unkenntnis der gegnerischen Religion, Verblendung, Hass, Rachegelüsten und Machtstreben ist. Lessings Nathan zügelt seine natürlichen Empfindungen des heftigen Zornes auf die mörderischen Christen und der bitteren Anklage gegen Gott. Er lässt sich von der Vernunft leiten und öffnet sich fremden Anschauungen ̶ nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Das Menschsein gilt ihm mehr als der Umstand, Glied einer Religionsgemeinschaft zu sein. Zum Tempelherrn sagt er: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen!“ In der Gestalt des Weisen verkörpert sich für Lessing der Sieg der aufklärerischen Vernunft über die Triebe und die entschlossene Haltung der Mitmenschlichkeit und Toleranz gegenüber anderen.

Wie aber ist es um den Realitätsbezug der im gesamten Drama und vor allem in dem Konzentrat der Ringparabel enthaltenen Botschaft bestellt? Lessing bietet zweifellos ein faszinierendes Ideal. Das erklärt auch die Vielzahl von Inszenierungen, die trotz der eingangs angesprochenen Kluft zwischen den scharfsinnigen Argumenten Nathans, die sentenzenartig und in feierlicher Tonlage gestaltet sind, und der relativen Handlungsarmut des Stückes immer wieder vorgenommen werden.

Gleichwohl vermag das utopische Bild in der Wirklichkeit keineswegs zum Frieden zwischen den Religionen beizutragen. Nicht zufällig gilt Nathan als der Weise. Weisheit mag im persönlichen Leben erstrebenswert sein − im öffentlichen Raum ist sie keine tragfähige Kategorie. Blicken wir in die Zeit der Kreuzzüge, in der das Drama spielt. Haben die Christen, die aus ihrem Glauben heraus Nathans Frau und dessen Söhne ermordeten, daran gezweifelt, dass sie Menschen töten? Und gesetzt den Fall, die jüdischen Opfer hätten sich zuvor auf ihr Menschsein berufen und infolgedessen erhofft und gefleht, toleriert und also verschont zu werden, wären die Täter dann zur Besinnung gekommen? Wohl kaum!

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Lessing-Preises im Jahre 1997 erinnert Jan Philipp Reemtsma (geboren 1952) an die inzwischen beinahe sechzig Jahre zurückliegende kritische Auseinandersetzung Hannah Arendts (1906 − 1975) mit dem Standpunkt Lessings. Die Philosophin hielt die Dominanz der Kategorie des Menschseins in der Frage des Verhältnisses verschiedenartiger Anschauungen untereinander „für ein groteskes und gefährliches Ausweichen vor der Wirklichkeit“. (13) Mitmenschliche Nähe und Wärme seien private Haltungen, die in der politischen Sphäre nichts Positives bewirkten. Jan Philipp Reemtsma greift diesen Gedanken auf und entwickelt ihn weiter. Indem Nathan auf Rache verzichte und über die Bluttat an seiner Familie den Mantel des Schweigens hülle, gelangten die Morde nicht in das Licht der Öffentlichkeit. Dorthin aber gehörten sie, um beurteilt und rechtmäßig verurteilt werden zu können.

 

  1. Wahrheitsanspruch und Respekt

 

Lessings Vernunft spricht, wie es im Werk heißt, „mit sanfter Stimm“, und der Richter der Ringparabel rät zur „Sanftmut“. Denken wir einen Moment lang an die sogenannten Heiligen Kriege: Kann man ihnen mit einer derartigen Einstellung sinnvoll begegnen? Oder besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass Gräueltaten im Namen der Religion durch die Sanftheit der einen Seite geradezu provoziert werden?

Toleranz im Sinne Lessings ist keineswegs ein Allheilmittel im Umgang der Religionen miteinander. Toleranz braucht verstehende Nähe zum Gegenüber. Der viel gepriesene Lessingsche Toleranzbegriff enthält, da er gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner, das Menschsein, zum Maßstab erhebt, eine seltsame Distanz, die sich um das Anderssein der Menschen gar nicht müht. Die „Weisheit“ Nathans bleibt blass und verkündet das menschen- und weltferne Idyll einer globalen Familie. Ein solches Bild steht jeglicher Gewalt in der historischen Wirklichkeit ohnmächtig gegenüber.

An die Stelle eines mit Kategorien des Privaten ̶ Güte, Milde, Herzlichkeit − bestimmten muss ein öffentlich wirksamer Toleranzbegriff treten. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Haltung religiöser Menschen zueinander, um die es vordergründig in Lessings Nathan geht. Statt der Nivellierung divergierender Standpunkte, die deren Selbstverständnis nicht gerecht wird und den Keim für gewaltsame Konflikte in sich trägt, ist immer wieder eine Balance herzustellen zwischen dem jeweiligen Wahrheitsanspruch religiöser wie nichtreligiöser Anschauungen und der Wahrung der Menschenwürde des anderen. Dieses Gleichgewicht muss in der alltäglichen Wirklichkeit gefunden werden.

Dazu sind demokratische Rechtsordnungen erforderlich, welche unveräußerliche Rechte aller Menschen anerkennen, auf die sie pochen und die sie einklagen können, und welche die institutionelle Macht besitzen, Toleranz durchzusetzen und gegen Vertreter von Intoleranz abzugrenzen. Für den religiösen Bereich gilt: Ein Jude kann nicht gleichzeitig den Wahrheitsanspruch eines Christenmenschen, ein Christ nicht den eines Moslems teilen, ohne die eigene Identität aufzugeben. Der Respekt vor Andersgläubigen verbietet es allerdings, den eigen Anspruch auf Wahrheit als Absolutheitsanspruch durchsetzen zu wollen.

Zu den Bedingungen wechselseitiger Achtung gehört auch, dass Bürgerinnen und Bürger, ob religiös oder nicht, allgemeine Wertvorstellungen teilen, ohne deshalb ihre individuellen Einstellungen aufgeben zu müssen.

In seinem Beitrag Toleranz ist nicht beliebig schlägt Rainer Forst als Grundsatz, von dem her Toleranz sinnvoll bestimmt werden kann, Gerechtigkeit vor. „Denn“, schreibt er in der Wochenzeitung DIE ZEIT, „was anderes ist es als eine Frage der Gerechtigkeit, welche Stellung und welche Rechte Minder-heiten beziehungsweise bestimmte Gruppen in einer Gesellschaft haben?“ Und er fährt präzisierend fort: „Hier geht es um eine Gerechtigkeit, die vielen wehtut, weil sie fordert, Hergebrachtes zu überdenken und gegebenenfalls zu verabschieden.“ (14)

Exklusivität ̶ welche Ansicht auch immer einen solchen Anspruch stellt − ist ihrem Wesen nach intolerant und ungerecht, diskreditiert Andersdenkende und verhindert so ein friedliches Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften. Wir brauchen keine lebensferne Humanitätsutopie, wie Lessing sie vertrat, sondern aktives Zugehen aufeinander, Einfühlung, Erforschen fremder Ein-stellungen, Bereitschaft, diese gegebenenfalls wertzuschätzen, und mutige Grenzziehungen gegen die Verletzung allgemein gültiger Normen.

Nathan tut zweifelsohne gut daran, seine Rachegefühle zu zügeln, sich selbst also ein Stück weit zurückzunehmen, „Wohltun“ zu üben und seinen jüdischen Glauben nicht zum allein gültigen Maßstab zu erheben. Indem er aber über die Verbrechen der Christen schweigt und ein rein persönliches und damit unverbindliches Toleranzideal entfaltet, leistet seine Haltung neuer Gewalt und Absolutheitsansprüchen Vorschub. Lessings Aufklärungsoptimismus, seine unpolitische Individualethik hält den Anforderungen insbesondere im Zeitalter der Globalisierung, des Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und Kulturen, nicht stand.

 

 

LITERATURVERZEICHNIS:

 

(1) Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, in: Werke,

hrsg. von Herbert G. Göpfert, Zweiter Band, Darmstadt 1996

(2)   Martin Luther, Werke, Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel

Bd. 9, Weimar 1941 (Reprint, Graz 1972)

(3)   derselbe, Theologiekritische Schriften II, in: Werke,

hrsg. von Herbert G. Göpfert, Siebenter Band, Darmstadt 1996

(4)   Giovanni Boccaccio, Das Dekameron,

übertragen von Karl Witte, München 1979

(5)   Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie,

übertragen von Wilhelm G. Hertz, München, 3. Aufl. 1984

(6)   siehe (2)

(7)   Gesta Romanorum. Geschichten von den Römern,

herausgegeben von Winfried Trillitzsch, Leipzig 1973

(8)   Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Wolff, Moore, Marcuse,

Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt am Main 1996

(9)   Dorothee Sölle, Christentum und Intoleranz, in: Uwe Schultz (Hrsg.),

Toleranz. Die Krise der demokratischen Tugend und sechzehn Vorschläge

zu ihrer Überwindung, Reinbek bei Hamburg 1974

(10) Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart

eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003

(11) Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band VI, Darmstadt 1998

(12) Markus von Hänsel-Hohenhausen, Hitler und die Aufklärung. Der philo-

sophische Ort des Dritten Reiches, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 2015

(13) Jan Philipp Reemtsma, Nathan schweigt. Die Dankrede zum Lessing-Preis

in: DIE ZEIT vom 28.11.1997

(14) Rainer Forst, Toleranz ist nicht beliebig, ZEIT Philosophie,

in: DIE ZEIT 25/2013

 

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Über Thomas Berger 6 Artikel
Thomas Berger, geboren 1952 in Magdeburg, war von 1980 bis 2016 Gymnasiallehrer für die Fächer Latein und Evangelische Religionslehre. Der Autor hat seit 1979 in mehr als 100 Anthologien Beiträge und auch mehrere eigenständige Bücher (Gedankliche Kurzprosa, Gedichte, Haiku, Aphorismen, Erzählungen, Roman und Essays) veröffentlicht: Pforte zur Rückkehr, Zwischen Aleph und Tau, Widerhall des Unsagbaren, Inseln im Zeitstrom, Garten wilder Anmut, Am Lebensfaden, Solopart, Albert Camus. Absurdität und Glück, Kuriose Begegnungen. Tierisches & Menschliches, Orte und Worte, Worte in Stein, Am Wegesrand, Andernorts, Reformation als Vermächtnis, Gutenberg und die Reformation, Auf Dichterspuren. Literarische Annäherungen, Der fremde Archivar, Wilhelm Busch. bekannt und unbekannt, Geborgen im Zeitenstrom. Haiku-Dialoge, Im Schatten unserer Tage. Betrachtungen. www.autor-thomas-berger.de

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