111 Jahre Sexualtheorie – zur Aktualität von Sigmund Freud im Zeitalter von „Fifty Shades of Grey“

Erotik Messe, Foto: Stefan Groß

Spätestens seit dem Welterfolg von „Fifty Shades of Grey“ erscheint es angebracht, sich an den Mann zu erinnern, der den ersten umfassenden Entwurf einer Sexualtheorie vorlegte. Vor 111 Jahren publizierte Sigmund Freud seine „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Darin entwickelte er ein erstes Verständnis des Sadomasochismus. Freud war also seiner Zeit meilenweit voraus. Seine Sexualtheorie wurde von zahlreichen Psychoanalytikern modifiziert und erweitert. Zum Anlass des 100-jährigen Jubiläums der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ wurden von namhaften Sexualforschern zwei Sammelbände herausgegeben, die die 100-jährige Entwicklung der psychoanalytischen Sexualtheorie sehr eindrucksvoll nachzeichnen (Dannecker & Katzenbach 2005; Quindeau & Sigusch 2005). Wenn Freud 1905 vom Sadomasochismus á la „Fifty Shades of Grey“ schrieb, so fasste er diese in die Begriffe „sexuelle Abirrung“ oder „Abweichung in Bezug auf das Sexualziel“.

Freilich muss ein Sexualforscher Erwähnung finden, der bereits vor Freud ein vielbeachtetes Werk zur Sexualität vorlegte, zweifellos eine grandiose Pionierleistung: der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) publizierte im Jahre 1886 sein berühmtes Werk „Psychopathia sexualis“ . Wie Freud, so war auch Krafft-Ebing Österreicher und lebte zeitweise in Wien. Die „Psychopathia sexualis“ ist psychiatrisch-psychopathologisch und phänomenologisch-deskriptiv konzipiert. Sie stellt die erste große Sammlung zur Sexualpathologie aller Zeiten dar! Was Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ zusätzlich bieten und deshalb so wertvoll macht, ist die Darstellung der Entwicklung der normalen kindlichen Sexualität, der Pubertät und der Partnerwahl. Dieses Grundlagenwerk wurde zum Ausgangspunkt für eine fruchtbare Entwicklung der psychoanalytischen Theorie zur Sexualität über mehr als ein Jahrhundert. In den Anfängen der Psychoanalyse und zu Lebzeiten Freuds waren es insbesondere vier Frauen, die seine Sexualtheorie wesentlich beeinflussten: Lou Andreas-Salome, Marie Bonaparte, Helene Deutsch und Karen Horney.

Jedoch zurück zur Moderne! „Fifty Shades of Grey“ wurde innerhalb von wenigen Jahren zum Weltbestseller. Mittlerweile wurden weltweit mehr als 100 Millionen Exemplare verkauft und diese wurden von vermutlich noch mehr Menschen gelesen. Kein anderes Buch hat dies in so kurzer Zeit erreicht! Die Regisseurin Sam Taylor-Johnson verfilmte dieses dreibändige Werk mit der Schauspielerin Dakota Johnson in der Hauptrolle der Anastasia Steele und Jamie Dornan in der Rolle des Christian Grey. Was sind die Gründe für diesen riesigen Erfolg? Selbst so berühmte Sexualforscher wie Volkmar Sigusch sind erstaunt bis verwundert über die ungeheure Resonanz, die Buch und Film fanden. Die israelische Soziologin Eva Illouz widmete diesem Phänomen den umfassenden Essay mit dem Titel „Die neue Liebesordnung“ (2013).

Mit dem Bestseller „Warum Liebe weh tut“ (2011) war sie bereits zwei Jahre zuvor in der Diskussion der breiten deutschen Öffentlichkeit.

Nun wollte Eva Illouz den großen Erfolg und die Resonanz von „Fifty Shades of Grey“ erklären. Sie führt dafür folgende Gründe an:

„Shades of Grey, so können wir zusammenfassend sagen, entwickelte sich zu einem weltweiten Bestseller, weil sich die Trilogie über das Internet verbreitete, weil sie in der altbewährten Tradition des Liebesromans steht, weil BDSM viele der Probleme des zeitgenössischen Liebeslebens symbolisch löst.“ (Illouz 2013, S. 75)

Ein Satz aus diesem Essay lässt besonders aufhorchen:

„BDSM ist eine brillante Lösung für die strukturelle Instabilität von Liebesbeziehungen, gerade weil es sich um ein immanentes, in einer hedonistischen Definition des Subjekts verankertes Ritual handelt, das Gewissheit über Rollen, Schmerz und die Kontrolle des Schmerzes sowie die Grenzen des Konsenses verspricht.“ (Illouz 2013, S. 76/77)

Zahlreiche deutsche Sexualforscher haben sich begeistert oder kritisch zu Illouz‘ Thesen geäußert. Sie hat damit eine Diskussion angestoßen, deren Bedeutung für die Mann-Frau-Beziehung und deren Sexualität gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Literatur:
Dannecker, Martin; Katzenbach, Agnes (Hrsg.): 100 Jahre Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Aktualität und Anspruch. Psychosozial-Verlag Gießen 2005
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1905
Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Suhrkamp Berlin 2011
Illouz, Eva: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und „Shades of Grey“. Suhrkamp Berlin 2013
Krafft-Ebing, v. Richard: Psychopathia sexualis 1886. 14. Ausgabe, 1912; Neuauflage 1997, Matthes & Seitz Berlin
Quindeau, Ilka; Sigusch, Volkmar (Hrsg.): Freud und das Sexuelle. Neue Psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Campus-Verlag Frankfurt/Main 2005

 

Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. H. Csef
Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Zentrum für Innere Medizin
Medizinische Klinik und Poliklinik II
Oberdürrbacher Straße 6
97080 Würzburg
E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

 

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.

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