Müssen alle Juden sterben? Wer ist Jude?

Judengasse in Salzburg, Foto: Stefan Groß

Ein Judenhasser betritt schwer bewaffnet eine ungesicherte Synagoge in Pittsburgh, tötet 11 und verwundet weitere Synagogenbesucher und herbeigeeilte Polizisten. Als bekennender Antisemit verkündigt er, dass alle Juden sterben müssen.

Es ist ja kein Geheimnis, dass gewaltbereite Judenhasser und ihre „demokratische“ Anhängerschaft alle Juden ausmerzen wollen. Dass es nicht gelingen kann, vor allem keinem Einzelmörder, hat vor Jahrzehnten Hitler bewiesen. Das ändert natürlich nichts an den unerfüllbaren Wunsch der Judenhasser, seien sie Antisemiten, Antijudaisten oder Israelkritiker, es immer wieder erneut zu versuchen.

Woran liegt es, dass man sich nicht aller Juden entledigen kann? Schließlich hat es größere und bedeutende Zivilisationen gegeben, die ausgestorben sind.

Es liegt daran, dass die Definition, wer Jude ist, einfach erscheint und gleichzeitig kompliziert und in sich widersprüchlich ist.

Tasten wir uns heran an die Beantwortung der Frage, wer Juden ist.

Nach der Tora und der Halacha, die in etwa der islamischen Scharia entspricht, ist derjenige ein Jude, der eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übertritt. Der Übertritt zum Judentum kann bei jedem Rabbiner erfolgen, wird jedoch außerhalb dessen Gemeinde nicht zwangsweise anerkannt. Um weltweit, vor allem in Israel als Jude anerkannt zu werden, sollte der Übertritt bei einem anerkannten und orthodoxen Rabbiner erfolgen, was eine teure und langwierige Prozedur bedeutet. Folglich sind viele Juden, insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland, nicht überall als Juden anerkannt.

Neben diesen nicht überall anerkannten zum Judentum übergetretenen Juden gibt es auch Nicht-Juden, die sich als Juden ausgeben, was nicht so selten vorkommt. Viele wenden sich dem Judentum zu, weil sie etwas wiedergutmachen wollen, beispielsweise weil der Großvater bei der SS oder im KZ ein Judenmörder gewesen ist. Teilweise treten diese neuen Juden bei einem orthodoxen Rabbiner über, teilweise vermeiden sie die Konversion. Ob sie sich als Juden fühlen? Zeitweise (Jahre, Jahrzehnte) werden sie von der umgebenden jüdischen Gemeinschaft als Juden anerkannt bis der Schwindel auffliegt. Wiederum andere Nicht-Juden geben sich als Juden aus, weil sie sich finanzielle Vorteile erhoffen, was oft (s. Pinneberg, aber nicht nur dort) eintrifft.

Komplizierend kommt hinzu, dass sich auch nicht-halachische Juden, deren Väter, nicht aber die Mütter Juden sind, in äußerst liberalen (egalitären) jüdischen Gemeinden, meist in den USA, sich als Juden betrachten und sich als Juden fühlen. Zu diesen Juden gehören möglicherweise auch Mitglieder der überfallenen Gemeinde in Pittsburgh „Baum des Lebens“. Wegen abnehmender Zahl der Juden teilen sich dort drei Gemeinden eine Synagoge. Eine Gemeinde nennt sich progressiv und egalitär, was bedeutet, dass Frauen und Männer gleichgestellt sind und dass Kinder jüdischer Väter dort als Juden gelten. Diese Juden wissen es nicht, dass sie keine Juden sind. Sie ähneln Protestanten, die sich für Katholiken halten.

Wir haben also mehrere Arten von Juden:

  1. halachische Juden, die echte Juden sind
  2. nicht-halachische Juden, die keine echten Juden sind
  3. gefühlte Juden, die überhaupt keine Juden sind

Auf der anderen Seite stehen die Judenmörder, die ihre eigenen Definitionen haben, wer ein Jude ist und wer nicht. So bestimmen die deutschen Nationalsozialisten, dass ein Halbjude mit jüdischem Vater und christlicher Mutter wie ein gewöhnlicher Volljude zu behandeln (liquidieren) ist, auch wenn er nach der Halacha, die die Nazis zuweilen interessiert, gar kein Juden ist. Auch der Judenmörder von Pittsburgh geht davon aus, dass am Samstag nur Juden sich in einer Synagoge aufhalten, was – wie wir jetzt wissen – nicht immer zutrifft. Wer Jude ist und eine Judenbehandlung erhält, bestimmen die Antisemiten. Das Jude-Sein wird aber nicht von den Tätern, sondern von den Opfern – den Juden – bestimmt, wobei bis über den Tod hinaus zuweilen unüberbrückbare Differenzen bestehen (s.o.).

Wir haben also eine weitere Art von Juden:

  1. Juden, die von Antisemiten bestimmt werden.

Daraus kann man schließen, dass man nicht alle Juden ermorden kann, ohne einen guten Teil Nichtjuden mit in den Tod zu reißen. Es ist ein großer Schlag gewesen, als vor Jahren der Führer der antisemitischen Partei Ungarns von seiner jüdischen Großmutter mütterlicherseits erfahren hat, dass er Jude ist. Jetzt lebt der fromme Jude in Israel.

Der Überfall auf die Pittsburgher Synagoge hat Konsequenzen. Zum einen wird die Sicherheit der jüdischen Gemeinden in den USA verstärkt werden, was einige Juden veranlassen wird, nicht mehr zur Synagoge zu gehen. Viele gefühlte Juden, nicht nur in Pittsburgh, nicht nur in den USA, werden abwägen, ob sie ihr Kostümjudentum abgeben wollen. Kostümjuden sind die ersten, die bei Gefahr „ihre“ Religion aufgeben.

PS:
Vor Kurzem las ich folgenden deplatzierten Satz in einem Lebenslauf:
„Meine Mutter ist Mitglied der jüdischen Gemeinde.“
Damit soll bewiesen sein, dass der Schreiber des Lebenslaufes ein Jude ist. Qui excusat, accusat.

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Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.