Gedichte gegen die Angst. Die hoffnungsvollen Botschaften von Hilde Domin, Nelly Sachs und Rose Ausländer

frau geheimnisvolle reisende reise nur der einsame, Quelle: Victoria_Borodinova, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

In den Zeiten der Corona-Pandemie haben viele Menschen Angst. Teilweise ist diese Angst durchaus berechtigt und damit eine Realangst. Es gibt jedoch gesteigerte Ängste, die eine irrationale Komponente haben. Dann kann die Angst krankhaft oder pathologisch werden. In Corona-Zeiten erscheint es durchaus sinnvoll, gute Literatur von namhaften Schriftstellern zu diesem Thema zu lesen. Beispielsweise hat der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus mit seinem Roman „Die Pest“ (Camus 1950) eine hervorragende Beschreibung der Verhaltensmuster von Menschen im Rahmen einer Pandemie beschrieben (Csef 2020). Die französischsprachige Originalfassung dieses Romans erschien im Jahr 1947, die deutsche Übersetzung im Jahr 1950. Drei namhafte Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts haben selbst zahlreiche lebensbedrohliche Situationen erlebt und Gedichte über die Angst geschrieben. Da aus diesen Gedichten durchaus Hoffnung und Zuversicht spricht, kann diese Lyrik als „Gedichte gegen die Angst“ aufgefasst werden. Hilde Domin, Nelly Sachs und Rose Ausländer haben die grundlegende Gemeinsamkeit, dass sie jüdischer Herkunft waren, im Nazi-Regime verfolgt wurden und durch ihre Flucht ins Exil ihr Leben retteten. Zwei von ihnen (Hilde Domin und Rose Ausländer) sind nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Nelly Sachs hat dies mit großer Angst vermieden. Nur zweimal ist sie nach Deutschland gereist, um große Literaturpreise entgegenzunehmen: im Jahr 1960 den Droste-Hülshoff-Preis und im Jahr 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Angst, wieder deutschen Boden zu betreten, war intuitiv durchaus sinnvoll. Sie ist im Jahr 1960 nach Zürich geflogen und von der Schweiz nach Meersburg am Bodensee gereist, damit sie nur eine kurze Strecke durch Deutschland fahren musste. Dort hatte sie den Droste-Hülshoff-Preis entgegengenommen. Sie betrat damit 1960 erstmals deutschen Boden und wurde danach so schwer psychisch krank, dass sie drei Jahre lang in einer Psychiatrischen Klinik mit schweren Depressionen und Wahnvorstellungen zubringen musste. Durch die Wiederbegegnung mit dem Land, in dem sie psychisch schwer traumatisiert wurde, kam es zu einer Reaktivierung des Traumas. Die erste psychische Dekompensation von Nelly Sachs war bereits im Jahr 1938 in Berlin, als sie von der Gestapo verhört wurde. Dadurch war sie so schockiert, dass sie wochenlang nicht mehr sprechen konnte. Sie erlitt eine dissoziative bzw. traumatische Aphonie, einen Stimmverlust, der durch psychische Traumatisierung ausgelöst wurde. Nelly Sachs war damals 47 Jahre alt. Nelly Sachs ist unter den drei genannten Lyrikerinnen jene, die mit den höchsten Literaturpreisen geehrt wurde. Als sie 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, war sie die erste Frau, der dieser Preis zuteil wurde. Genau an ihrem 75. Geburtstag erhielt sie als erste deutschsprachige Dichterin den Literatur-Nobelpreis im Jahr 1966.

Nelly Sachs – „Weine aus die entfesselte Schwere der Angst“

Wie bereits oben erwähnt, war Nelly Sachs besonders durch die Nazi-Verfolgung psychisch traumatisiert. Dies war nicht nur der traumatisch bedingte Stimmverlust nach einem Gestapo-Verhör. Auch die Flucht ins Exil war mehr als dramatisch: es war eine Rettung in letzter Stunde. Nelly Sachs und ihre Mutter hatten bereits einen Einberufungsbefehl in ein Arbeitslager in Polen. Diese Reise wäre vermutlich ein Weg in den Tod gewesen. Durch eine Freundin, die extra nach Stockholm flog, und mit Hilfe der Schriftstellerin Selma Lagerlöf und des griechischen Königshauses erhielten Nelly Sachs und ihre Mutter in letzter Minute ein Visum. Bemerkenswerterweise gab ihr ein einfühlsamer Gestapo-Mann den Tipp, zu fliegen, weil sie bei der Reise mit dem Zug höchstwahrscheinlich abgefangen würden. So stiegen Nelly Sachs und ihre Mutter in das letzte mögliche Flugzeug nach Stockholm. Danach hat Nelly Sachs Deutschland gemieden. Von ihrer Geburt an hat sie fast 50 Jahre lang in Berlin gelebt und ist 79 Jahre alt geworden. Eines ihrer letzten Gedichte widmete sie der Angst:

„Weine aus die entfesselte Schwere der Angst,

Zwei Schmetterlinge tragen das Gewicht der Welten für dich.

Und ich lege deine Träne in dieses Wort:

Deine Angst ist ins Leuchten geraten.“

Nelly Sachs

Literaturwissenschaftler sind sich darin einig, dass dies eines der eindrucksvollsten Gedichte zur Bewältigung von Angst darstellt.

Rose Ausländer – „Wirf deine Angst in die Luft“

Rose Ausländer (1901-1988) war ebenfalls jüdischer Herkunft und eine Holocaust-Verfolgte. Sie wurde im Jahr 1901 in der Stadt Czernowitz in der Bukowina geboren, die auch Geburtsstadt von Paul Celan war. Beide haben sich dort während des Zweiten Welt-Krieges kennengelernt und blieben in einer langen Freundschaft verbunden. Im Jahr 1944 ist Rose Ausländer in die USA emigriert. Im Jahr 1965 ist sie nach Europa zurückgekehrt und hat noch 23 Jahre in Düsseldorf gelebt. In ihrem Gedicht „Noch bist du da“ findet sich die wunderschöne Formulierung „Wirf deine Angst in die Luft“.

„Noch bist du da

Wirf deine Angst

in die Luft

Bald

ist deine Zeit um

bald

wächst der Himmel

unter dem Gras

fallen deine Träume

ins Nirgends

Noch

duftet die Nelke

singt die Drossel

noch darfst du lieben

Worte verschenken

noch bist du da

Sei was du bist

Gib was du hast.“

Rose Ausländer

Hilde Domin – Gedichte der Ermunterung und Hoffnung

Hilde Domin (1909 – 2006) ist die Jüngste unter den drei genannten Lyrikerinnen. Sie ist 18 Jahre jünger als Nelly Sachs und war mit dieser lange befreundet, obwohl sich die beiden niemals persönlich begegnet sind. Aufgrund ihrer gemeinsamen Schicksalsgeschichte und vielen anderen Gemeinsamkeiten hatten sie einen intensiven Briefwechsel, der im Jahr 2016 publiziert wurde. Nelly Sachs hatte den Vorteil, dass sie durch die frühzeitige Unterstützung von einflussreichen deutschen jungen Schriftstellern wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Huchel und Peter Hamm trotz anfänglicher Widerstände der deutschen Literaturszene zunehmend bekannt wurde und ihre Gedichtbände in renommierten Verlagen publiziert wurden. Hilde Domin jedoch, die 1954 nach Deutschland zurückgekehrt ist, musste lange um Anerkennung kämpfen. Da sie 97 Jahre alt wurde und in ihre Lieblingsstadt Heidelberg zurückkehrte, in der sie viele Bekannte und Unterstützer hatte, wurde sie zu einer der erfolgreichsten Lyrikerinnen der Nachkriegszeit. Sie war bereits als 20-jährige im Jahr 1922 Schülerin von Karl Jaspers und Karl Mannheimer an der Universität Heidelberg. Als sie im Jahr 1954 nach Deutschland zurückkehrte, kam es zur Wiederbegegnung mit Karl Jaspers. Mit dem Heidelberger Philosophen Hans Georg Gadamer war sie eng befreundet. Hilde Domin hat sich immer für Frieden und Versöhnung eingesetzt. Positive humane Werte wie Liebe, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht durchziehen ihr lyrisches Werk. Sehr bekannt wurde ihre Formulierung „Vertrauen, dieses schwerste ABC“, die sich in ihrem Gedicht „Lieder zur Ermutigung II“ befindet.

Bezüglich der Angstbewältigung erscheinen zwei Gedichte von Hilde Domin besonders erwähnenswert und zutreffend. Das eine ist das Gedicht „Nicht müde werden“.

„Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.“

Hilde Domin

Dieses Gedicht ist sehr charakteristisch für Hilde Domins Lyrik und für ihre Lebenshaltung. Bis zum 97. Lebensjahr hat sie sich bewundernswert engagiert und immer wieder ihre humanen Botschaften in lyrischer Form verbreitet. Interviews, Lesungen und ihr fortwährendes Schreiben verdeutlichen, dass sie „nie müde wurde“. Sie hatte ihr Ziel und ihren Auftrag im Blick: sie als Gerettete und Überlebende wollte unbedingt für eine humanere Welt eintreten. Dies ist ihr in besonderer Weise gelungen. Eindrucksvoll ist das Gedicht „Gleichgewicht“, das als Beitrag zur Angstbewältigung gewürdigt werden darf:

„Wir gehen

jeder für sich

den schmalen Weg

über den Köpfen der Toten

– fast ohne Angst –

im Takt unsres Herzens,

als seien wir beschützt,

solange die Liebe nicht aussetzt.“

Hilde Domin

In der Mitte des Gedichtes heißt es „fast ohne Angst“. Erwähnt werden die Toten und der Takt des Herzens. Das Herz, das im Herzrasen oder Herzstolpern die Angst körperlich ausdrückt, hat Hilde Domin geschickt in dieses Gedicht eingewoben.

Hilde Domin ist sehr alt geworden und hat bis ins 21. Jahrhundert gelebt. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 hat sie immer wieder zu aktuellen politischen Fragen Stellung genommen. Teilweise hat sie aktuelle Themen in ihre Lyrik einbezogen. So hat sie beispielsweise ihr berühmtes Gedicht „Abel steh auf“ noch um einen Vers erweitert, als in Deutschland über den Nato-Doppelbeschluss und die Wiederaufrüstung heftig und kontrovers diskutiert wurde. In dem zugefügten Vers taucht die Chiffre der Raketen auf. In ihrem Essay und Gedicht „Schiff ohne Hafen“ nahm sie Bezug zur Problematik der Rettung der Vietnam-Flüchtlinge im Jahr 1978. Mehr als 40 Jahre später ist dieses Thema mit den Bootsflüchtlingen im Mittelmeer von höchster Aktualität. Mit 91 Jahren erlebte Hilde Domin die Jahrhundert- und Jahrtausendwende. Der Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert und vom ersten ins zweite Jahrtausend löste zahlreiche magische und irrationale Ängste aus. Katastrophen- und Weltuntergangsphantasien fluteten durch die Medien. Das neue Jahrtausend stimulierte eine kollektive Millenniumspanik (Csef 1998; 2001). Hilde Domin hat diese unbeschadet überstanden. Allerdings starb sie 6Jahre später an den Folgen eines sturzbedingten Oberschenkelhalsbruches.

Hilde Domin hätte sich sicherlich auch zur Angst in der Corona-Pandemie geäußert. Ihre Chiffren „Nicht müde werden“ und „Gleichgewicht“ sollten Ermunterung genug sein.

Gedichte von Hilde Domin, Nelly Sachs und Rose Ausländer zu lesen, könnte in den angstbewegten Zeiten der Corona-Pandemie durchaus sinnvoll sein!

Literatur:

Ausländer, Rose (1976) Gesammelte Werke in acht Bänden. Fischer-Verlag Frankfurt am Main

Camus, Albert (1950) Die Pest. Rowohlt Reinbek

Csef, Herbert (1998) Angst im Jahre 2000. Moderne zeittypische Ängste und existentielle Grundängste. Daseinsanalyse 15, Sonderausgabe, Abschlussheft. S. 68-80

Csef, Herbert (2001) Angst, Angstabwehr und Aggression als Seismographen des Psychischen. Voitsberger Manuskripte 18, S. 20-24

Csef, Herbert (2020) Das Buch der Stunde. Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus in den Zeiten der Corona-Pandemie. Tabularasa Magazin vom 16. April 2020

Domin, Hilde (1987) Gesammelte Gedichte. Fischer-Verlag Frankfurt am Main

Domin, Hilde; Nelly Sachs (2016) Briefwechsel. Deutsche Schillergesellschaft (Hrsg.) Marbach

Sachs, Nelly (2010) Werke Band 1. Gedichte. 1940-1950. Werke Band 2 Gedichte. 1951 – 1970. Suhrkamp-Verlag Berlin

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacherstr. 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.